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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

des Vorhanges im Zwischenact veranlaßt, Dieser die gehässige Correspondenz in das Pariser Journal geschickt habe.

Ich selbst, als Sohn Heinrich Marr’s, nahm bei einer späteren Anwesenheit in Paris (1845) Anlaß, der Sache auf den Grund zu kommen. Meine damaligen politischen Verbindungen erleichterten mir diese Mühe zwar, dennoch blieb dieselbe ohne positives Resultat. Eine Spur ließ mich auf den Grafen M. W. in Braunschweig schließen, der zu den Häuptern der „Carlisten“ des Herzogthums zählte. Eine andere schien anzudeuten, daß der bekannte diplomatische Consulent K. der Sünder gewesen sei. Eine dritte, nach journalistischer Anschauung wahrscheinlichste Spur besagte, daß irgend welche Privatbriefe aus Braunschweig an Herrn von Bitter gelangt seien, und daß dieser in Form einer Correspondenz die harmlose Scenerie ausgebeutet und entstellt habe. So viel kann ich beschwören: Mein Vater, Heinrich Marr, hatte nicht den mindesten, weder directen noch indirecten Antheil an der ganzen Affaire, und diese Affaire, daß der Herzog mit Frau Methfessel im traulichen tête-à-tête erblickt worden sei, ist von A bis Z erlogen. Dennoch lag es in den kleinstaatlichen Verhältnissen der damaligen Zeit, daß man ein concretes Etwas haben mußte für seinen Zorn. Dieses Etwas wurden Cornet und Marr. Die „Haupt- und Staatsaction“ des Hofes spitzte sich in Ermangelung zu lösender großer politischer Fragen in die allerhöchste Ungnade gegen die beiden Regisseure des Theaters zu.

Der Anlaß, wo sie zum Ausbruch kam, trat bald ein. Die Auber’sche Oper „Fra Diavolo“ war neu einstudirt worden. Cornet, zu dessen unerreichten Glanzpartien die Titelrolle gehörte, hatte die Inscenirung mit dem ganzen Eifer seines Wesens bewerkstelligt, und auf den Proben ging Alles, wie es in der Theatersprache heißt, „wie am Schnürchen“. Der Abend der Aufführung war da. Der Beifall des Publicums war stürmisch. Da, am Schlusse des letzte Actes, als Cornet als Fra Diavolo aufgetreten war, schoß ein Statist, der einen der Dragoner darzustellen hatte, sein Gewehr einige Minuten zu früh auf ihn ab. Das Publicum lachte; die ganze Illusion der Scene war zerrissen. Unser Cornet – nach einem hörbaren, nicht wiederzugebenden Kernfluche – wirft sein Gewehr wüthend auf den Boden und geht ab. Tumult auf der Bühne und im Auditorium. Der Vorhang muß fallen; die Vorstellung ist gestört. Die ganze Residenz, in welcher das Theater den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens bildete, war in Erregung.

Jetzt kommt von oben der Cabinetsbefehl, die Sache auf’s Strengste zu untersuchen und nach der ganzen Strenge der Gesetze zu ahnden.

Guter Rath war theuer. Der damalige Intendant des braunschweigischen Hoftheaters, Herr Baron Kammerherr von Münchhausen, schätzte Cornet seiner große Verdienste wegen und sah ihm manche Ausschreitungen seines heftigen, leidenschaftlichen Temperamentes nach. Diesmal aber war es zu stark. Die Unmöglichkeit, ihn nach dem Vorgefallenen zu halten, war eine allgemeine Ueberzeugung geworden. Außerdem war auf Specialbefehl des Hofes die Niedersetzung einer Commission befohlen worden, die den Sänger und Opernregisseur richten sollte. Die Commission bestand aus den Regisseuren Marr, Kettel und Gaßmann, sowie aus noch zwei anderen Mitgliedern der Bühne, deren Namen mir entfallen sind.

Es liegt bekanntlich in der menschlichen Natur, daß Hervorragung des Talents und der Arbeitskraft das Gefühl bewußten und unbewußten Neides erregt, und die völlig selbstlosen Charaktere sind an den Fingern herzuzählen. So war die Commission, welche über Cornet zu Gericht zu sitzen beordert war, mit Ausnahme Marr’s, aus instinctiven Gegnern des Verbrechers zusammengesetzt. Selbst der gutmüthige, joviale „alte Gaßmann“, mit seinem untermischten Plattdeutsch in der Unterhaltung, hätte schon aus Behäbigkeit keine Lanze für den Angeklagten gebrochen. Mit einer gewissen steifen Feierlichkeit empfing der Intendant die Jury und den Angeklagten im Intendanturbureau. Der Baron von Münchhausen trug den alten bekannten Fall nochmals objectiv vor; der Theaterconsulent, Dr. Duroi, ergriff die Feder zur „Führung des Protokolls“. – In jener Zeit grassirte die morbus parlamentaris noch nicht wie heute. Die Formalitäten, wo Einer um’s Wort bittet, ein Andrer Anträge, ein Dritter ein Amendement dazu, ein Vierter ein Subamendement zum Amendement stellt etc., waren ausgeschlossen. Alles geschah mehr en famille und patriarchalisch. Als der Intendant daher seinen Vortrag geendet hatte, erschöpften sich die Herren Geschworenen in Versicherungen des Bedauerns, daß sie über den „so lieben und werthen Collegen“ richten sollten.

