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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

In Folge der Bekanntschaft mit Goethe’s Familie wurde ich bald in schneller Reihe in andere Häuser eingeführt, wurde mit dem ganzen hervorragenden Gesellschaftskreise vertraut und hatte auch die Ehre, am Hofe des Großherzogs sowohl als des Erbgroßherzogs vorgestellt zu werden. Ernstere Arbeiten wurden nun vernachlässigt; ich beschränkte meine Bemühungen auf leichtere Studien, z. B. Gesang, Instrumentalmusik, Reiten, Fechten und Tanzen. Der Galopp und die Mazurka waren damals in ihrer Kindheit, die Polka noch ein Embryo. Weimar war reich an Lehrern aller Art und verdiente vollkommen den Namen des deutschen Athens, welcher ihm hauptsächlich deswegen gegeben wurde, weil der Großherzog der Beschützer aller bedeutenden literarischen und künstlerischen Größen war. Meine Lieblingsbeschäftigung war die Reitkunst, für deren Uebung Weimar ungewöhnliche Gelegenheiten darbot. Der Weg zur Reitschule führte mich durch die Anlagen des Schlosses, wo sich ein schöner Teich[1] befand, welchen zwei edle Schwäne unbestritten beherrschten. Ich beobachtete und fütterte sie jedesmal, wenn ich vorbeiging. Sie kannten mich bald ganz gut, und es war reizend zu sehen, wie sie in ihrer Ungeduld, sich mir zu nähern, das Wasser theilten, sobald sie mich von Weitem erblickten. Dieses Gewässer lag unmittelbar unter den Fenstern des Schlosses, und ich hatte keine Ahnung davon, daß die Freundlichkeit, welche ich den Schwänen erwies, von den beiden jungen Prinzessinnen, den Töchtern des Erbgroßherzogs, beobachtet wurde. Später erfuhr ich es von ihrer Oberhofmeisterin.

Noch ehe ich ein Tagebuch zu führen begann, wurde eine Reihe der angenehmsten Feste gefeiert: Privatbälle, Vereinsbälle, Schloßbälle, Schlittenfahrten unter dem Schutze des Großherzogs und der Leitung des Oberforstmeisters von Fritsch. Ich will als Probe die Schilderung einer solchen Schlittenfahrt hier folgen lassen. Es war üblich, daß jeder Herr, welcher dem Hofkreise angehörte, eine Dame seiner Wahl zur Schlittenfahrt einlud. Zu einer bestimmten Zeit – gewöhnlich eine Stunde vor Einbruch der Nacht – versammelten sich die Schlitten im Schloßhofe. In der Mitte befand sich ein doppelter Schlitten mit Musikanten. Fackeln wurden bereit gehalten und angezündet, sobald es dunkel wurde. Auf den Ruf des Jägerhorns fuhr der Zug nach dem großherzoglichen Schloß Ettersburg im Ettersburger Walde, doch nicht ohne zum Vergnügen der Bürger zunächst durch die Hauptstraßen der Residenzstadt zu fahren. Nun wurde es Nacht, und nachdem wir unsere lieblichen Gefährtinnen noch einmal fest eingehüllt hatten, daß kaum ihre Augen durch die wohlbeschützenden Pelze sichtbar waren, wurde mit Begleitung der Musik und beim Klange der tausend Schellen im Schimmer der Fackeln nach Ettersburg – ungefähr zwei Stunden von Weimar – Trab gefahren. Dort fanden wir Alles für unsere Ankunft auf das Beste vorbereitet. Alles war fröhlich und voll Ungeduld. Kaum waren die Damen von ihren Pelzen befreit, als schon ein Walzer befohlen wurde, um das Blut wieder in Wallung zu bringen. Dieser Tanz nebst einer Tasse heißen Kaffees hatte auf die jugendlichen Glieder die vollständigste Wirkung, und mit allerlei Tänzen: Polonaisen, Quadrillen, Galoppaden, Mazurkas, Scotch reels, Jeux innocents und mit einem Abendessen à la Lucullus wurde eine lustige Nacht durchlebt.

