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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

und Schabernack anthun, wo sie können? … Er schlug den Weg ein, der nach dem großen Parkthore und auf die Landstraße hinausführte; sie verfolgte ihn mit den Augen, bis ihn das Dickicht aufnahm – welche Aehnlichkeit! Seiner Haltung und Größe, seinem ganzen Körperbau nach hätte der Mann im Arbeiterrocke ein blonder Zwillingsbruder des Commerzienrathes sein können.

Sie blieb wider Willen gefesselt stehen und sah nach dem Thurme, von wo er gekommen war – wie herrlich gruppirte sich hier die Landschaft um die Ruine, und mit welch’ künstlerischem Tacte und Gefühle hatte der aus der Ferne herbeigerufene Baumeister das Vorhandene zu benutzen verstanden, um die Mauerreste mit einem so ergreifend romantischen Zauber zu umspinnen! Es war wieder still geworden; nur das Flügelklatschen der Tauben, die über dem Thurme kreisten, klang schwach herüber – wie kleine Silberkähne durchschifften die graziösen Luftsegler den klaren, roth angehauchten Abendhimmel und schlüpften durch die Lücken der Mauerkrone, die scharfzackig in das Aetherblau hineinschnitt – nein, nicht die Mauerkrone! Ein urplötzlich speiender Krater war es, der unter donnerndem Krachen eine Garbe schwarzen Schwalles riesenhoch in den Himmel hineinschleuderte. Der Boden wurde dem Mädchen buchstäblich unter den Füßen weggerissen – sie stürzte, wie hingeschmettert – dann schwemmten kühle Wassermassen an sie heran.

(Fortsetzung folgt.)

Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Das rothe Quartal.
(März–Mai 1871.)
Von Johannes Scherr.
10. Das rothe Gespenst geht leibhaft um.

Der Marschall Mac Mahon hat sich als Leiter der Einnahme von Paris und der Niederwerfung der Kommune zweifellos als tüchtiger General erwiesen, wenigstens als ein weit tüchtigerer denn im Feldzug von 1870. Nachdem die Kommune einmal im Vollbesitze der Hauptstadt und ihrer unermeßlichen Hilfemittel, waren zur Wiedergewinnung von Paris Streitkräfte nöthig, die sich nicht aus dem Boden stampfen ließen. Es hat sich überhaupt noch nie etwas Rechtes und Tüchtiges aus dem Boden stampfen lassen. Woher dem Marschall das Material an Soldaten hauptsächlich zufloß, ist schon früher erwähnt worden. Nach der Unterzeichnung des Definitivfriedens zwischen Deutschland und Frankreich am 10. Mai zu Frankfurt und nach der Ratifikation dieses Friedensvertrages durch die Nationalversammlung zu Versailles am 13. Mai war der Zufluß ein so ausgiebiger geworden, daß sich Mac Mahon in den Stand gesetzt sah, die Organisation seiner Truppen zu vollenden. Er hatte zuvörderst drei Korps formirt, zwei Infanterie- und ein Kavalleriekorps (Ladmirault, Cissey, Du Barail). Dazu waren dann zwei weitere Armeekorps gekommen (Douay und Clinchant) und endlich noch eine aus 3 Divisionen bestehende Reserve unter dem General Vinoy. So gerüstet, sah sich der Marschall kräftig genug zum entscheidenden Handeln und dieses war, wie wir gesehen, auf den 23. Mai angesetzt. Die Ereignisse vom 21. Mai hatten aber den Angriff vorgerückt. Vom Mont Valerien herab hatte der Obergeneral den Einbruch der Truppen in die Stadt geleitet. Dann hatte er sich zur Stunde, als der Trocadero, das Marsfeld und die Kriegsschule von demselben genommen waren, von der Citadelle herab und in die Mitte seiner Regimenter begeben. Während der Nacht traf er seine Bestimmungen und Verfügungen in Betreff der großen Straßenschlacht, welche am folgenden Tage anhob und erst nach siebentägigem Streiten zu Ende sein sollte, – nach einem Streiten, von welchem der Dichter hätte sagen können, was er von der Bestürmung Jerusalems durch die Römer des Titus gesagt hat:

