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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

verfolgte die kleinen Mädchen, bis sie hinter der Hausecke verschwunden waren. „Wie gern ginge ich mit ihnen, um sie zu beruhigen, aber ich werde natürlich nicht um einen Schritt auf dem Terrain zurückgehen, das ich bereits für immer verlassen habe,“ sagte sie mit einem Gemisch von Schmerz und heftigem Zürnen.

„Beruhigen!“ antwortete der Doctor in persiflirendem Tone. „Möchten Sie mich nicht auch noch zum Unmenschen stempeln, wie ich vorhin als Schwächling bezeichnet wurde? – Trösten Sie sich – solch’ ein Kindergemüth trägt die Beruhigungsmittel in sich selber; Lachen und Weinen wohnen eng zusammen. Hören Sie, wie dort drüben bereits wieder gekichert wird?“ – Er zeigte mit einem flüchtig um seine Lippen spielenden Lächeln über die Schulter zurück. „Ich wette, das gilt mir und meiner Strenge. Ich habe um Ihretwillen die ausgelassene Schaar in die Schranken gewiesen – ich konnte das nicht sehen; wie mögen Sie es dulden, daß man Sie heftig attaquirt? Die Kinder sind schlecht erzogen –“

„Weil sie mich lieb haben? Gott sei Dank, daß es so ist! Ja, Gott sei Dank, daß ich wenigstens da noch glauben darf!“ rief sie, die festverschränkten Hände auf die Brust pressend. „Oder wollen Sie mich vielleicht auch angesichts dieser Zuneigung glauben machen, daß der Zärtlichkeitsbeweis einzig und allein meinem Geldschranke gelte? – Ach nein, auf dieser trostvollen Ueberzeugung stehe ich fest; da lasse ich mich nicht auch weghetzen – darauf verlassen Sie sich!“ Wie herzzerschneidend klang diese bittere Verwahrung von den jungen Lippen!

Er trat erstaunt zurück.

„Welche seltsame Idee –“

„Ach, ist es Ihnen wirklich so verwunderlich, daß ich endlich aufgerüttelt bin aus meiner mehr als kindischen Vertrauensseligkeit, die da gemeint hat, warmes Fühlen und braves, redliches Wollen gelten auch etwas in der Welt? Nicht wahr, es hat lange genug gedauert, bis der schwerfällige deutsche Michel in meiner Seele die Augen aufgeschlagen hat, um zu sehen, daß er sich unsterblich lächerlich mache mit seinen altmodischen Ansichten von gut und schlecht, von Wahrheit und Lüge?“ Sie wurde ganz blaß und schauerte in sich zusammen. „Es ist etwas Schreckliches um die plötzliche Erkenntniß, daß man eigentlich gar nicht mehr existirt als das, was man ach eingebildet hat zu sein, als ein junges Menschenkind mit der Berechtigung, dereinst auf seine Art glücklich zu werden.“

Er wandte schweigend die Augen von ihr weg, und sie fuhr nach einem tiefen Athemholen fort: „Sie haben mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, wie ich mein plötzliches Reichwerden auffasse; ich bin erst in diesem Augenblicke fähig, Ihnen darauf die richtige Antwort zu geben. Ich komme mir vor, wie verunglückt in diesem Geldmeere; es strecken wohl Viele die Hand aus, aber nicht, um mich meiner selbst wegen an sich zu ziehen, sondern nur, weil die Goldwogen mir folgen.“

Der Doctor fuhr wie entsetzt empor. „Um Gott, wie kommen Sie zu dieser grauenhaften Vorstellung?“

Sie lachte herzerschütternd auf. „Das fragen Sie noch? Zwingt man mich nicht täglich, stündlich, diese grauenhafte Vorstellung mit der Gottesluft zu athmen, mit jedem Tranke zu schlürfen? Da soll man mich in meinem lieben Dresdener Heim nur cajoliren, weil ich der ‚Goldfisch‘ bin; meine Lehrer nähren das schwache Fünkchen des musikalischen Talentes in mir nur um des reichen sicheren Honorars willen, das ich zahle, und der Vormund freit um die Mündel, weil er sie – am besten zu taxiren versteht.“

Sie hatte, indem sie vor sich hinsprach, den Blick ziellos über den Abendhimmel schweifen lassen; jetzt sah sie den Doctor an – er hatte eine Bewegung gemacht, als gehe ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. „Ist das bereits Thatsache?“ stammelte er und strich sich wiederholt über die Augen, wie wenn ihn ein Schwindel überkomme. „Und es macht Ihnen wohl tiefen Kummer, sich vorstellen zu müssen, daß auch Moritz so denke?“ setzte er nach einem augenblicklichen Schweigen gepreßt hinzu.

