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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

ein lautes Gelächter aus. „Die ganze, gebildete Welt!“ wiederholte sie. „Willst Du mir sagen, wie Du es möglich machst, sie mit Deinem bedauernswürdigen Protégé in Verbindung zu bringen?“

Der Commerzienrath faßte kopfschüttelnd ihre Hand; er war fast athemlos vor Ueberraschung. „Ja, wie ist denn das möglich? Weißt Du denn noch nicht –“

„Mein Gott, was soll ich denn wissen?“ unterbrach sie ihn ungeduldig mit ärgerlich gerunzelten Brauen und stampfte leicht mit dem Fuße den Boden.

Da wurde sehr rasch die Thür geöffnet, und die Präsidentin trat herein. Sie war einfach, in penséefarbene Seide gekleidet. Ob die starke lila Nüance ihr Gesicht so gelb und alt machte, oder ob sie infolge der gestrigen Aufregung eine schlechte Nacht gehabt – genug, sie sah sehr verfallen und dabei unverkennbar tief alterirt aus.

Der Commerzienrath eilte auf sie zu und küßte ihr ehrerbietig die Hand. Er betonte, daß er ihr schon vor einer halben Stunde habe seine Aufwartung machen wollen, aber zurückgewiesen worden sei, weil die Großmama das Schlafzimmer noch nicht verlassen und dort den Besuch der Hofdame Fräulein von Berneck angenommen habe.

„Ja, die gute Berneck kam, um mir ihr Beileid auszusprechen über Henriettens Erkranken und das abscheuliche Attentat, dem Flora ausgesetzt gewesen ist,“ sagte sie. „Wir werden heute einen anstrengenden Tag haben; die ganze Stadt ist aufgeregt über den Vorfall, und die Freunde unseres Hauses sind empört; sie kommen sicher alle, um nach uns zu sehen.“

Sie sank matt in einen Lehnstuhl; ihre Stimme klang angegriffen und den Geberden fehlte die Elasticität, die sie sonst noch so siegreich in ihrem Alter behauptete. „Uebrigens hatte die Berneck auch noch einen anderen Grund, und der stand jedenfalls in erster Linie,“ hob sie wieder an. „Ich kenne sie schon; sie ist Eine von Denen, die gar zu gern die Ersten sein wollen, die eine sogenannte gute Nachricht hinterbringen, und da fragen sie nicht viel danach, ob sie ein Hofgeheimniß verletzen, oder nicht. Denkt Euch, sie kam, um mir insgeheim zu gratuliren, weil unserem Hause Heil widerfahren werde.“ Sie erhob sich und verschlang die Hände ineinander. „Mein Gott, welches Dilemma! Ich weiß wirklich nicht, ob ich weinen oder mich freuen soll. Es ist ja so trostlos niederschlagend, daß gerade bei Hof, der ein gutes Beispiel geben sollte, das alte Sprüchwort vom Undanke immer wieder zur Wahrheit wird. Wie hat sich Bär zeitlebens aufgeopfert für die Herrschaften! Und jetzt geht man plötzlich über ihn hinweg, als habe der alte, treue Diener nicht existirt. Er ist noch so rüstig, so geistesfrisch, und doch – will man ihn pensioniren.“

„Und dazu gratulirt Dir die alte Person?“ rief Flora ärgerlich.

Dazu selbstverständlich nicht, mein Kind,“ entgegnete die Präsidentin, ihre Stimme verstärkend, mit großem Nachdrucke. „Flora, es geschehen wunderbare Dinge in der Welt. Hättest Du das vor einer Stunde noch für möglich gehalten? Bruck soll Hofrath und Leibarzt des Fürsten werden.“

„Verrücktes Hofgeschwätz! Auf was Alles werden wohl diese müßigen Köpfe noch verfallen! Sie combiniren wirklich das Blaue vom Himmel herunter,“ lachte Flora auf. „Hofrath und Leibarzt! Und solchen Blödsinn hörst Du ruhig mit an, Großmama, und lässest Dich auch noch deshalb beglückwünschen?“ Sie brach abermals im ein schallendes Gelächter aus.

„Nun, das muß ich sagen, lebt man denn hier in der Residenz so weltenfern von der Civilisation, daß keine Zeitungen gelesen werden?“ rief der Commerzienrath die Hände zusammenschlagend. „Ihr wißt wirklich nichts, rein gar nichts von Dem, was geschehen ist, was uns so nahe angeht? Und ich komme deshalb einen Tag früher zurück. Die Freude hat mir keine Ruhe gelassen. Alle Zeitungen sind voll von der wunderbaren Operation, die Bruck in L…..g ausgeführt hat; in allen Kreisen Berlins wird augenblicklich davon gesprochen. Der Erbprinz von R., der gegenwärtig in L…..g studirt, ist mit dem Pferde gestürzt; er ist so schwer und unglücklich am Kopfe verletzt gewesen, daß sich kein Arzt zu der Operation hat verstehen wollen, selbst der tüchtige Professor H. nicht. Denn aber ist es erinnerlich gewesen, daß Bruck im letzten Feldzuge einen ähnlichen Fall behandelt und zum Erstaunen Aller glücklich durchgeführt hat. Darauf hin hat man ihn sofort telegraphisch berufen –“

„Und das soll Dein Bruck, Dein Protégé gewesen sein?“ unterbrach ihm Flora – sie versuchte zu lächeln, aber diese weiß gewordenen Lippen schienen versteinert, wie das ganze, plötzlich leichenhaft erblichene schöne, impertinente Gesicht.

