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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Menschwerdung, der ihnen die zweite, höhere Stufe ihres Daseins, das Leben auf der Erde, erschließen soll. Es ist demnach die heiligste Verpflichtung der Mormonen, diese heimathlosen Geister in irdische Tabernakel, das heißt in menschliche Hüllen, einzuführen. Wer diese Aufgabe am treuesten erfüllt hat, der wird im Jenseits den dritten und höchsten Grad aller Menschenexistenzen erreichen und selbst zum Gotte werden. „Je mehr Kinder, je mehr Segen!“ so lautet also das in die Praxis der Polygamie übersetzte Losungswort des Mormonenthums. Den Hagestolzen und die alte Jungfrau trifft Verachtung hienieden, und der Höllenfluch, den kein Dante grausiger ersinnen konnte, einsam und ungeliebt durch die Ewigkeit zu gehen. Die Frauen hingegen, die dem Heiligen hienieden für den Himmel angesiegelt worden sind, werden seine göttliche Machtstellung im Jenseits theilen.

So sinnreich haben Joe Smith und sein Nachfolger Brigham Young ihr spiritualistisches Netz gewoben, dem schon so zahlreiche und nicht immer bildungslose Frauen durch Erziehung und Gewohnheit zum Opfer gefallen sind. Es würde zu weit führen, näher auf die Irrlehren der mormonischen Glaubenssatzungen einzugehen, und verweise ich den Leser zum Zwecke gründlicher Information über Lehre und Leben der Heiligen auf das neue und interessante Reisewerk Robert von Schlagintweit’s „Die Mormonen“.

Das beigefügte Bild, das Brigham Young in der vollen Glorie seines Prophetenthums im Kreise seiner betenden Frauen zeigt, ist charakteristisch für die heuchlerische Frömmigkeit, deren abnormer Auswuchs diese Vielehen sind.

Jeder Kampf gegen die mormonische Polygamie scheiterte bisher an einer Klippe, die doch im Grunde der höchste Stolz dieses Landes ist, an der durch die Verfassung verbürgten Religionsfreiheit der Republik und der völligen Trennung von Kirche und Staat in diesem Lande. So durfte selbst ein Gemeinschaden, wie diese Vielweiberei, um seiner religiös-dogmatischen Begründung willen nicht mit voller Schärfe des Gesetzes verfolgt werden. Doch die jüngste Botschaft des Präsidenten vom Neujahr 1876 enthält, ungleich strenger als bisher, eine Kundgebung der Indignation, von welcher das Volksbewußtsein gegen die Sittenzustände in Utah durchdrungen ist. Auch ward vor kurzem das Urtheil des Oberrichters White gegen einen in Polygamie lebenden Mormonen dahin ausgesprochen, daß der Angeklagte grober Gesetzesübertretung schuldig sei, da die Religion nicht das Recht habe, sich als selbstständige Autorität und als Deckmantel für das Verbrechen neben oder über das Gesetz zu stellen. Hoffen wir daher, daß trotz der Bittschrift, die in den ersten Januartagen dieses Jahres circa dreißigtausend Mormoninnen, natürlich gezwungener Weise, dem Congresse für die Erhaltung der Polygamie eingesandt haben, die Tage dieser barbarischen Institution auf unserem Continente gezählt sein werden. Möge Ann Eliza Young’s muthige That Nachahmung und Erfolg erzielen!

Die Colonisation einer weiten Länderstrecke des amerikanischen Westens und die Erschließung derselben für die Weltcultur ist an und für sich eine so große civilisatorische Errungenschaft, daß man sich fast versucht fühlen möchte, um solchen Preises willen selbst die Sittenzustände der sonderbaren Heiligen mit in den Kauf zu nehmen. Jedenfalls gebührt den Mormonen neben der schärfsten Verurtheilung ihrer Entweihung des Familienlebens auch manches Ruhmeswort gerechter Anerkennung.

Als die Mormonen, von ihren ersten Niederlassungen vertrieben, auf ihrem von Brigham Young geleiteten wunderbaren Wanderzuge durch noch unerschlossene Erdstriche vor circa dreißig Jahren den großen Salzsee erreichten, da fanden sie in der weiten Umgebung der Stätte, wo sie im Sommer 1847 Salt-Lake-City gründeten, nur Einöde und Wildniß. Heute zählt Utah zu den fruchtbarsten Landstrichen der Union und ist mit blühenden Dörfern und Städten übersäet. Salt-Lake-City besitzt schon seit vielen Jahren Gasbeleuchtung und Telegraphenleitung, und die Vollendung eines der größten Wunderwerke der neuen Zeit, der pacifischen Eisenbahn, wäre fast undenkbar gewesen, wenn nicht die Mormonen durch ihre Niederlassungen und ihre Arbeitskräfte und vorzüglich durch ihre freundlichen Beziehungen zu den Indianern den Riesenbau unterstützt haben würden. Bekanntlich lehnt sich die Mormonenbibel an die indianische Vorgeschichte dieses Landes an, und die Mormonen erblicken in den Indianern Brüder und Stammesgenossen. Eine der düstersten Thaten in der Mormonengeschichte, der verrätherische Angriff auf einen wehrlosen Emigrantenzug, gelang ihnen mit Hülfe der Indianer.

