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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Silberloch“ (Trou d’argent). Dort hausen die Seeohren (Haliotis), die für die Feinschmecker von Roscoff das Höchste sind, was die See an Wohlgeschmack bieten kann; dort schlängelt sich im Grobsande ein feiner Wurm, einem haardünnen Regenwurme ähnlich, der einen eigenthümlichen Typus unter den Würmern darstellt und dessen Larven eine seltsame Metamorphose durchmachen, der Polygordius Villoti; dort laichen große Nacktschnecken (Doris), und zuweilen selbst der nordische Seewolf oder Lump (Anarrhichas lumpus), ein seltener Gast im Meere vom Roscoff.

Zwischen dem Riffe von Pighet, das stets aus den Wellen hervorragt und mit einem weißen Thurme gekrönt ist, und einem Felsengrate, der bei jeder Fluth sich überdeckt, aber einen schwarzen Thurm mit weißer Kappe trägt, geht die Einfahrt in den Hafen, der bei Ebbe stets trocken gelegt wird. Dem weißkappigen Schwarzthurme haben wir den Namen „Dupanloup“ beigelegt. Er zeigt ebenso sicher den Weg nach dem Hafen wie sein streitbarer Patron denjenigen zum Paradiese und zu Abraham’s Schooße. Wir gehen nur selten nach dieser Gegend; der Hafenschlamm, die Auswürfe der Schiffe wirken nicht günstig auf die Bevölkerung des Meeres zurück. Ueberhaupt ist diese weit delicater, als man gewöhnlich glaubt. Früher sammelte man auf der Nordseite von Ti-Saoson häufig eine besondere Art von Seescheiden, seitdem aber vor zwei Jahren ein großes österreichisches Dampfschiff, mit Gerste beladen, dort scheiterte und seine faulende Ladung auf dem Felsboden ausstreute, sind die Seescheiden dort fast spurlos verschwunden.

Nach Osten hin wird das Arbeitsfeld durch eine weit vorspringende Felszunge begrenzt, die auf ihrer äußersten Spitze ein Fort, Bloscon, und auf einem vorragenden Hügel eine der heiligen Barbara gewidmete Capelle trägt, die auch als Schifferzeichen dient. Auf der östlichen Seite dieser Landzunge ragen wilde Felsthürme hervor – der höchste derselben, Roquille l’Evêque, ist mit einem häßlichen Pavillon gekrönt. Dort pflegen sich die Landschaftsmaler Stoff zu Studien zu holen, denn wunderbar ist von dort aus die Aussicht über den weiten Eingang der Bucht von Saint-Pol de Léon gegen das Château du taureau, auf dem Blanqui lange Jahre als Staatsgefangener saß und das mit seinen Kanonen die Einfahrt des Flusses von Morlaix beherrscht, sowie gegen die liebliche, reich mit blinkenden Landhäusern besetzte Hügelkette, welche das östliche Ufer des Flusses bildet. Die Bucht von Saint-Pol birgt die werthvollsten und seltensten Sandbewohner; dorthin ziehen die Naturforscher, wenn sie einen fußlangen, gelben, fingerdicken Röhrenwurm, Myxicola parasitica, sich verschaffen wollen, der sich eine gallertartige, durchsichtige Röhre mit seinen Ausschwitzungen baut, aus welcher er einen braunrothen Spitzenschirm herausstreckt, zierlich gefaltet, wie der Papierfilter eines Chemikers. Zu den Füßen von Sainte Barbe aber, zwischen der Capelle und dem Fort Bloscon, ist eine kleine, tiefe Bucht durch eine Quermauer abgeschlossen und zu einem Hummerteiche umgeschaffen worden. Tausende von Hummern und Langusten kriechen dort auf dem Boden umher oder hängen, wie gigantische Trauben, an den Pfosten, welche die Gerüste und Floße tragen. Täglich kommen die Fischer und laden ihren Fang gegen bestimmte Preise ab; den streitbaren Hummern schneidet man an der Scheere die Muskeln des Daumens durch, so daß sie nicht mehr kneipen können; die friedfertigeren Langusten, die sich auch leichter an den Menschen gewöhnen, wirft man ohne Beeinträchtigung in das Wasser. Von Zeit zu Zeit erscheint ein schlanker, belgischer Kutter und nimmt eine Ladung der kostbaren Krustenthiere ein, um sie nach Ostende und nach holländischen Küstenorten zu bringen. Aber nicht bloß Hummern und Langusten gehen die Naturforscher zuweilen dorthin nach, auch das Futter, welches man den gefräßigen Krebsen bietet, bildet einen Anziehungspunkt.