„Es war allerdings mein Bruck, wie ich ihn jetzt mit Stolz nenne,“ bestätigte der Commerzienrath mit sichtlicher Genugthuung. Er war ja so froh über diese glückliche Wendung. Zwar Scrupel hatte er sich längst nicht mehr gemacht über sein Verschweigen – der bereits halb vergessene grauenhafte Vorfall hatte ihn ruhig schlafen lassen; denn er war ein echtes Kind seiner Zeit, ein Egoist, der bei der Wahl: „Er“ oder „Ich“ keinen Augenblick im Unklaren war, daß das „Ich“ betont werden müsse. Aber nun war es doch gut, daß Alles so gekommen, und Bruck sich durch eigene Kraft, wie er, der Commerzienrath, ja vorausgewußt, wieder emporgerungen. „Uebrigens macht auch zu gleicher Zeit eine Broschüre von ihm unglaubliches Aufsehen in den medicinischen Kreisen,“ fuhr er fort. „Er hat für die Operation im Allgemeinen einen völlig neuen Weg entdeckt, der von unberechenbarer Tragweite sein soll. Es ist nicht mehr zu leugnen – Bruck geht einer großen Zukunft entgegen.“

„Wer’s glaubt!“ sagte Flora mit seltsam erloschener Stimme. Verzweifelt gespannt in jedem Gesichtszuge, glich sie einem Spieler, der sein Letztes auf eine Karte setzt. „Mit Deinem hohlen Pathos überzeugst Du mich nicht. Entweder liegt hier eine Namensverwechselung vor, oder – die ganze Wundergeschichte ist erfunden.“

Bei dieser hartnäckigen, trotzigen Behauptung büßte auch der Commerzienrath seine sprüchwörtlich gewordene Langmuth ein, die er den Damen seines Hauses gegenüber jederzeit an den Tag legte. Er stampfte zornig mit dem Fuße auf und wandte sich ab.

Die Präsidentin stand am Tische und ließ ihre weißen, welken Finger in nervöser Erregung auf der Tischdecke spielen. Ihre Augen fixirten unruhig die Enkelin. Sie begriff recht wohl, was in ihr vorgehen mußte, die den nun so gefeierten Mann so schmählich verkannt und verleumdet hatte. Es war eine jämmerliche Niederlage, aber gerade in solchen Momenten mußte die gut erzogene Weltdame sich ohne Weiteres zurecht finden können.

„Dein Sträuben wird Dir wohl nichts helfen, Flora,“ sagte sie gelassen. „Du wirst schließlich doch glauben müssen. Ich für meinen Theil – so wunderlich mir auch dabei zu Muthe ist – zweifle nicht mehr. Der Herzog von D. ist der Mutterbruder des verunglückten Erbprinzen; er mag wohl sehr erfreut und glücklich sein über die Rettung seines Neffen, denn gestern Abend sah ich den D.’schen Hausorden auf Bruck’s Schreibtische liegen.“

„Und das sagst Du mir jetzt erst, Großmama?“ schrie Flora wie wahnwitzig auf. „Warum nicht gestern noch? Warum hast Du mir das verschwiegen?“

„‚Verschwiegen‘?“ wiederholte die Präsidentin so geärgert, daß ihr Kopf in jenes leise nervöse Schütteln verfiel, das alten Leuten bei zorniger Erregung leicht eigen ist. „Wie impertinent! – Ich möchte wissen, was mich veranlassen könnte, dergleichen geheim zu halten, höchstens der Umstand, daß man in den letzten Monaten Bruck’s Namen vor Deinen Ohren kaum noch nennen durfte. Ich habe das allerdings auch möglichst vermieden –“

„Weil mein Verhalten vollkommen nach Deinem Geschmacke war, chère grand’ mère –“

„Bitte recht sehr, nur weil es mir im Innersten widerstrebt, Zeugin leidenschaftlicher Ausbrüche zu sein. Du bist ja seine erbittertste Gegnerin, hast ihn schärfer gerichtet, als die mißgünstigsten unter seinen Collegen; das leiseste Bemühen, ihn zu entschuldigen, ruft stets heftige Scenen hervor. Der arme Moritz und Henriette wissen ein Lied davon zu singen. Und hast Du nicht eben gezeigt, in welcher Weise Du eine Nachricht aufnimmst, die zu seinen Gunsten spricht?“ Wie tief gereizt mußte sie sein, daß sie – anstatt das fatale Vergangene nunmehr todtzuschweigen, wie es sonst ihre Art war – noch einmal Flora’s häßliches Benehmen vor den Augen der Anderen vorüberführte!

Flora schwieg. Sie stand am Fenster, den Rücken den Anwesenden zugekehrt; an ihren fliegenden Athemzügen sah man, daß sie heftig mit sich kämpfte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_210.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)