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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Daß man unmittelbar aus den Behältern, mittelst Krahnen, Seewasser entnehmen kann, versteht sich von selbst. Hier concentrirt sich nun der wissenschaftliche Zufluß, die Gesammtarbeit – hier werden, meist nach dem Frühstücke, bei einer Cigarre die Excursionen verabredet.

„Morgen ist große Ebbe – sie muß benutzt werden. Was haben die Herren vor?“

„Ich gehe nach Per’haridi,“ ruft der Eine.

„Brauchen Sie Hülfe?“

„Nein.“

„Gut, und Sie?“

„Ich möchte nach Rolléa und dem Loup.“

„Francis wird mit dem Plattschiff, der ‚Molgula‘, Rolléa gegenüber, um neun Uhr am Strande sein, um Sie hinüber zu führen.“

„Wir wollen nach Saint Pol.“

„Zu Schiffe?“

„Nein, im Wagen. Wir fahren bis an den Strand und gehen dann der Ebbe nach.“

„Marti und Yves können mitfahren und graben helfen. Schauen Sie tüchtig nach Chaetopterus aus – er ist selten. Myxicolen werden Sie schon finden, wenn Sie die richtige Stelle finden. Marti und Yves wissen Bescheid.“

So flattert es nach allen Seiten hinaus, die Einen dorthin, die Andern dahin, je nach Bedürfniß. Mit der Fluth kehren sie wieder, und nun geht es an das Auspacken aus den Gläsern und Kübeln, an das Sortiren und Uebertragen in die Aquarien und die speciellen Gefäße, die Jeder sich herrichtet. Keiner darf des Andern Gefäße ohne besondere Erlaubniß anrühren. Jeder wählt sich ein Thema seines Studiums aus, und Allen geht Lacaze hülfreich zur Hand, um ihnen das nöthige Material zu verschaffen und, wenn sie es bedürfen, mit Rath und Anleitung zur Seite zu stehen. Die jungen Leute, welche dort arbeiten, finden freies Logis, und oft sogar zahlt ihnen das Laboratorium die Reise von Paris nach Roscoff und zurück.

Wer mir vor dreißig Jahren, als ich zum ersten Mal an die See ging, von solchen Bequemlichkeiten gesprochen hätte, wäre mir wohl als ein Träumer erschienen. Nun aber sind sie geschaffen, nicht nur hier, sondern auch anderwärts, und noch großartiger ohne Zweifel in Neapel durch meinen jüngeren Freund Anton Dohrn. Ich kann mir wohl einigen Antheil an diesen Schöpfungen zoologischer Observatorien zuschreiben, denn lange Jahre hindurch habe ich mich fast heiser danach geschrieen. Franzosen, Engländer und Amerikaner sind auf dem Wege nachgefolgt, dessen Bahn Dohrn mit großen persönlichen Opfern gebrochen hat. Mögen Diejenigen, welche Interesse für Studien dieser Art hegen, nicht vergessen, daß die Wissenschaft solcher Hülfsmittel bedarf und daß ein internationales Institut, wie das Dohrn’sche, der materiellen Beihülfe nicht entbehren kann. Ja, ich halte es sogar für eine Ehrenpflicht des deutschen Reiches, die Anstalt in Neapel so zu unterstützen und auszustatten, daß sie den anderen als Musteranstalt vorleuchte, ganz so, wie auch die deutschen chemischen Laboratorien Muster geworden sind für die ganze Welt.