Draußen im tieferen Meere sind selbst größere Rochen, sowie kleinere Haifische keine Seltenheit. Große Haifische von sechs und mehr Fuß Länge werden nur höchst selten gefangen, aber die kleineren Dornhaie (Acanthias), Hundshaie (Scyllium) und Rochen verschiedener Art kommen den Fischern häufiger in die Netze, als ihnen lieb ist, denn sie fressen gern die schon gefangenen Schell- und Stockfische von den Angeln ab, wobei sie natürlich den Haken selbst mit hinunterwürgen. Das ist denn ein großer Verlust für die armen Leute – die Rochen können sie noch verkaufen, wenn auch zu Spottpreisen, die Haie aber mag selbst der ärmste Bettler nicht, und früher warf man sie mit einem tödtlichen Schlage auf den Kopf und mit einem tüchtigen Fluche hinterdrein in das Meer zurück. Durch den Hummerpark wird wenigstens eine kleine Entschädigung geboten. Die Krebsthiere bilden die Sanitätspolizei des Meeres; sie haben, wie die Geier der südlichen Continente, die Aufgabe, Aeser und Leichen, sowie unbehülfliche Kranke aus der Welt zu schaffen, und entledigen sich dieser Aufgabe mit um so größerem Erfolge, als sie den faulenden thierischen Stoff in ein schmackhaftes und leckeres Fleisch umwandeln. So füttert denn der Besitzer des Hummerparks seine Pfleglinge mit todten Haifischen. Die Fischer bringen zuweilen hundert Stück an einem Morgen. Man nimmt die Leber heraus, um einen übel riechenden, aber für Lederwaaren vortrefflichen Thran daraus zu sieden, und wirft den Körper den Krebsen in das Wasser. Es ist ein seltsames Schauspiel, die blau und gelb getigerten Hummern mit ihren großen Scheeren, die gelben Langusten mit den langen Fühlhörnern über diese todten Haie herfallen zu sehen. Der Naturforscher aber sputet sich, den Krebsen zuvorzukommen. Er findet auf den Haien seltene, schmarotzende Krustenthiere, die sich an den Augen, den Flossen, den Kiemen festhaken und Blut saugen, oder selbst tief in das Fleisch sich einbohren, und die meisten Weibchen tragen Junge. Ich habe keinen weiblichen Dornhai geöffnet, der nicht drei bis vier Junge in seinen Eileitern gehabt hätte. Semper in Würzburg hat durch seine Arbeiten über die Nieren der Haifische und die an denselben sichtbaren Oeffnungen von eigenthümlichen Segmentalorganen, welche sonst nur bei Würmern vorkommen, der Untersuchung ein neues Feld geöffnet, durch welche ein meines Erachtens besserer Einblick in die Stammesverwandtschaft der Wirbelthiere gewonnen werden kann, als durch den vertrackten Amphioxus, den Haeckel mit so viel Vorliebe den Ehrwürdigen nennt. Jetzt werden Haifisch-Embryonen ebenso emsig studirt werden, wie bisher die Eier der Seescheiden, die man nach dem Vorgange Kowalewski’s in der neuesten Zeit als Ahnen der Wirbelthiere betrachtet hat. Ringelwurm oder Seescheide – hie Welf, hie Waiblingen! Aber wie die Entscheidung auch fallen mag, so scheint mir der Stammbaum immerhin von einem höheren Punkte auszugehen, als wenn man ihn von dem bekannten, künstlerisch modellirten Erdenkloß ableitet, dem ein lebendiger Odem in die Nase geblasen wurde. Sonderbar erscheint es aber auch in dem Falle, wo man sich gegen Kowalewski und Haeckel für Semper entscheiden wollte, daß gerade die Haifische und Rochen, diese räuberischen Bestien, das Meiste von der Organisation der Ahnen zurückbehalten haben sollen.

Doch zurück zu Roscoff. In dem mehr fashionabelen Westend des Städtchens, gegenüber der Kirche und fast neben dem einzigen Gasthause, erhebt sich das Laboratorium für experimentelle Zoologie, an dessen Spitze als Director Professor de Lacaze-Duthiers steht. Ein für Roscoff ungemein stattliches Haus mit fünf Fenstern in der Fronte, drei Stockwerke hoch, mit geräumigen Mansarden, alle Zimmer zum Wohnen und Arbeiten zugleich eingerichtet. In jedem Zimmer zwei Betten, zwei Arbeitstische, zwei Arbeitskisten mit allem nur erdenklichen Material, vom Feuereimer und Wasserkübel bis zum Mikroskope und den Briefcouverts. Geht man durch den Hausgang, so betritt man einen kleinen Garten, dessen Hintergrund von einem hohen, hellgefensterten Schuppen eingenommen ist. Das Meer braust unmittelbar an die Grundmauer an, auf welcher der Schuppen ruht – von seinen Hinterfenstern aus hat man die weiteste Aussicht über das nördliche Arbeitsfeld, denn die beiden Bourguignons liegen unmittelbar gegenüber; von dem kleinen Garten aus gelangt man durch ein treppenartiges Gäßchen auf den Strand, der sich bei der Ebbe abdeckt. Dort sind zwei große Reservoirs aufgemauert, deren jedes acht bis zehn Cubikmeter Wasser enthalten kann. Sie werden täglich bei Fluth durch eine Röhre, welche eine Strecke vom Ufer weg auf dem Boden fortgeleitet ist, mit frischem Seewasser vollgepumpt und speisen vier große Aquarien, welche an den Seitenwänden des Schuppens so vor den Fenstern eingemauert sind, daß das Licht durch sie hindurch fällt.

Die Leitungen speisen noch eine Menge kleinerer Aquarien, die auf schwarz angestrichenen Tischen aufgestellt sind und welchen das Seewasser durch Kautschukröhren zugeführt wird.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_292.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)