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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Herz umwendete, malten sich in den braunen Augen, die in flehender Beredsamkeit die seinen suchten. Sie fuhr zurück. Gott im Himmel, was hatte sie gethan! Unter dem großen, erstaunt fragenden Blicke, der sie traf, sank sie vor Scham fast in die Kniee. Einige unarticulirte Worte stammelnd, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.

Er begriff augenblicklich Alles. Das verhängnißvolle Glas auf den Tisch stellend, nahm er bestürzt ihre Hände und zog sie an sich. „Käthe, liebe Käthe!“ sagte er mit bebender Stimme und sah in das thränenüberströmte Antlitz, das sie mit einem sanften Neigen des Kopfes wegzuwenden suchte. In diesem Augenblicke erschien das prächtige, imponirende Mädchen vollkommen als das, was sie an Jahren, an Erfahrung, an fleckenloser Seele in Wirklichkeit war – als die Jugend in ihrem unangetasteten Glanze warmen rückhaltslosen Empfindens, aber auch in dem hülflosen Schrecken über eine ungeahnte Wendung.

Sie entzog ihm leise die Hände und trocknete in Hast ihre Augen mit dem Taschentuche. „Ich habe Sie schwer gekränkt, Herr Doctor,“ sagte sie, immer noch mit den Thränen kämpfend. „Ich habe eine Tactlosigkeit begangen, die Sie mir ganz gewiß nie vergessen werden. Ach Gott, wie konnte ich mich nur in diese wahnwitzige Vorstellung so verrennen, daß“ – sie biß sich auf die Unterlippe, um das krampfhafte Zucken ihres Mundes zu unterdrücken. „Gehen Sie nicht zu streng mit mir in’s Gericht!“ setzte sie mit sinkender Stimme hinzu. „Das, was ich heute schon durchleben mußte, genügt wohl, um auch einen stärkeren, als meinen Mädchenverstand, zu verwirren.“

Er sah sie kaum an; nur von der Seite streifte sein Blick den schönen, jugendlichen Mund, als wolle er nicht zeigen, wie leid ihm diese bittere Selbstanklage thue, und wie fassungslos er selbst sei. Nun aber glitt das seelenvolle Lächeln, das sie schon kannte, leise durch seine Züge.

„Sie haben mich nicht gekränkt,“ sagte er tröstend, „und wie sollte ich es wohl anfangen, mit Ihrem lauteren Gemüthe in’s Gericht zu gehen? Was Sie sich für eine Vorstellung von meinem Charakter, meiner Denkart, meinem Temperament gemacht haben mögen, um zu einem solchen Schlusse zu kommen – ich weiß es nicht; ich will darüber auch gar nicht grübeln, noch weniger aber widerlegen. Mir hat dieser Irrthum einen Lebensmoment gebracht, den ich allerdings nicht vergessen werde. Und nun beruhigen Sie sich, oder vielmehr, erlauben Sie mir, daß ich als Arzt meine Pflicht thue!“ Er ergriff das Glas und hielt es ihr hin. „Nicht die Ruhe, die Sie fürchteten, wollte ich in diesem Tranke suchen“ – er brach ab und hielt einen Augenblick inne. „Ich habe mich hinreißen lassen, heftig und leidenschaftlich zu werden, noch dazu am Krankenbette,“ hob er von Neuem an; „das könnte ich mir nie verzeihen, wenn ich nicht bedächte, daß ich doch auch, wie jeder Andere, Blut und Nerven habe, die mit dem guten Willen um die Herrschaft streiten. Ein paar Tropfen davon,“ er zeigte auf das Medicinfläschchen, „genügen, um die nervöse Aufregung zu dämpfen.“

Sie nahm das Kelchglas, das er ihr bei diesen Worten nochmals bot, aus seiner Hand und trank es folgsam bis zur Neige leer.

„Nun aber möchte ich Sie um Verzeihung bitten, daß Sie eine so häßliche, aufregende Scene, wie die da drüben, mit ansehen mußten,“ sagte er ernst und nachdrücklich. „Ich bin dafür verantwortlich; denn es hätte in meiner Macht gelegen, sie mit einigen zur rechten Zeit gesprochenen Worten zu verhindern.“ Er lächelte so bitter, so schneidend, daß es dem jungen Mädchen durch die Seele ging. „Mich plage der leidige Bettelstolz, sagen einige meiner Herren Collegen – die wenigen, die mich aus purer Gutmüthigkeit noch nicht ganz haben fallen lassen – sie behaupten das, weil ich nicht zu den ‚lauten‘ Leuten gehöre. Dieser ‚Bettelstolz‘ ist zu einer Art von Kassandrafluch für mich geworden. Die Welt nimmt das Schweigen für Unfähigkeit, für Mangel an Urtheil, und so hält man es gar nicht für nöthig, sich mir gegenüber einen moralischen Zwang anzuthun. Ich sehe Menschen, die sich als geniale, geistreiche Naturen äußerlich geriren, plump und täppisch vorgehen und kann ihr Handeln und die damit verknüpften Ereignisse mathematisch genau voraussagen – o, dieser Ekel!“ Er stieß leicht mit dem Fuße auf den Boden und schüttelte sich, als gelte es, ein verabscheutes Reptil von sich zu werfen.

