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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Geringere ist, als Ann Eliza Young, die neunzehnte Gattin des Propheten Brigham Young.

Ihn selbst, den greisen Apostel jener von ihm canonisirten Barbarei, mußte die rächende Nemesis in der Gestalt einer seiner jüngsten und schönsten Gattinnen treffen.

Wenn man die Erscheinung der Mormonin Ann Eliza Young, deren Lebensskizze diese Zeilen den Lesern der „Gartenlaube“ vorführen sollen, nach der Norm des Ewig-Weiblichen messen will, die eine civilisirte Culturanschauung geschaffen hat, so entspricht die Heldin dieser Skizze freilich nicht unseren Begriffen von edler Frauenwürde. Aber die unglückliche und muthige Frau gewinnt an Interesse, wenn man den Schlüssel zu ihren Verirrungen und vorzüglich zu ihrem Ehebunde mit dem Mormonenhäuptlinge in der Thatsache findet, daß Ann Eliza das Kind einer mormonischen Ehe war. So offenbart sich in den Lebensschicksalen der geschiedenen Gattin des Propheten ein Stück modern-barbarischer Culturgeschichte, von welcher die muthige Hand dieser Frau zum ersten Male den Schleier hinweggezogen hat. Auch mit der Art und Weise des Kampfes, den Ann Eliza gegen Brigham Young und den Mormonismus unternommen hat, mag sich eine geläuterte Auffassung nicht einverstanden erklären, es wäre aber ungerecht, wollte man die civilisatorische Bedeutung dieses Kampfes in Abrede stellen. Wenn einst der letzte Rest jener Zwillingsbarbarei (twin-barbarism), wie ein amerikanisches geflügeltes Wort die Negersclaverei und die Polygamie in Utah genannt hat, von diesem Continente vertilgt sein wird, dann wird Ann Eliza Young’s Name unter den Heldinnen amerikanischer Culturgeschichte glänzen.

Während der bekannte Scheidungsproceß der Dame gegen das Oberhaupt von Utah von Instanz zu Instanz verfolgt wurde, unternahm sie selbst eine Vorlesungstour durch die Vereinigten Staaten. Das Thema dieses Vortrags war die Geschichte ihres eigenen Lebens und die Leidensgeschichte aller weiblichen Sclaven von Utah. Die Rednerin erklärte mit unleugbarer Würde und Begeisterung, daß sie den Kampf für diese fünfzigtausend unglücklichen Frauen, die Opfer der Vielweiberei, als die Aufgabe ihres Lebens betrachte, und daß sie nicht aufhören werde, im Interesse ihrer Leidensschwestern an den Gerechtigkeitssinn des amerikanischen Volkes zu appelliren. Das diesem Aufsatze beigefügte Portrait Ann Eliza Young’s mag den Lesern der „Gartenlaube“ die Züge dieser Frau veranschaulichen, in denen Trauer und Entschlossenheit als vorzüglichste Charaktermerkmale hervortreten.

Ann Eliza’s Eltern waren, wie im Verlaufe der Vorlesung berichtet wurde, schon vor ihrer Verheirathung Gläubige der Mormonenlehre und Anhänger des damaligen Propheten Joseph Smith geworden. Ihr Vater, ein Mr. Webb, und ihre Mutter, die als frühere Lehrerin nicht ohne Bildung sein konnte, folgten dem Propheten aus ihrer New-Yorker Heimath in die damalige Mormonenstadt Nauvoo in Illinois. Dort wurde ihnen als fünftes Kind Ann Eliza am 13. September 1844 geboren. Als die Kleine ein Jahr alt war, brachte der Vater eines Tages eine zweite Frau nach Hause, welche mit ihrer Mutter zwölf Jahre lang in Eintracht und Zufriedenheit Haus und Gatten theilte. Doch die Mutter war oft trübe gestimmt, und Ann Eliza merkte, daß ein heimlicher Kummer derselben das Leben vergiftete, obschon sie eine tiefgläubige Anhängerin des neuen Evangeliums war und in der Polygamie eine göttliche Institution verehrte. Der Vater nahm ein zweites Weib, weil er das für seine religiöse Pflicht hielt.

Zur Erklärung solcher Zustände sprach die Rednerin folgende Betrachtungen über die Mormonenreligion und deren Opfer aus: „Man sage nicht, daß die Frauen als mit Vernunft begabte Wesen die Hölle erblicken müssen, in welche sie sich durch die Verheirathung mit einem Mormonen stürzen; wer gründlich vertraut ist mit der Mormonenreligion, wer erfahren hat, mit welcher unerbittlichen Strenge die Kirche die Gewissen ihrer Anhänger gefangen nimmt, wer bedenkt, wie den Kindern die Grundsätze dieser Kirche in’s Herz eingeprägt werden und wie die Mormonen ganz und gar in ihrer Kirche aufgehen: der wird jene Frauen nicht tadeln können. Sie halten das ewige Joch, in welches man sie durch die Mormonenehe zwängt, für eine göttliche, schon von den Patriarchen geheiligte Institution und tragen dieses Joch mit Geduld, ob ihnen auch das Herz vor Jammer brechen möchte. Ich bin in jener Kirche geboren und erzogen worden und kenne den furchtbaren Bann, mit dem mich jener Glaube umfangen hat. Trotz dieses entsetzlichen Zwanges giebt es auch in Utah Tausende von edlen und sittenreinen Frauen, die nur ihrem religiösen Irrwahn zum Opfer fallen. Diese Mormonenreligion fordert mehr Opfer, als der Gott der Fidchi-Insulaner.“ –

Die schlichte Naturgewalt solcher Schmerzenslaute kann ihre Wirkung nicht verfehlen und muß in einer oder der anderen Weise dem von der Rednerin verfolgten Zwecke dienen.