Betroffen horchte sie auf – seine Stimme klang so auffallend matt und gebrochen. „Mehr noch verletzt es mich, daß sich Jedes für berechtigt hält, in dieser Angelegenheit mitzusprechen,“ entgegnete sie, und ihre schöne, kraftvolle Gestalt majestätisch aufrichtend, stand sie da, die verkörperte Abwehr gegen fremde Anmaßung. Sie schüttelte den Kopf mit einem bitteren Spottlächeln. „Solch ein armer Goldfisch, wie muß er sich allen Ernstes wehren, wenn er nicht in den Händen der Egoisten zum erbärmlichen Spielball werden will, und ich will nicht – absolut nicht! Sehen Sie sich vor, Herr Doctor! Sie gehören auch zu denen, die meinen, ein verwaistes junges Mädchen müsse sich dirigiren lassen, wie der Vortheil, das Behagen Anderer sein Kommen und Gehen erheische. Hier verbannen Sie mich, und dort möchten Sie mir eine Kette um den Fuß legen, damit ich bleibe. Ich möchte wissen, was Sie zu dieser Willkür berechtigt, oder nein“ – ihre Lippen zuckten im Kampfe mit aufquellenden Thränen – „ich möchte mit Henriette fragen: ‚Was habe ich Ihnen gethan?‘“

Das letzte dieser in leidenschaftlicher Klage herausgestoßenen Worte erlosch ihr auf den Lippen – der Doctor hatte ihr Handgelenk umfaßt. Seine kalten Finger drückten wie Eisen.

„Kein Wort mehr, Käthe!“ raunte er ihr in Lauten zu, die sie erschreckten. „Ich weiß zum Glück, daß nicht eine Spur von komödienhafter Falschheit in Ihnen lebt, sonst müßte ich glauben, Sie hätten die raffinirteste Folterqual ersonnen, um mir ein streng behütetes Geheimniß zu entreißen;“ er ließ ihre Hand fallen; „aber auch ich will nicht – absolut nicht!“

Er schlug die Arme über der Brust zusammen und entfernte sich um einige Schritte, als wolle er rasch nach dem Hause gehen, aber plötzlich wandte er sich dem wie erstarrt dastehenden Mädchen wieder zu. „Es interessirt mich übrigens, zu erfahren, inwiefern ich Ihnen eine Kette um den Fuß legen möchte, damit Sie bleiben,“ sagte er ruhiger. Er kam zurück und blieb vor ihr stehen.

Käthe erröthete tief; einen Augenblick zögerte sie in mädchenhafter Scheu, dann aber versetzte sie entschlossen: „Sie wünschen, daß ich die – Herrin in der Villa Baumgarten werde –“

„Ich – ich?“ Er drückte die geballten Hände gegen die Brust und brach in jenes hohnvolle Lachen aus, das sie schon vorhin bei seiner Unterredung mit der Tante erschreckt hatte. „Und wie begründen Sie diese Beschuldigung? Warum soll ich wünschen, Sie als Herrin der Villa Baumgarten zu sehen?“ fragte er, sich mühsam bezwingend.

„Weil Sie, wie Flora sagt, Henriette nicht so ohne Weiteres ihrem Schicksale überlassen wollen,“ antwortete sie mit der ganzen entschlossenen Aufrichtigkeit, die auf eine entschiedene Frage kein Ausweichen zuläßt. „Sie finden, daß ich meine arme Schwester mit hingebender Liebe pflege, und um ihr das Haus des Commerzienrathes, unser ehemaliges Vaterhaus, auch als fernere Heimath zu sichern, soll ich die schwesterliche Liebe und Hingebung noch weiter bethätigen, indem ich – die Frau des Commerzienrathes werde.“

„Und Sie glauben, daß ich an der Spitze einer derartigen Familienintrigue stehe? Sie glauben das ernstlich? Haben Sie vergessen, daß ich mich gleich zu Anfang dieser aufopfernden Pflege und Ihrem längeren Bleiben in Römer’s Hause widersetzt habe?“

„Seitdem hat sich Vieles geändert,“ entgegnete sie rasch und bitter. „Sie werden im September M. für immer verlassen; dann kann es Ihnen gleichgültig sein, wer in der Villa schaltet und waltet; Ihr Behagen wird nicht mehr gestört durch eine unsympathische Persönlichkeit –“

„Käthe!“ stieß er heraus.

„Herr Doctor?“ Sie hielt, den Kopf stolz hebend, seinen flammenden Blick ruhig aus. „Der Gedanke eines solchen Arrangements liegt eigentlich sehr nahe, und nur einem so langsam capirenden Wesen wie mir konnte es passiren, so lange blind an all’ dem vorüberzugehen,“ setzte sie scheinbar gelassen hinzu. Es war etwas Ueberlegenes in ihrem Tone und Wesen, als sei sie plötzlich um Jahre an Erfahrung und Erkenntniß gereift. „Dann käme kein fremdes Element in den Familienkreis; die ganzen häuslichen Einrichtungen könnten bleiben, wie sie sind, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten in der Villa, wie drüben im Thurme würden nicht alterirt; Nichts, nicht einmal mein eiserner Spind in Moritzens ‚Schatzkammer‘ brauchte von seiner Stelle gerückt zu werden; das ist so praktisch gedacht –“

„Und leuchtet Ihnen so sehr ein, daß Sie nicht einen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_312.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)