Anlangend die Jeux innocents wurde, da ich der Einzige war, welcher in Paris (der hervorragenden Fachschule für dergleichen Spiele) gelebt hatte, anerkannt, daß ich es in solchen Spielen weiter als irgend Jemand in der Gesellschaft gebracht hatte. Unter den Damen schien auch keine einzige von der Art der berühmten französischen Gräfin von *** zu sein, welche sich einmal weigerte, mitzuspielen, mit der classischen Bemerkung: „Je n’aime pas les plaisirs innocents.“ (Ich liebe nicht die unschuldigen Vergnügungen.) So wurde denn an mich appellirt, und ich schlug das Spiel „Cache-Tampon“ vor, was allgemeine Zustimmung fand. Ein dickes Taschentuch wurde zu einer Art Knute geknüpft, ein Platz zum Zufluchtsorte bestimmt, und Einer von der Gesellschaft ging durch die Irrgänge des Schlosses, um den Tampon zu verstecken, kam zurück und verkündigte „Fertig!“ Nun brach die ganze Gesellschaft auf, den Tampon zu suchen, und der Verstecker hatte von Zeit zu Zeit mit den Worten „Heiß!“ oder „Kalt!“ die Annäherung oder Entfernung vom Verstecke anzudeuten. Das erste Mal war ich selbst der glückliche Finder. Jetzt begann eine allgemeine Flucht, ein wahres „Rette sich, wer kann!“; wäre der Geist eines vormaligen Bewohners des Schlosses plötzlich erschienen, die ganze Schaar hätte nicht schneller davon eilen können. Viele verirrten sich bei der Verwirrung. Auch Herzog Bernhard war dabei, und da er ein ungewöhnlich schöner Mann mit einladenden breiten Schultern war, wählte ich, von den Regeln des Spiels Gebrauch machend, ihn mir zum Opfer aus und handhabte den Tampon, bis der Herzog im Bezirke der Zufluchtsschranken angelangt war. Alle waren darüber sehr belustigt, der Prinz nicht weniger als die Anderen, und damit kein Mißverständniß darüber entstehen möchte, erhob sich der Prinz beim Abendessen und brachte in Champagner einen Toast auf das Andenken eines meiner verstorbenen Verwandten, des Dechanten Swift aus, dessen drollige und witzige Schriften in Deutschland besonders bekannt sind. Nach vielerlei Trinksprüchen, namentlich auf die Glieder der großherzoglichen Familie, verließen wir die Tafel, um das Tanzen wieder fortzusetzen, welches denn auch in echt deutschem Stile bis vier Uhr früh andauerte. Dann hüllten wir unsere kostbaren Pfänder wieder in ihre Pelze ein, erreichten Weimar beim Sonnenaufgange und setzten mit vielen Grüßen unsere Gefährtinnen an ihrer Schwelle ab. Auf solche Weise währten die Feste den Winter hindurch fort, nur mit soviel Pause, wie zum Athemholen nöthig war.

Einmal wurde ein Ball zur Ehre des Herzogs von Clarence gegeben, welcher ein Gast des Großherzogs war. Alle gegenwärtigen Engländer wurden ihm vorgestellt. Bei der Gelegenheit ereignete sich ein sehr komischer Vorfall. Es waren mehrere Schotten auf dem Balle, und der Großherzog äußerte den Wunsch, daß ein schottischer Reel, als eine Neuigkeit, getanzt werden möchte. Es verbreitete sich, ich weiß nicht woher, das Gerücht, daß einer von den Tänzern ein künstliches, äußerst sinnreich gefertigtes Bein habe. Das Gerücht erreichte das Ohr des Großherzogs Karl August, der sich sogleich mit der Großherzogin neben den Tänzer stellte und mit Bewunderung dessen Tanz mit dem künstlichen Fuße beobachtete. Als der Tanz geendet, redete er den Herrn S–r an und bat denselben, ihn über den Mechanismus und den Namen des Erfinders zu unterrichten. Herr S–r konnte ihn natürlich nicht unterbrechen, aber sobald er geendigt hatte, versicherte Herr S–r, welcher über jenes Gerücht nicht weniger erstaunt war, als der Großherzog über die Ausführung, daß er sich glücklich schätze, Seiner Hoheit beide Beine in vollkommen natürlichem Zustande zu Diensten stellen zu können.

Die Gastfreundschaft, welche vom Hofe geübt wurde, war unbeschränkt. Große Tafel im kostbarsten Style, Concerte, Bälle etc. fanden wöchentlich wenigstens einmal statt.

Während meines Aufenthaltes, welcher weit in das zweite Jahr hinein reichte, kamen die Prinzen Wilhelm – der jetzige deutsche Kaiser – und Karl von Preußen nach Weimar. Sie wurden wahrscheinlich durch den Ruf der Schönheit, der Anmuth und Liebenswürdigkeit der Prinzessinnen angezogen. Es schien, als ob die Festlichkeiten nun erst recht angefangen hätten. Bald verlautete, daß die eine, später, daß auch die andere Prinzessin mit einem der beiden preußischen Prinzen verlobt sei. Eine solche Zeit des Jubels war, glaube ich, in Weimar vorher nie erlebt worden. Nach unendlichen, unvergeßlichen Festlichkeiten kam der Tag der Trennung der Prinzessin Marie, der Braut des Prinzen Karl, von ihrem Geburtsorte, wo sie von ihrer Kindheit an bis zur ersten Jungfrauenblüthe gelebt hatte. Ich kann den Tag nie vergessen. Der Abschied war rührend. Derselbe Gedanke erfüllte jede Brust; dasselbe Gefühl strömte durch alle Herzen. Nach dem Lebewohl im Schlosse wand sich der Zug langsam durch die Stadt, dem Thore zu. Jeder Platz, jedes Fenster war mit Personen besetzt, auf deren Antlitz sich achtungsvolle Zuneigung abspiegelte.

Eine Anzahl junger Mädchen, weiß geschmückt, mit Sträußen in der Hand, trat der Prinzessin an einem der Triumphbogen entgegen, um ihr ein letztes Lebewohl zu sagen. Mit jener anmuthigen Herablassung, die in ihrem Wesen lag, ersuchte die Prinzessin diese lieblichen Volksvertreterinnen, der Reihe nach in den Wagen zu steigen und sich von ihr umarmen zu lassen, indem

  1. Der Verfasser scheint hier die dem Schlosse nahe Ilm im Sinn zu haben.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_240.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)