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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

die Einbildungskraft sich schafft, um jenes geahnte Ewige zur Anschauung zu bringen, alle Vorstellungen, welche der Verstand bildet, um jenen Weltzusammenhang sich zu deuten, alle Handlungen, durch welche der Mensch in Berührung mit jenem Höheren und Reinen zu treten sucht. Aus dieser gemeinsamen Quelle haben alle Religionsstifter geschöpft, die einen reichlicher, die anderen karger, die einen reiner, die anderen mit trüberen Gefäßen, aber Alle nur aus ihr: Buddha und Mohamed, wie Jesus und Paulus, Sophokles so gut wie Jesaias.

Es giebt daher keine übernatürliche Offenbarung Gottes im Sinne der Kirchen; jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums nannte Schleiermacher eine Offenbarung, und selbst der Philosoph des Glaubens, Jakobi, ließ keine andere Offenbarung Gottes gelten, als die allgemeine und fortwährende in der Vernunft und im Gewissen des Menschen. Es giebt daher keine alleinseligmachende Religion: alle Religionen sind Versuche, dem religiösen Triebe der menschlichen Seele nach Ort und Zeit einen Ausdruck zu geben, keine so falsch, daß nicht das Wesen der Religion irgendwie in ihr sich ausgeprägt hätte, keine so wahr, daß das ganze Wesen der Religion rein und ungetrübt in derselben zum Ausdruck käme. Es giebt daher kein unfehlbares, göttliches Buch der Religion. Was die Kirchen dafür ausgeben, ist nur ein unter den Bedingungen und Bildungszuständen einer bestimmten Zeit abgelegtes menschliches Zeugniß von der Religion, werthvoll nur so weit, als es verstanden hat, dem in der Menschenbrust ruhenden Verlangen nach Licht und Heil einen allgemeingültigen classischen Ausdruck zu geben. So standen sich Wissenschaft und Kirche in der Frage nach der Quelle der Religion schroff gegenüber.

Fragte man zweitens: Was gehört zur Religion? so sagte die Kirche: sehr Vieles, die Wissenschaft: nur ganz Weniges, aber dieses Wenige trägt eine Ewigkeit in sich.

Sehr Vieles! sagte die Kirche, nämlich eine heilige Geschichte, eine untrügliche Lehre, ein auf göttlicher Einsetzung beruhender Cultus. Eine heilige Geschichte, die in den heiligen Büchern erzählten Wunder und Heilsthatsachen, welche von Gott selbst unter den Menschen gewirkt worden sind zu ihrer Erlösung aus Schuld und Verdammniß. Eine untrügliche Lehre als Gotteswort, sei dieselbe nun von Concilien auf Grundlage der Ueberlieferung oder von Theologen auf Grundlage der Bibel als Norm für alle Gläubigen entworfen worden. Endlich der gottgemäße Cultus, das Gebet, die Predigt, Taufe und Abendmahl und wie diese statutarischen Uebungen heißen mochten. Wer jene heilige Geschichte nicht glaubt, wer diese Glaubenssätze der Kirche nicht für wahr annimmt, wer an jenen zur Ehre Gottes und zum Heil der Seele eingesetzten kirchlichen Handlungen nicht Theil nimmt, der wird nicht selig – so urtheilten einstimmig die Kirchen.

Die Wissenschaft sprach zu diesen Forderungen der Kirchen ein ganz entschiedenes und einstimmiges Nein: All das Viele, das ihr mir nennt, mag in seiner Art und an seinem Platze gut und werthvoll sein, aber zum Wesen der Frömmigkeit gehört es nicht; es ist für die Religion etwas Abgeleitetes, mehr oder weniger Zufälliges, Unwesentliches, Untergeordnetes. Die Frömmigkeit verlangt nur Weniges, aber dieses trägt eine Ewigkeit in sich, nenne man dieses Eine und Wenige, wie man wolle, denn unter hundert Namen und Formeln kehrt es immer wieder; nenne man es mit dem vierten Evangelium die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, bezeichne man es durch jene Gottes- und Nächstenliebe, in welcher Jesus die Summe von Gesetz und Propheten gefunden hat, nenne man es mit dem Apostel Paulus das neue Geschöpf oder den in der Liebe thätigen Glauben oder mit Schleiermacher das innere Schauen und Erfassen des Unendlichen in allem Endlichen. Wer’s hat, versteht’s unter allen Namen und Hüllen. Gegen dieses Eine, was Noth thut, ist Alles, was die Kirchen drüber hinaus fordern, Nebensache, zum Wesen der Religion nicht erforderlich.

