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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Das ist die Oberflächenfischerei mit dem feinen Netze, die zuerst von dem unvergeßlichen Johannes Müller, dem großen Berliner Anatomen, geübt wurde. Ein Anderer wirft einen ebenfalls mit seinem Netze versehenen Metallrahmen aus, der auf einer Seite beschwert, auf der entgegengesetzten durch Korkstücke leicht gemacht ist und an den vier Ecken durch Schnüre festgehalten wird. Der Rahmen stellt sich unter dem Einflusse der Schiffsbewegung senkrecht in das Wasser, und es hält leicht, ihn durch angemessene Beschwerung in bestimmter Tiefe unter der Oberfläche zu erhalten. Von Zeit zu Zeit wird er, wie das feine Handnetz, in ein Glasgefäß umgestülpt, das nun von unzähligen schwimmenden Bestien wimmelt, die meist vollkommen durchsichtig wie Glas und oft nur von mikroskopischer Größe sind. Man fischt sie zu Hause mittelst einer Glasröhre heraus, indem man dieselbe oben mit dem Finger schließt; dann nähert man das andere Ende dem Thierchen, das man fangen will, und hebt im geeigneten Momente den Finger. Das Wasser stürzt in die Röhre hinein; der Wirbelstrom reißt das Thierchen mit, und wenn es glücklich in die Röhre gelangt ist, schließt man dieselbe auf’s Neue mit dem Finger und hebt so den Fang heraus. Der geübte Forscher läßt sich leicht an der Sicherheit erkennen, mit welcher er diese einfache Manipulation ausübt, welche das Thierchen unverletzt in die Glasröhre und aus dieser in ein Uhrgläschen bringt, in welchem es unter dem Mikroskope betrachtet werden kann.

Das Boot ist hinausgelangt über die Klippenreihe in das offene Meer. „Hier ist grober Sandgrund in fünfzehn bis zwanzig Faden Tiefe,“ sagt Yves, „sollen wir die Dretsche auswerfen?“ Ein schwerer Metallrahmen, an der breiten Seite etwas zugeschärft, mit starkem Netzsacke, der am Grunde feiner wird, rasselt in die Tiefe – Wind und Strom schleppen ihn über den Boden hin. Die Kraft der drei Männer genügt kaum, das Netz aufzuziehen, das, von Sand und Grand gefüllt, emporgehoben und auf den Boden oder in einen großen Kübel geleert wird. Alle hocken darum herum und lesen aus; es krabbelt und kraucht in dem Sande – Krebse, Krabben, Würmer, Muscheln, See-Igel liegen bunt durcheinander. Das Ausgelesene wird hinausgeschaufelt und ein neuer Wurf versucht.

Aber unterdessen haben Wind und Strom das Boot abgetrieben auf felsigen Grund. Hier leistet die Dretsche nichts; hier kommt das Korallenkreuz an die Reihe.

Ich habe es früher schon in diesen Blättern ausführlicher beschrieben; es besteht aus zwei kreuzweis gelegten kurzen Balken, unter denen in dem Kreuzungspunkte ein schwerer Stein befestigt ist und an welchen zerfaserte Netze, Seilreste, Schnüre und Fäden hängen, die sich im Wasser ausbreiten, wie das Haar des Struwwelpeters. Dieses Gewirre wird nun auf dem Boden hingeschleift, und es ist wirklich unglaublich, welche Massen von Thieren daran hängen bleiben. Große See-Igel von gelber oder röthlicher Farbe, groß wie ein Kindskopf, sind die gewöhnliche Beute – Muscheln, Schnecken, Moosthiere (Bryozoen), Würmer, Krabben, Seesterne, Schlangensterne, die in höheren Regionen nicht vorkommen, müssen sorgsam aus dem Werge hervorgesucht werden. Hier findet sich namentlich eine Lochmuschel (Terebratula), die man lange lebend erhalten kann, während die übrigen Thiere aus der Tiefe sehr bald in den Aquarien zu Grunde gehen, weil ihnen, wie es scheint, der nöthige Druck mangelt.

Doch wir müssen mit den Jagdgründen selbst etwas nähere Bekanntschaft machen, wozu das Kärtchen und die verschiedenen Ansichten derselben dienen sollen. In weitem Halbkreise spannen sie sich um Roscoff als Mittelpunkt, sodaß man westliche, nördliche und östliche Gründe unterscheiden kann, deren jeder seine specielle Fauna hat. Darin gerade liegt der Vortheil eines Laboratoriums, daß der Director, die Assistenten und Matrosen sogleich angeben können, wo dieses oder jenes Thier, das man sammeln oder untersuchen möchte, am leichtesten und in größter Menge zu finden ist.

„Marti,“ sage ich bei einer Excursion, „ich muß eine Terebratel haben – sie ist mir noch nicht lebend zu Gesicht gekommen.“

Marti sucht in einem Notizenbuche.

„Am Kreuzungspunkte zweier Linien,“ sagt er, „die eine über Duslén und die Westspitze der grünen Insel, der Thurm von Roscoff links und der Wolf (le Loup) rechts, die andere über die Ostspitze von Ti-Saoson und Bloscon, haben wir letztes Jahr manche gedretscht.“

„Ich weiß,“ sagt Yves, „wollen wir hin?“

In einer Viertelstunde sind wir dort. Eine halbe Stunde später habe ich die Terebratel in meinem Glase. Ich hätte vielleicht ohne diese Angabe wochenlang umher irren können, bevor ich den Standort der Muschel gefunden.