Fragt man mich aber, warum ich Roscoff zum Studienort gewählt habe und nicht Neapel, so ist meine Antwort einfach. Meine Ferien fallen in die heißeste Zeit des Jahres, Juli bis September. In diesen Monaten lauert in Neapel das Fieber, und die Hitze wirkt abspannend und lähmend, Roscoff aber erfreut sich dann einer gleichmäßigen Temperatur, eher frisch als warm, und es lohnt sich kaum, Sommerkleider dorthin zu bringen. So findet dann meine Familie dort die Sommerfrische, welche sie früher auf den Bergen suchte, und außer Erholung und frischer Luft spendet uns das Meer die Schätze seiner Fluthen in nicht minder reicher, wenn auch verschiedener Fülle, als an den südlichen Gestaden. Der freilich könnte sich glücklich preisen, dem ein gütiges Geschick neben genügenden Mitteln Freiheit genug beschieden hätte, um den Winter in Neapel, den Sommer in Roscoff zuzubringen – aber Diejenigen, welche das können, haben meist kein Interesse an den Studien, welchen wir obliegen, und Diejenigen, welche gern möchten …. weshalb murren gegen Dinge, die man nicht ändern kann?




Blätter und Blüthen.


Ein Kammerwagen der Kornkammer. (Mit Abbildung auf S. 291.) Wer die höchste Höhe des zwischen Rhön und Taunus gelagerten Vogelsbergs in Oberhessen, den fast drittehalbtausend Fuß hohen Taufstein erstiegen hat, steht wie im Mittelpunkte eines Bergsterns, von welchem die Thäler nach allen Himmelsrichtungen hin als Strahlen auslaufen. Von den Thälern, die nach Norden laufen, schmückt eines ein lustiger Bach, der bald zu dem Flüßchen Schwalm anwächst; dasselbe verleiht einer Landschaft, die als „die hessische Kornkammer“ gerühmt wird, den Namen des Schwälmergrundes. Es ist eine wunderliche Welt! Wo die Schwalm herkommt, auf dem Vogelsberge, herrscht oft die bitterste Noth und ist Jahr aus Jahr ein Herr Schmalhans Küchenmeister, während dem Wasser in seinem Laufe bis zur Eder das Glück blüht, daß viel frohe, gesättigte, wohlhäbige Gesichter sich in ihm spiegeln. Die Landwirthschaft geht hier nicht mit Ziegen auf die Weide, sondern behandelt ihren goldenen Boden in großem Stile. Ueberall, wo dies der Fall ist, führt das wohlbegründete Selbstbewußtsein die Bauern auch zu festerem Halten an alten Sitten, Gebräuchen und liebgewordenen Gewohnheiten. Die Schwälmer zeichnen gerade darin sich vor ihren Nachbarn aus. Das wird Jeder finden, der im Lande reist, besonders aber Derjenige, welcher die Ankunft eines Braut- und Kammerwagens zu sehen bekommt.

Es war in einem der freundlichen Dörfer des Schwalmer Grundes, wie unser treffliches Bild bezeugt, wo ich vor einem stattlichen, mit Reben bewachsenen Hause verschiedene Gruppen harrender Leute erblickte. Natürlich blieb ich dort ebenfalls stehen und fragte, was hier los sei. Da sofort ein Dutzend Weiberzungen zugleich die erbetene Auskunft gaben, so dauerte es einige Zeit, bis ich mich durch den Wortschwall und die Schwälmer Mundart zu einigem Verständniß der Angelegenheit hindurchgearbeitet hatte. Man zeigte mir unter dem Vordach der Hausthür ein altes Ehepaar, beide im Feststaat, denn der Alte hatte den langen Sonntagsrock und sie die standesgemäßen zwölf Röcke übereinander an, auf dem Haupte die eigenthümliche Haubenmütze, die den Cereviskäppchen unserer Studenten nicht sehr unähnlich ist, aber an breiten Bändern gehalten auf dem Kopfe fest sitzt. Die beregten Weiberröcke sind sehr kurz, aber dafür trägt man deren mehrere, je nach den Vermögensumständen, so daß eine rechte Bauernfrau, wie eben gemeldet, bis zur Ehrenlast von zwölf Röcken hinaufsteigen kann. Diese beiden Alten hatten ihren Hof (das ist die hierländische Bezeichnung für das gesammte Bauerngut) an ihren ältesten Sohn abgetreten, um sich in den Ruhestand zu setzen, und heute wurde der Einzug der jungen Frau desselben gefeiert. Das ist ein hoher Familienfesttag, den man überall recht theilnehmend mitbegehen kann. Es ist so viel von den alten, zum Theil recht schönen und sinnreichen Sitten und Gebräuchen der Volkshochzeiten verloren gegangen, daß man sich freut, hie und da noch einem wohlbewahrten Stücke derselben zu begegnen.