Die pacifische Eisenbahn ist vollendet: die reichen Minendistricte des Westens sind erschlossen, und immer mächtiger ergießt sich der Strom der Einwanderung auch über das Territorium Utah, das neue Zion der Heiligen. Der Untergang des Mormonenthums, dessen phantastisches Religionsgebäude selbstverständlich unter dem Andrange höherer Cultur zerfallen muß, ist nur noch eine Frage der Zeit. Und das Forscherauge, das mit optimistischem Blicke die Räthsel der Culturgeschichte zu durchdringen sucht, wird auch im Mormonenthume die urewige Offenbarung lesen, daß selbst die Irrthümer der Menschen zum Ziel und Zweck aller Geschichte, zum Fortschritt, führen müssen. Wie wilder Golddurst die pacifische Küste, so erschloß Glaubenswahn den Centralpunkt des weiten Westens; Goldgräber und Mormonen mußten „trotz alledem“ als Bahnbrecher und Pfadfinder der Civilisation dem guten Genius der Menschheit dienen.

M. Kleeberg.




Eisen in’s Blut der Bleichsüchtigen.[WS 1]


„Ihr getreuer Mitkämpfer gegen die Medicinschwindelei.“ So unterschrieb sich einst Professor Bock, als er mir zum „Diätetischen Kochbuch“ gratulirte. Und nun ruht leider schon längst dieses medicinischen Reformators fleißige Feder; sie ruht nach mancher sieggekrönten Ehrenarbeit. So wie einst Paracelsus, dieser Lutherus medicorum, die gedankenlosen Nachbeter Galen’s züchtigte; so kämpfte Bock jahrelang mit einem wahren Feuereifer gegen den Aberglauben in der Heilkunde, gegen das krebsartig wuchernde Geheimmittelunwesen und gegen den planlos fortgeleierten Unfug in der Receptenschreiberei. Unverkennbar ist manches Gute durch ihn erreicht worden. Aber noch beuten Hunderte von frechen Geheimmittelkrämern die arme kranke Menschheit aus, und fragen wir uns, welche Fortschritte die Volksaufklärung in Sachen der Heilkunde gemacht habe, so müssen wir eben eingestehen, daß die Menschen noch immer in allen anderen Zweigen des Wissens weit mehr zu Hause sind, als hier, daß es noch immer viele sogenannte Gebildete giebt, welche die Adern, worin ihr Lebensblut rinnt, bei Weitem nicht so gut kennen, wie etwa die Flüsse und Bäche von Hinterindien.

Unter solchen Umständen dürfen die echten Jünger und Nachfolger Bock’s ihre Hände noch nicht in den Schooß legen. Jeder muß rührig bleiben auf dem betretenen Kampfgebiete. Ich für meinen Theil habe mir vorgenommen, die Feinschmecker und die Arzneikrämer hintereinander zu hetzen, die lateinische Küche hinter die deutsche zu stellen, zu zeigen, daß es viele Krankheiten giebt, welche mit den Schätzen der Küche und des Kellers allein geheilt werden können. Hoffentlich werden mir bei diesem Unternehmen, an welches sich bis jetzt noch Niemand gewagt hat, meine Kenntnisse in der Kochkunst und eine mehr als zwanzigjährige Erfahrung aus einer vielbewegten Praxis genügend zur Seite stehen. Der Erfolg des Kampfes wird um so entschiedener sein, je mehr es gelingt, derartige Anschauungen in das große Publicum hinaus zu tragen. Deshalb ist es mir daran gelegen, in die „Gartenlaube“ ernstlich eingekeilt zu werden. In diesen Blättern soll also im Verlaufe der Zeit eine Reihe von Aufsätzen erscheinen, welche die rein diätetische Behandlung verschiedener Krankheiten mit einer Ausführlichkeit behandelt, die auch wirklich zur praktischen Anwendung befähigt. Eröffnen wir den Reigen mit der allbekannten Bleichsucht!

Die Bleichsucht ist für die rein diätetische Behandlung eines der dankbarsten Felder. Bevor wir aber darauf eingehen, müssen wir, um richtig verstanden zu werden, einige Betrachtungen vorausschicken über das Wesen und die Ursachen dieser Krankheit. Die Bleichsucht offenbart sich vorzugsweise als eine Krankheit

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bleichsüchtgen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_231.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2019)