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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

in die Villa zurückgebracht; die Verbindung zwischen „Hüben und Drüben“ wurde abgebrochen, und der Doctor „nahm nicht einmal mehr die Namen Derer in der Villa auf die Lippen“. Nach Allem, was gestern Abend geschehen, was sie als einziger Zeuge mit angehört, mit angesehen, war die gehoffte Umkehr Flora’s unmöglich, mochte Doctor Bruck auch mit aller Energie auf seinem Rechte bestehen – heute noch mußte er die Ueberzeugung gewinnen, mußte sich Alles entscheiden, wenn die Braut ausblieb. Oder that er doch, was Henriette befürchtete? Hatte er das Verlangen nicht unterdrücken können, bei seiner Rückkehr vom fürstlichen Schlosse in der Villa einzukehren, um Flora von der glücklichen Wandlung in seinem Leben nunmehr persönlich in Kenntniß zu setzen? Dann sagten ihm die zwei kleinen Brillantringe an ihrem Finger sofort, und zwar deutlicher als jedes erklärende Wort, was er noch zu hoffen habe.

Käthe lief in diesem Augenblicke vom Ufer weg auf den Rasengrund zu; ein abscheulicher Lärm, der möglicher Weise bis in’s Krankenzimmer dringen und Henriette erschrecken konnte, erhob sich in der Nähe des Schuppens; das Hühnervolk zerstob, entsetzt aufschreiend, nach allen vier Winden, und der Hofhund stürzte sich mit nachschleifender Kette wüthend auf die gelbe Henne, die ihn geärgert hatte. Käthe war ihm sofort auf den Fersen; sie packte sein schmutzig weißes, zottiges Fell im Genicke, in demselben Momente, wo bereits die Schwanzfedern seines unglücklichen Opfers umherflogen.

Sie lachte wie ein Kind über das zerzauste Huhn, das sich kläglich krakelnd im Holzschuppen verkroch, und zog den Hund nach seiner Hütte zurück. Das ungeberdige Thier sträubte und sperrte sich mit allen Kräften; es versuchte, nach der kräftigen Mädchenhand zu schnappen, die es unerbittlich wieder in die Gefangenschaft schleifte.

Für einen Dritten mochte dieser Kampf um die Herrschaft etwas Beängstigendes haben; denn der Hund war tückisch wild, groß, von sehnigem, gedrungenem Gliederbau, und die rothfleckige Zeichnung auf Rücken und Flanken gab ihm ein tigerartiges Ansehen, aber er wand und stemmte sich vergeblich. Käthe stieß mit der freien Linken den ausgehobenen Kettenhaken wieder in den eisernen Ring der Mauer und sprang, den Hund plötzlich loslassend, weit zurück; er fuhr ihr wüthend nach und erwischte noch den Saum ihres Kleides, den er in Fetzen riß.

„Bösewicht!“ drohte sie mit dem Finger und nahm das Kleid auf, um den Schaden zu betrachten. Sie hörte eilige Schritte von der Brücke her kommen; sie wußte auch, daß es der Doctor war, der von der Stadt zurückkehrte, aber sie sah nicht auf. Sie hoffte, er werde in das Haus gehen, ohne sie weiter zu beachten. Wer konnte denn wissen, ob er nicht direct aus der Villa und vielleicht in sehr trüber Stimmung kam? Er war ohnehin so still und in sich gekehrt, so wortkarg heute; fast wollte es ihr scheinen, als habe er gestern Abend mit dem sanften, unerklärlich weichklingenden „Gute Nacht, gute Nacht!“ einen Abschluß seines bisherigen Wesens und Verhaltens andeuten wollen.

Er ging nicht in das Haus, sondern direct auf Käthe zu. Drohend hob er den Stock gegen den boshaft knurrenden, kläffenden Hund, der plötzlich mäuschenstill wurde und sich demüthig neben seiner Hütte hinstreckte. Der Doctor nahm einen Stein und trieb den Kettenhaken noch tiefer in den Ring. „Ich werde das Thier doch wohl abschaffen müssen; es ist zu wild und ungeberdig,“ sagte er, sich aufrichtend und den Stein fortwerfend. „Seine scharfe Wachsamkeit wiegt den Schrecken nicht auf, den er verursacht. Sie sind freilich mit ihm fertig geworden; ich glaube, im Bewußtsein Ihrer Kraft lassen Sie sich leicht verführen, tollkühn zu sein.“ Er sagte das in ernstem, nahezu tadelndem Tone, jedenfalls hatte er den Vorgang im Näherkommen durch das Ufergebüsch mit angesehen.

Sie lachte. „Glauben Sie das ja nicht! Ich habe meine wohlgemessene Dosis Aengstlichkeit in der Seele, wie jedes andere Mädchen auch,“ entgegnete sie freimüthig. „Vor fremden Hunden habe ich sogar eine ganz besondere Scheu und gehe ihnen gern aus dem Wege. Aber in kritischen Augenblicken muß man sich doch zu helfen wissen; angeborene Schwächen dürfen nicht aufkommen; da beiße ich die Zähne fest zusammen und greife unbedenklich zu, und das mag denn so furchtbar tapfer aussehen.“

Der Doctor hatte mit den Augen eine Schwalbe verfolgt, die vom Schuppen wegflog, und jetzt lächelte er auch, aber ohne Käthe anzusehen. Es kam ihr vor, als sei dieses Lächeln ein ungläubiges; jedenfalls blieb er dabei, sie wolle sich heldenhaft hervorthun und poche unweiblich genug auf ihre Kraft, und das entsprach durchaus nicht ihrem Geschmacke, am wenigsten aber der Wahrheit.