Da kommen sie. Der Kinderjubel verkündet sie schon aus der Ferne. Zwei Wagen fahren daher, ein leichter Rollwagen, der das junge Ehepaar, und ein schwerer Leiterwagen, der die Ausstattung trägt. Am ersten, dem „Brautwagen“, kann man sich nicht satt sehen, so reich ist er mit Blumen und Laubgewinden geschmückt, eine Sitte, die Braut heimzuführen, die man sich nicht schöner denken kann. Sobald der Wagen hielt, kam der alte Vater die hohe steinerne Haustreppe herab und reichte seiner Schwiegertochter zum Willkommen ein Glas echten alten Kornbranntweins dar. Sie nahm es, trank es herzhaft aus und warf es, dem Gebrauche getreu, so an den Wagen, daß es zerbrach. Hierauf führte der Vater die neue Tochter der alten Mutter zu, die oben unterm Vordache vor der Hausthür geblieben war. Von dort sahen diese Drei allein den weiteren Vorgängen zu, denn nun war der Ausstattungswagen vorgefahren, welcher hier, aber auch in süddeutschen Gegenden, der Kammerwagen heißt. Diese Bezeichnung erklärt sich dadurch, daß ursprünglich auf diesem Wagen hauptsächlich Alles förmlich Parade zu machen hatte, was zur Ausstattung der ehelichen Schlafkammer gehört, und dies bestand ganz besonders in einem vollständigen Bette sammt Bettstelle und in einer grellbemalten und möglichst großen Lade (Kasten, Truhe) oder einem Schrank voll Wäsche. Diese Gegenstände galten und gelten vielfach noch heute auf dem Lande als Werthmesser der Mitgift und des elterlichen Haushalts der Braut und zogen vornehmlich die richtenden Augen der weiblichen Nachbarschaft auf sich. Auf der großen, buntfarbigen, die ganze Länge des Wagens einnehmenden Truhe thronten Wiege und Spinnrad (in Kartoffelklößländern fehlt neben beiden nie als Drittes im Bunde die Kartoffelpresse), und die Fußleiste der Lade entlang an der Vorderseite des Wagens glänzte das blanke Küchengeschirr. An den oberen Leiterstangen zu beiden Seiten des Wagens hing aber die Hauptsache: eine Reihe an sich gewöhnlicher, aus Weiden geflochtener Handkörbe, die jedoch reich vergoldet und bunt bemalt waren. Die Zahl derselben war allen Anwesenden von der größten Wichtigkeit, denn soviel Körbe, soviel mal tausend Gulden bringt die Braut als Aussteuer vom Vaterhause mit.

Man hatte den Zuschauern offenbar die nöthige Zeit gelassen, um Alles genau zu mustern im und am Wagen, von den aufgestapelten Tragkisten unter der Truhe bis hinauf zu den „geschappelten Jungfern“ bei den Betten und von den bändergeschmückten vier Pferden bis zu ihren beiden gleichfalls stattlich ausstaffirten Lenkern. Jetzt begann aber das Abpacken und zwar mit einem wichtigen Festacte, welcher die gespannteste Aufmerksamkeit aller Augen erregte. Der Bräutigam oder junge Ehemann hatte den Rock ausgezogen und trat an den Wagen, wo sich im gleichen Augenblicke die beiden „Geschappelten“ erhoben. So heißen diese Jungfrauen von ihrem Kopfputze, einem hohen Käppchen, von welchem wohl hundert bunte und goldgestickte Bänder vorn bis auf die Stirn und


Hierzu eine Beilage über Bock’s Buch. 11. Auflage.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_293.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)