Mit neunzehn Jahren wurde Ann Eliza an einen ungebildeten Mormonen verheirathet, dessen Mißhandlungen sie sich nach zwei Jahren durch gerichtliche Scheidung entziehen mußte. Die zwei Kinder dieser Ehe, die noch am Leben sind, wurden der Mutter zugesprochen. Die junge Frau lebte und arbeitete nun auf ihres Vaters Farm in der Nähe von Salt-Lake-City und glaubte für immer dem Joche der Ehe entsagt zu haben. Da führte ihr Unstern den fast siebenzigjährigen Brigham Young in das Haus ihres Vaters. Schon in der ersten Unterredung gab ihr der „heilige“ Mann den frommen Rath, bei etwaiger Wiederverheirathung keinen jungen Fant, sondern nur einen guten alten Bruder der Kirche zu wählen. Am andern Tage theilte ihr Vater ihr mit, daß der Prophet ihr die hohe Ehre erweisen wolle, sie zu seiner neunzehnten Gattin zu erheben. Sie sträubte sich gegen diesen Antrag, aber Vater und Mutter erkannten denselben als einen Wink vom Himmel und eine große Gnade Gottes. Erst nach einem Jahre gab sie ihre Zustimmung, und zwar vorzüglich aus Liebe für ihren Bruder, der durch des Propheten Rachsucht von der Kirche abgeschnitten werden sollte. Ein solcher Kirchenbann ist in Utah mit zeitlicher und „ewiger“ Vernichtung gleichbedeutend. So ward Ann Eliza am 7. April 1868 die neunzehnte Gattin des Propheten Brigham Young.

In erschütternder Weise schildert die Rednerin die Qual eines solchen Ehelebens und die Tortur der religiösen Zweifel, die in Folge dieser Leiden mit immer stärkerer Gewalt in ihrer Seele erwachten. Noch immer versuchte sie, ihren Unglauben und ihre Denkkraft in Banden zu schlagen; noch immer erhoffte sie von Reue und Buße, von einer neuen Taufe das Heil ihrer religiösen Wiedergeburt. Aber trotz aller Versenkung in den Glauben ihrer Kindheit, trotz aller Qual und Kraftanstrengung ward ihr innerer Abfall vom Mormonenthume immer mehr zur vollendeten Thatsache. Endlich gewann sie den Muth, dem geistigen und physischen Sclaventhume ihrer Ehe zu entsagen. Sie bezog eine Wohnung in einem nichtmormonischen Hôtel, verließ die Religionsgemeinschaft der Heiligen und begann ihren berühmten Scheidungsproceß gegen Brigham Young.

Das erste Ergebniß dieses langwierigen Processes war ein Haftbefehl gegen den Propheten, da dieser sich geweigert hatte, dem gerichtlichen Urtheilsspruche Folge zu leisten und seiner geschiedenen Frau Alimente und Entschädigung zu zahlen. Brigham Young berief sich auf den mormonischen Glaubenssatz, daß die Mormonenehe eine himmlische oder göttliche Institution sei und als solche durchaus nicht unter der Controle irdischer Gerichtsbarkeit stehe. Obgleich nun seine Meinung allerdings von der des Gerichtshofs abweiche, so gereiche es ihm und allen Heiligen doch zu ganz besonderer Genugthuung, daß die Vereinigten Staaten in ihrem Urtheilsspruche zu Gunsten Ann Eliza’s zum ersten Male die Polygamie als eine gesetzliche Institution dieses Landes anerkannt hätten. Und hier lag die moralische Nothwendigkeit, die schließlich den Proceß zu einem für die Klägerin ungünstigen Ende führen mußte. Man durfte die Vielweiberei nicht auf legalem Wege sanctioniren.

Ann Eliza Young darf aber trotz des ungünstigen Ausganges ihres Processes unbesorgt der Zukunft entgegensehen, da sie sich durch den Ernst und die Würde ihrer Erscheinung und ihres Strebens die thatkräftige Theilnahme vieler urtheilsfähigen Amerikaner errungen hat. Auch die Leser und Leserinnen der Gartenlaube werden der muthigen Vorkämpferin der Mormoninnen von Utah ihre Anerkennung nicht versagen.

Der spiritualistische Wahnsinn, der ein Institut des Orients auf amerikanischen Boden verpflanzen konnte, beruht auf folgenden Dogmen: Millionen körperloser Geister, Nachkommen der Götter, umschweben den Erdball und ersehnen den Augenblick ihrer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_230.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)