„Mien leewe Cornet! Wenn der Herzog nur nicht –“ sagte Gaßmann.

„Seine Durchlaucht zwingt uns –“ meinte Kettel.

„Daß die Geschichte doch nur ganz am Schlusse der Vorstellung passirt wäre!“ rief ein anderer College.

„Oder lieber auf der Probe!“ brummte Marr ironisch vor sich hin.

So ging es fünf Minuten fort, bis Münchhausen die Herren ersuchte, sich formell auszusprechen.

Neues Bedauern. Neue Betheuerungen collegialischer Gesinnungen gegen den Angeklagten. Keiner wollte definitiv mit der Sprache heraus.

Da nahm Marr das Wort und verlangte, daß man zur Sache kommen sollte. Er schlug vor, daß Jeder der Reihe nach seine Meinung zu Protokoll gebe, und forderte Gaßmann als den Aeltesten auf, zu reden. Der Intendant machte den Vorschlag zu dem seinigen, und der Rechtsconsulent erklärte ihn als correct und geboten.

„Papa Gaßmann“ aber und die Uebrigen protestirten dagegen.

„Ich bin der jüngste Regisseur und das zweitjüngste Mitglied des Theaters hier,“ sagte Marr, „die Reihe ist an dem Aeltesten.“

Einstimmig forderte man jetzt Marr auf zu sprechen, und die Herzlichkeit der Collegialität wurde abermals mit einem fensterklirrenden Pathos betont.

„Schreiben Sie!“ sprach Marr zu Dr. Duroi.

Athemlose Stille.

Marr dictirte: „Ich erkläre hiermit, daß ich die Handlungsweise des Herrn Julius Cornet in der ††† Scene des dritten Actes der Oper ‚Fra Diavolo‘ unbedingt strafbar – – Haben Sie ‚strafbar‘?“ wandte er sich an den Protokollführer.

„Ja.“

„Strafbar, aber in jeder Beziehung erklärlich finde, indem der darstellende Künstler auf der Bühne nicht nur ein anderer Mensch als im gewöhnlichen Leben sein soll, sondern, wo er dazu noch Regisseur ist und sein künstlerisches Werk auch als solcher durch eine von ihm nicht verschuldete Handlung Anderer zusammenbrechen sieht, sehr wohl von seiner künstlerischen Stimmung fortgerissen werden kann. Ich füge hinzu, daß, so strafbar an sich ich die Handlungsweise des Herrn Cornet finde, ich keinen Anstand nehme zu erklären, daß ich in einem analogen Falle als Künstler und Regisseur nicht für mich einstehen könnte, ebenso – allerdings straffällig – zu handeln, wie es Herr Cornet gethan hat.“

Allgemeines Perplexsein.

„Ja, wenn man die Sache so auffaßt!“ verrieth Kettel seine geheimsten Gedanken.

„Ja, richtig is dat woll, aber –“ meinte Gaßmann.

„Mit dieser Erklärung wird sich Seine Durchlaucht nicht begnügen,“ sagte ein Dritter.

„Es ist meine persönliche Ansicht als Künstler und Regisseur,“ erklärte Marr. „Ich denke, wir sollen hier als Künstler urtheilen.“

„Sie haben es gehört, meine Herren,“ sagte der Intendant. „Herr Gaßmann, an Ihnen ist jetzt die Reihe.“

Gaßmann sah nach rechts und links, dann sprach er: „Als Künstler und Regisseur schließe ich mich dem Urtheile des Herrn Marr an.“

„Dann bitt’ ich, für mich dieselbe Erklärung abzugeben,“ sprach Kettel.

Die anderen zwei Collegen bequemten sich als „Künstler“ ebenfalls beizustimmen.

Dem Intendanten fiel ein Stein vom Herzen. Cornet war für dieses Mal gerettet. Der Baron dankte den Herren und wollte sie entlassen.

„Wir sind noch nicht fertig.“ nahm Marr das Wort.

„Wie so?“ fragte der Baron.

„Nach Paragraph (?) unserer Theatergesetze ist Herr Cornet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_203.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)