Seite:Die Gartenlaube (1876) 186.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Weser, die Elbe und die Seine und leitete sie in ein einziges Flußbett zusammen, so erhielte man noch lange keinen solchen Strom, wie den Hudson. Der Rhein bei Köln ist vierzehnhundert Fuß breit und kaum tiefer als zwanzig Fuß; die Seine, Weser und Elbe sind aber sehr viel wasserärmer, als der Rhein; die Donau ist um ein Geringes größer als derselbe. Rechnen wir aber für die fünf Ströme zusammen sogar fünfmal die Dimensionen des Rheines, so erhielten wir einen Strom von siebentausend Fuß Breite und zwanzig Fuß Tiefe oder einen Wasserquerschnitt von hundertvierzigtausend Quadratfuß. Der Hudson, bei einer Durchschnittsbreite von wenigstens fünftausend Fuß, hat eine Tiefe, welche die des Rheines mehr als zweimal übertrifft, das heißt von mindestens vierzig Fuß, was einen Wasserquerschnitt von zweihunderttausend Quadratfuß ergiebt.

Die Bezeichnung des Hudson als „amerikanischer Rhein“ ist, wenn auch in einigen Einzelheiten zutreffend, doch im Ganzen nicht richtig. Dem Hudson fehlt gar viel, was der Rhein in hohem Maße bietet: für uns Deutsche vor Allem die geschichtliche und nationale Bedeutung jedes Ortes, jeder Höhe, welche sich in den Fluthen des deutschen Stromes spiegelt; ferner sind auf den Hudson keine Lieder, weder Liebes-, Schmerz-, Kriegs- noch Trinklieder gedichtet. Und doch hat auch der Hudson geschichtliche Bedeutung, nationales Interesse – für den Amerikaner.

Am Hudson fehlt einem deutschen Beobachter aber noch Etwas, das er allenthalben in Amerika vermißt – das ist das Singen der Menschen und Vögel. Keine Landschaft, es mag die herrlichste, reizendste sein, wird drüben belebt mit Sang und Lied der Menschen und Vögel. Sie wird auch belebt, aber nur durch das Schnauben der Dampfrosse und das Pusten der Dampfmaschinen der Fabriken – durch die Pulsschläge des geschäftlichen Lebens. Während am Rheine und in der Schweiz hauptsächlich das Gemüthsleben angeregt wird, durch alles Realistische aber unwillkürlich der Genuß des Schönen in der Natur gestört wird, trägt, möchte ich sagen, dieses Realistische in Amerika wesentlich dazu bei, den Hudson, den Mississippi, die großen Seen interessant zu machen.

Es kann den Lesern der Gartenlaube nicht damit gedient sein, sie mit dem landschaftlichen Bilde des Hudson, mit all seinen herrlichen Ufern, deren Villen, Dörfern und Städten bekannt zu machen, denn könnte ich die Schönheiten des herrlichen Stromthals noch so treffend, in noch so hellen Farben ausmalen, so wären sie eigentlich doch nur für Die interessant, welche selbst schon auf den hellen Fluthen des mächtigen Stromes gereist sind, oder an dessen schattigen und malerischen Ufern von der Hitze und dem Staube der Städte sich erholten.

Nein, ich will heute im Wesentlichen nur eine Darstellung des Handels, des Lebens dieses „amerikanischen Rheines“ geben, aber zugleich auch andeuten, warum dem Amerikaner dieser Fluß lieb und theuer ist. Wie der Rhein dem Deutschen freudige und traurige Erinnerungen aus der Geschichte seines Vaterlandes erweckt, so auch der Hudson dem Amerikaner, nur zählen „drüben“ die geschichtlichen Begebenheiten kaum nach soviel Jahrzehnten, wie hier in der alten Welt nach Jahrhunderten.

An den Ufern und in den Seitenthälern des Hudson ist während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges manches heiße Gefecht geschlagen worden; von New-York bis an die Quelle des Stromes hinauf ist kaum ein Fleckchen Erde, welches nicht vom Blute tapferer Patrioten oder verhaßter Feinde geröthet wurde. Gleich oberhalb New-York sind es zuerst die Palissaden, welche in die Geschichte des Landes mit verwoben sind, der steile, tausend Fuß hohe Höhenzug am rechten Ufer des Stromes, über dessen jähe Gipfel einst Washington seinen berühmten Schnellmarsch gegen General York ausführte, der mit der Uebergabe des feindlichen Heeres und mit dem Ende des Krieges, der Erlangung der lang erkämpften Unabhängigkeit endete. Den Palissaden gegenüber liegt das Dorf Dobbsferry, der ehemalige Sitz des großen Alexander Hamilton, der durch die Kugel des Aaron Burr seinem Lande nur allzu früh geraubt wurde. Nur wenige Meilen stromaufwärts hat ein anderer großer Mann gelebt und gedacht, Washington Irving – er hatte seine Villa Sunnyside dicht an das Ufer des Stromes gebaut, in eine idyllische Waldeslandschaft.