Der westliche Jagdgrund (Fig. 1) ist ein unübersehbares Klippenmeer. Eine schmale Landzunge von phantastischer Form, Per’haridi genannt, streckt sich zwischen zwei tiefen Buchten gegen Norden der Insel Batz entgegen und trägt auf ihrem äußersten Ende ein kleines Fort ohne Besatzung, in welchem einige Kanonen an der Erde auf Laffetten harren, die sie niemals bekommen werden. Die westliche Bucht, etwa zwei Kilometer breit und drei Kilometer tief, welche diese Zunge von Roscoff trennt, deckt sich schon bei niedriger Ebbe gänzlich ab; an ihrem Rande sind die Badehütten aufgeschlagen; aus ihrem feinen Sandgrunde, der Würmer und Seewalzen (Synapta) in Menge birgt, ragen nur wenige Felsen hervor. Um so mehr starren seltsame Klippen um die Spitze der Landzunge und auf ihrer westlichen Seite, in der weiten Bucht von Poulduc. Genau im Norden des Forts von Per’haridi ragt ein in der Mitte gespaltener Felsen wie ein gegen den Himmel geöffneter Rachen aus den Strudeln hervor, der seinen Namen, der Wolf (le Loup), mit Recht trägt. Er dient den Schiffern als Wahrzeichen und ist durch Thürme und roth angemalte Felsen linienartig mit anderen Zeichen in Verbindung gesetzt. Vor ihm dehnt sich eine Sandbank mit über einander gethürmten Granitblöcken, die Rolléa de Batz.

Die Felsen bilden grottenartig ausgehöhlte Zwischenräume, die überdeckt sind mit Seescheiden (Ascidien), welche in den wunderbarsten Farben prangen, dunkelroth, grün, schwefelgelb, stahlblau, orangefarbig, dazwischen blendend weiße Kalkschwämme (Sycon) oder durchsichtige Keulenscheiden (Clavellina). Die Tange sind überreich besetzt mit Polypen, Moosthieren und kleinen Röhrenwürmern, aber zwischen ihnen hat sich auch leider die verrätherischste aller Meerpflanzen angesiedelt, die Himanthalia, von den Fischern „das Netz“ genannt. Aus einem dunkelgrünen, becherartigen Gebilde entspringt ein langer gelber Faden von der Dicke eines Federkieles, der bis zwanzig und mehr Fuß lang wird. Alle diese Fäden, welche wahre Teppiche im Wasser und auf den von der Tiefebene entblößten Felsen bilden, sind von einem schleimigen, schlüpfrigen Stoffe überzogen. Kein Parquet kann so glatt sein wie diese Massen – wer einmal mit ihnen bekannt geworden ist, meidet sie wie Feuer. Nirgends ein Halt für den Fuß; man gleitet, stürzt, findet keinen Stützpunkt zum Aufstehen; schon manches Glasgefäß ist hier zerbrochen worden im Sturze, und in jedem Momente hört man einen Angstruf der Ausgleitenden. Um so reicher aber fällt auch die Beute aus, die man nach überstandener Mühe nach Hause bringt.

Nicht minder ergiebig sind die Lachen, welche in dem Felsengewirre auf der Westseite von Per’haridi bei dem Rückzuge der Ebbe stehen bleiben. Dort haust auf der Unterseite sonst völlig nackter Steinblöcke eine der merkwürdigsten Polypenformen, Myriothela von ihrem Entdecker Allman genannt. Mit einer gelblichen Wurzel ist das Thierchen angeheftet, das aus einem walzenförmigen, warzigen, violettbraunen Mundschlauche besteht, der nach der Wurzel zu in einen weißen, dünnen Stamm übergeht, welcher mit weißen Kügelchen besetzt ist. Auf dem umgewälzten Steine sieht man nur einen bräunlichen Schleimtropfen von der Größe einer Linse oder kleinen Erbse; hat man das Ding mit Vorsicht abgelöst und in ein Glas gebracht, so dehnt es sich bis zu zwei Centimeter Länge aus und kriecht langsam, mit dem Munde voran tastend, umher. Die höchst seltsame Entwickelungsgeschichte des Thieres beschäftigt einige jüngere Forscher, die bei jeder größeren Ebbe hinausrennen, um Material für ihre Beobachtungen zu sammeln, denn nur hier findet sich die Myriothela in größeren Mengen; sie glauben neue Entdeckungen gemacht zu haben und träumen von Ehren, die ihnen ihrer Ansicht nach unzweifelhaft werden zu Theil werden; in Paris angekommen, finden sie beim Nachschlagen in den Bibliotheken, daß der Entdecker schon dasselbe gesehen und ihnen das Neue vor der Nase weggeschnappt hat. Unmittelbar neben dem Blockfelde, wo die Myriothela haust, findet sich ein Sandgrund, von Seegras überwachsen; ein feines, spitzenartiges Gewebe überspinnt den Boden und umhüllt die Stiele des Seegrases; es ist ein niedlicher, in Baumform verästelter Kalkschwamm,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_268.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)