„Sie zweifeln?“ fragte sie mit einem halb ernsten, halb schelmischen Aufblicke. „Wissen Sie auch, daß die Heldin da vor Ihnen erst seit Kurzem das letzte Restchen Furcht vor Nachtdunkel und Geisterspuk von der Seele geschüttelt hat?“ Ein köstlicher Humor umspielte ihre Lippen und vertiefte die Wangengrübchen. „Sie können sich wohl denken, daß in der alten Schloßmühle Kobolde und Heinzelmännchen in allen Ecken hocken und rumoren; dem fürstlichen Erbauer fällt es auch bisweilen ein, aus seinem wackeligen Rahmen zu steigen, um höchsteigenhändig die Kornsäcke auszuschütten, und gespenstige Müller, die vor alten Zeiten ihren Mahlkunden das Mehl verkürzt haben, fehlen auch nicht. Suse hat mir selbstverständlich von diesen unumstößlichen Thatsachen nicht ein Tüpfelchen vorenthalten, und ich war so festgläubig, als sei ich in einer thüringer Spinnstube aufgewachsen. Von diesem wundervollen Gruseln durften aber der Papa und meine Lukas um Alles nicht merken – Suse wäre sehr gescholten worden, und ich schämte mich auch –, da galt es denn, sich zu überwinden und zähneklappernd, aber ohne Widerrede in tiefster Dunkelheit bis auf den Hausboden hinaufzusteigen, wenn es auf Grund der Erziehungsconsequenz befohlen wurde.“

„Sie haben sich also von jeher gewöhnt, an Ihre innere Kraft hohe Anforderungen zu stellen. Wie mag es da kommen, daß es Ihnen so leicht wird, beim Manne eine That der Feigheit und Schwäche vorauszusetzen?“

Sie stand plötzlich wie mit Blut übergossen. „Sie haben mir gestern meine Uebereilung verziehen,“ sagte sie sichtlich verletzt und nicht ohne Trotz und strich, sich abwendend, wiederholt die Löckchen aus der Stirn, lediglich um die Flammengluth auf ihrem Gesichte zu verdecken.

Er schüttelte den Kopf. „Diesen Ausdruck sollten Sie doch nicht wieder gebrauchen, nachdem ich Ihnen versichert, daß Sie mir nichts zu Leide gethan haben,“ versetzte er, unwillkürlich seine schöne, klangvolle Stimme dämpfend, als berühre er eine geheime Beziehung zwischen sich und dem Mädchen, um welche die ganze übrige Welt nicht wissen dürfe. „Ich wollte vorhin nur sagen, daß ich umsonst der Wurzel nachspüre, aus der Ihre gestrige Befürchtung entsprungen sein mag.“

Käthe ließ die Augen über das Haus hingleiten; sie sah wieder geklärt, lieblich und rosig aus wie eine Apfelblüthe, und um ihre Lippen zuckte es wie verhaltenes Lachen – der flechtengekrönte Kopf mit dem kindisch schelmischen Gesichte saß fast befremdend jung auf der junonischen Gestalt. Sie zeigte nach dem verhängnißvollen Eckfenster. „Vor alten Zeiten hat dort eine schöne Edelfrau gelebt –“

„Ach, die romantische Geschichte, die man sich auch in den Spinnstuben erzählt!“ unterbrach er sie. „Also das tragische Ende der Verlassenen ist’s gewesen –“

„Das nicht allein. Henriette hauptsächlich hat mir bange gemacht –“

„Henriette ist krank; ihr tief erschüttertes Nervenleben drängt ihr Denken und Empfinden aus der natürlichen Bahn. Sie aber sind gesund an Leib und Seele.“

„Ja, gewiß, aber es giebt Dinge, für die man in seiner Jugend und Unkenntniß keinen Maßstab, kein eigenes Urtheil hat –“

„Für die Liebe, zum Beispiel,“ fiel er ein, und ein rascher, scheuer Seitenblick streifte das Mädchen.

„Ja,“ bestätigte sie einfach.

Er senkte den Kopf und stieß, in tiefes Nachdenken versunken, mechanisch mit der Stockspitze gegen einen mächtigen Würfel aus Sandstein, welcher, der Hausthür gegenüber, mitten im Rasengrunde lag. Früher war er für die kleine Käthe ein wunderlicher, aber hübscher Tisch gewesen, lediglich zu dem Zwecke hingestellt, daß Kinderhände gefallenes Obst, Blumen und gesammelte Steinchen darauf legen sollten. Jetzt erkannte sie in ihm das ehemalige Postament einer Statue noch sah man den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_227.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)