Um nun endlich einen Punkt zu nennen, dessen Erwähnung dem Amerikaner Erinnerungen der alten, aber auch neuesten Geschichte seines Landes erweckt, erwähne ich noch West-Point. Zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges ein amerikanisches Fort, sollte es durch Major André für schnödes Geld an den Feind verrathen werden, doch der Verräther wurde dafür mit dem Tode bestraft. Jetzt ist es die Militär-Akademie der Vereinigten Staaten, wo so viele brave Männer, aber auch so viele Verräther auf Kosten des Landes erzogen wurden, von Ersteren: Mc. Clellan, Meade, Sheridan, Thomas, Grant; von Letzteren: Beauregard, Jackson, Jefferson Davis, Lee. – West-Point ist herrlich gelegen auf dem schönsten Punkte des ganzen Thales. Von ihm aus genießt man stromauf und stromab einer herrlichen Aussicht. Unser Bild stellt den Blick nach Norden, gegen Newburgh zu, dar und spricht mehr für die Schönheit, die Wärme der Gegend, als ich mit meiner trockenen Prosa zu schildern vermöchte.

Doch dem Amerikaner ist der gewaltige Strom hauptsächlich lieb und theuer wegen seiner Wichtigkeit für Handel, Gewerbe und Industrie. Der Fremde kann die Großartigkeit des Handels, der Schifffahrt besonders von einem Punkte übersehen und erkennen, ohne daß er noch weiß, wie viele Tausende und aber Tausende von Tonnen Güter in den Schiffen vor seinen Augen geladen sind. Dieser Punkt ist Croton Point, eine Landzunge südlich der Mündung des Croton-Flüßchens in den Hudson gelegen. Der Beobachter richtet unwillkürlich seine Blicke gegen Süden, denn da fesselt ein eigenes Leben und Treiben die Sinne. Der Strom breitet sich hier bis Yonkers, also auf zwanzig Meilen Entfernung, in einer Breite von sechs englischen Meilen, in den schönen Rahmen der Haverstraw- und Tarrytownberge, zu einer seeartigen Erweiterung aus, welche Tappan Bay genannt wird. Die Haverstrawberge sind die südlichen Ausläufer der West-Point-Hochlande und schließen sich in der Ferne an die steilen Palissaden an. Das Leben, welches hier der Fluß bietet, ist wohl einzig in seiner Art, und vielleicht nur das der Themse großartiger. Im Sommer wird man wohl selten weniger als hundert weiße Segler zählen, vom stolzen Dreimaster bis hinunter zur zierlichen Segelyacht. Dazu alle die weißen schwangleichen Dampffährboote, welche von Ufer zu Ufer rasch den Verkehr vermitteln, zwischen Yonkers, Tarrytown, Irvington, Sing-Sing, Croton links und Hastings, Pyrmont, Nyack, Haverstraw rechts. Vorbei an den hundert Segelschiffen durchfurchen die mächtigen Passagierdampfer die Fluthen des Stromes, ihren fernen Zielen zueilend, und ziehen die großen Schleppdampfer, mit je dreißig bis vierzig Canalböten hinter sich, mit Lebensmitteln, Baumaterialien, Maschinen, Kohlen, Holz und anderen Landesproducten tief beladen, der großen Metropole zu, oder sie bringen von New-York stromaufwärts, nach den Landdistricten die Waaren südlicher ferner Zonen.

Ein solches Bild des Friedens und Gedeihens sieht man selten; der Anblick bewegt freudig das Gemüth; er erhebt unwillkürlich den Geist zu dem Gedanken, wie mächtig doch der freie Mensch, welche Wunder er schaffen kann mit seinen Waffen, der unbeschränkten Verkehrs-, Handels- und Gewerbefreiheit, daß er in der kurzen Spanne Zeit von zweihundert Jahren ein Land ohne irgend welche Industrie zu einem Gebiete voller arbeitsamer Menschen verwandeln konnte. Und der neu Eingewanderte fragt sich zweifelnd: „Ist denn das wirklich die Heimath aller Hallunken, wie man ‚zu Hause‘ sie bezeichnete, diese reiche, herrliche, rastlos producirende Landschaft!?“

Der Handel, welcher den Strom selber belebt, also die Schifffahrt – denn nur von der will ich sprechen – erhält die meisten Güter von den verschiedenen Canälen, welche vom Hudson aus nach allen Himmelsrichtungen des Staates New-York und Pennsylvaniens, Ohios und Canadas hin sich verzweigen. Da ist gleich an der Mündung des Stromes, der Stadt New-York gegenüber, der Anfangspunkt des Chesapeakecanals, der nach Philadelphia, aber auch nach dem kohlenreichen Schuylkillthal eine Wasserstraße über die Berge schafft. Bei Rondout mündet ein anderer großer Kohlencanal ein, der Hudson- und Delawarecanal, der in’s wirkliche Herz der Kohlenbezirke Pennsylvaniens eindringt und täglich drei- bis fünftausend Tonnen des kostbaren Brennmaterials herbeiführt. Von Rondout aus verschifft dann die Hudson- und Delawarecanal- und Coal-Company diese Producte nach allen Theilen des Landes und zwar Alles zu Wasser. In Troy, der Stadt, bei welcher der große Strom aufhört

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_186.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)