Noch war er weit entfernt von der Herrschaft über sein empörtes Blut; noch stürmte die Bewegung heftig in ihm, und das frivole Wesen, das mit frevelnder Hand diese harmonische Natur aus den Fugen gerissen, dort sah es von der Wand hernieder, im weißen Iphigenia-Gewande an eine Säule gelehnt, mit gefalteten, lässig herabgesunkenen Händen und einem lieblich gedankenvollen Aufblicke; fast fromm sah das dämonische Mädchen aus. Damals hatte sie noch um seine Liebe, seinen Beifall geworben; damals war sie noch entschlossen gewesen, sein Ideal zu verwirklichen und dem künftigen „berühmten Universitätsprofessor“ die waltende gute Fee seines Daheims zu werden. Sie wäre es doch nie geworden; gerade das wäre der Boden gewesen für ihre Sucht, als schaffender Geist zu brilliren. Er hätte einen besuchten Salon, aber kein Daheim, eine in unbefriedigtem Ehrgeize sich verzehrende Weltdame, aber kein wahrhaft liebendes Weib, keine „mitringende, mitfühlende Gehülfin“ gehabt. Dagegen war er ja auch nicht mehr blind – und doch gab er sie nicht frei. Oder war nun doch das Band gelöst, nachdem Flora ihm so unumwunden den Ausdruck ihres Hasses in das Gesicht geschleudert hatte? Käthe wußte ja nicht, was sich nach ihrem Hinausgehen ereignet, soviel aber sagte sie sich, daß ihr längeres Verweilen hier in seinem Zimmer nicht statthaft sei, mochte der Würfel gefallen sein, wie er wollte.

Der Doctor hatte den finsteren Blick aufgefangen, den sie auf das Bild geworfen, und sah nun, daß sie sich zum Gehen anschickte.

„Ja, gehen Sie,“ sagte er. „Henriettens Kammerjungfer ist gekommen und hat bereits ihr Pflegeramt angetreten. Der Zustand der Kranken ist derart, daß Sie getrost in die Villa zurückkehren können, um der Frau Präsidentin, wie sie es lebhaft zu wünschen scheint, beim Thee Gesellschaft zu leisten; sie fühle sich so sehr vereinsamt, ließ sie herüber sagen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie können unbesorgt gehen; ich wache treulich über Ihre theure Kranke,“ wiederholte er nachdrücklich, als sie lebhaft zu protestiren versuchte. „Aber geben Sie mir noch einmal die Hand!“ Er hielt ihr die seine hin, und sie legte rasch und willig ihre schlanken Finger hinein. „Und nun, was man Ihnen auch heute noch sagen mag, lassen Sie sich nicht verleiten, mich zu verurtheilen! Schon in den nächsten Tagen wird sie,“ er nannte den Namen nicht und neigte nur, ohne hinüberzublicken, bitterlächelnd den Kopf nach Flora’s Bild, „ganz anders denken, und das ist’s, was mich consequent bleiben heißt; ich darf nicht den Vorwurf auf mich nehmen, als hätte ich einen günstigen Moment – auszunutzen verstanden.“

Sie sah befremdet zu ihm auf, und er neigte bedeutsam und so sonderbar resignirt den Kopf, als wollte er sagen: „Ja, so steht es,“ aber über Beider Lippen kam kein Wort.

„Gute Nacht, gute Nacht!“ sagte er gleich darauf – er ließ mit leisem Drucke ihre Hand fallen und trat an den Schreibtisch, während sie rasch der Thür zuschritt. Unwillkürlich wandte sie sich noch einmal auf der Schwelle um – er führte eben seltsamer Weise das leere Kelchglas an seine Lippen; in demselben Augenblicke aber auch glitt es aus seiner Hand und zersprang auf dem Boden in Scherben und Splitter. – – –

Drüben im Krankenzimmer stand Flora zum Fortgehen gerüstet, sie sah aus, als bebe jede Fiber an ihr vor nervöser Ungeduld. „Wo steckst Du denn, Käthe?“ schalt sie. „Die Großmama wartet; Du bist schuld daran, daß man uns den Thee mit Impertinenzen würzen wird.“

Käthe antwortete nicht. Sie warf den Baschlik über, den ihr die Jungfer mitgebracht, und trat an das Bett. Henriette schlief sanft; die dunkle Fieberröthe auf ihren Wangen hatte bedeutend nachgelassen. Wiederholt hauchte das junge Mädchen einen Kuß auf das bleiche, schmale Händchen, das ruhig auf der Decke lag, dann folgte sie der hinausrauschenden Schwester.

Im Flure brannte eine kleine Lampe, und ein Lakai aus der Villa, der mit der Kammerjungfer gekommen war und noch Verschiedenes herübergetragen hatte, ging wartend auf und ab. Fast zugleich mit den Schwestern trat der Doctor in den Flur,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_190.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)