Was die heilige Geschichte betrifft, so sprach Lessing ein- für allemal das maßgebende Wort: „Zufällige Geschichtswahrheiten können nie der Grund für ewige Geisteswahrheiten werden.“ Alles geschichtlich Ueberlieferte ist der Untersuchung, der Kritik, dem Zweifel ausgesetzt, die Religion aber hat ihren bleibenden Grund in den ewigen Thatsachen der Welt und des Menschengemüthes. Ein geschichtlich Ueberliefertes werde ich für wahr halten, wenn es innerlich möglich und äußerlich genügend bezeugt ist. Annahme oder Verwerfung hängt also von Verstandesoperationen ab, die ich vornehme, hat also mit der Wärme und Innigkeit meines religiösen Lebens nicht das Geringste zu schaffen. Für die Frömmigkeit kommt es nicht an auf dasjenige, was vor so und so vielen Jahrtausenden einmal vorgefallen sein soll, sondern auf das, was heute geschieht, was in jedem Augenblicke, von jedem frommen Menschen sich wiederholen läßt. „Der Glaube hat es nicht mit Vergangenem, sondern mit Zukünftigem zu thun“, hatte schon Luther erkannt und gesagt, aber leider nicht angewendet.

Diese Dinge schienen mir so klar, so einleuchtend, so selbstverständlich, daß ich recht böse wurde auf die Kirche, in der ich lebte, und auf das Theologengeschlecht von Jungen und Alten um mich her, welche den Mund immer so voll hatten von „Unglauben“, „ungläubiger Wissenschaft“ etc., wenn diese letztere nur ihre einfache Schuldigkeit that, die Ueberlieferung der Vergangenheit nach ihren Gesetzen und mit ihren Mitteln zu erforschen. Ich meinte, eine Kirche, die etwas taugte, müßte sich über jede ernste Forschung freuen.

Wie mit der Historie, so verhielt es sich auch mit der Dogmatik, mit der sogenannten reinen Lehre. Luther hatte hierin genau gedacht, wie der Papst. „Alles gegläubt oder Nichts gegläubt; ist die Glocke an Einer Stelle geborsten, so täugt sie gar Nichts mehr,“ das war das Losungswort, welches er für seine neue Kirche ausgegeben hatte, und die Folge war zwei Jahrhunderte hindurch gewesen: ein herrschsüchtiges Pfaffenthum, Zank und Verfolgungssucht ohne Ende, Ertödtung des wissenschaftlichen Sinnes und des intellectuellen Fortschritts, Austrocknung des religiösen Lebens.[1]

Lessing hatte gerufen: „Luther, großer Mann, Du hast uns vom Joche der Tradition befreit – wer befreit uns von dem viel schwereren des Buchstabens?“ Die Wissenschaft half diesem Seufzer gründlich ab. Sie machte die Erkenntniß, daß es für den Werth des Menschen nicht ankomme auf das, was er glaube, sondern was er sei, wie er fühle und handle, zu einem Gemeingute der Bildung. Die Religion, sagte sie wie aus einem Munde, ist nicht Lehre, nicht Glaubenssatz, nicht Verstandeserkenntniß, nicht eine Summe metaphysischer, physikalischer, historischer Wahrheiten, die stets dem Streite unterliegen; sie ist Leben, das innere Leben der Menschenseele in und mit Gott; sie ist Gefühl, Geist, Gesinnung. Was sind alle Dogmen, alle gelehrten Systeme der Theologen? Geschicktere oder ungeschicktere, aber stets ungenügende Versuche, von den Erfahrungen des Herzens Rechenschaft zu geben, Forderungen eines innern Bedürfnisses, Aussagen über ein Gefühl, Bilder, Symbole, um das, was im Innersten lebt, sich selbst und Anderen verständlich zu machen. Diese Aussagen wechseln nicht blos mit den Zeitaltern und entlehnen ihre Farbe von den jeweilen herrschenden Denkbegriffen und allgemeinen Vorstellungen, sie wechseln im Grunde mit jedem Menschen. Keine zwei Menschen verbinden mit demselben Worte denselben Sinn. Die Religion erträgt daher keine todte, für alle Menschen und alle Zeiten feststehende Formel; sie ist Sache der persönlichen Ueberzeugung. Was war denn Luther mit seinem „Es sei denn, man widerlege mich aus der Schrift oder mit klaren Gründen der Vernunft, so werde ich nicht widerrufen; hier steh’ ich – ich kann nicht anders –“ was war er anders als das verkörperte Recht der persönlichen Ueberzeugung gegenüber jeder Kirchensatzung? Und was bedeutete jenes große Wort, das er unmittelbar nach der Leipziger Disputation niedergeschrieben hat, werth, über alle protestantischen Kirchthüren gesetzt zu werden: „Ich glaube, ein christlicher Theologe zu sein und im Reiche der Wahrheit zu leben. Darum will ich frei sein und mich keiner Autorität weder eines Concils, noch eines Kaisers, noch einer Universität, noch eines Priesters gefangen geben, um frei zu bekennen Alles, was ich als wahr eingesehen habe. Warum sollte ich’s nicht wagen, wenn ich, der Eine Mann, eine bessere Auctorität zeigen kann, als ein Concil?“

Was Luther in kühner, instinctiver Mannesthat vollzog, das begründete die Philosophie durch eine genaue Grenzscheidung zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Gebiete. Das

  1. Vgl. „Martin Luther, ein religiöses Charakterbild, dargestellt von Heinrich Lang.“ Berlin 1870.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_149.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)