„Oh, welcher Mordkampf hat sich da entsponnen!
Aus tausend Wunden sprang so voll das Blut,
Als wären unversiegbar solche Bronnen …“

Frisch, klar, sonnig, so recht ein Maimorgen, ging der vom 22. über Paris auf, welches diesem Frieden und Glanz der Natur gegenüber wieder einmal darthat, was es mit der vielgepriesenen Civilisation unseres Jahrhunderts eigentlich auf sich hat. Von beiden Seiten wurde die siebentägige Schlacht mit gleicher Wuth gefochten. Der Unterschied war nur, daß die Blauen mit Methode, die Rothen dagegen mit Verzweiflung wütheten.

Der Marschall hütete sich wohl, den Stier bei den Hörnern fassen zu wollen, d. h. einen Massenangriff auf das furchtbar barrikadirte Centrum der Stadt zu unternehmen. Er und seine Generale griffen die Sache anders an. Im Besitze einer festen Operationsbasis, verschritten sie zu einer Reihe von koncentrischen Angriffsbewegungen, welche den Zweck hatten und erreichten, auf Seitenwegen und selbst mitten durch Häuserwände und Häuserreihen hindurch die festesten „Volkscitadellen“ zu umgehen, Paris mittels Besetzung der Hauptverkehrsadern und der strategischen Punkte mälig zu umstricken und einzuwickeln, um dann die Umschnürung fester und enger zu machen, zuletzt so eng und fest, daß mit einem letzten Würgegriff der Insurrektion ihr letzter Athemzug zu entpressen wäre.

Angenommen, ein Beobachter hätte von der Kuppel des Invalidenpalastes herab den Bewegungen der fünf Kolonnen, in welche der Marschall seine Streitkräfte getheilt hatte, am 22. Mai zusehen können und hätte bei dieser Schau das Antlitz nach Norden gekehrt, so würde er ganz linkswärts die Kolonne des Generals Ladmirault die Linie der Gürteleisenbahn aufwärts verfolgen gesehen haben, eine Bewegung, welche den Zweck hatte, einem der Hauptbollwerke der Rothen in den Rücken zu kommen, dem Montmartre. Demselben Ziele strebte der General Clinchant zu, welcher vom Triumphbogen aus gegen den Park von Monceaux und Batignolles hinaufdrängte. Der General Douay seinerseits sucht im Centrum die Champs Elysées und den Beauvauplatz zu gewinnen. Zur Rechten, auf dem linken Seineufer, lenkt der General Cissey seine Truppen auf den Bahnhof Montparnasse zu, um sich von dort den Weg zum Pantheon zu öffnen. Die Reserve unter Vinoy behält der Marschall bei der Hand, um damit nach Bedarf Douay oder Cissey zu unterstützen.

Den ersten bedeutenden Vorschritt machte der letztgenannte General. Noch am 22. Mai. Sein Sturm auf den bezeichneten Bahnhof gelang, auch entriß er den Rothen die gewaltige Barrikade, welche sie hinter der Umwallung auf der Straße nach Orleans erbaut hatten, und brach sich damit Bahn zur Butte aux Cailles. Auch im Centrum und auf der Linken war die Schlacht im Gange, führte jedoch erst am folgenden Tage zu einem für die Blauen beträchtlichen Ergebniß. Dies war kein anderes als der am 23. Mai mit ganzem Erfolg unternommene Angriff auf das Montmartre-Quartier. Clinchant bedrängt es vom Süden und Westen aus; Ladmirault faßt es vom Norden her. Mittags 1 Uhr flattert die Trikolore auf der Spitze des Thurmes von Solferino. Noch zwei Stunden lang aber tobt der Kampf um die mächtige Barrikade auf dem Platze Pigalle, so recht die Arx oder Akropolis der Kommune. Hier befehligt Dombrowski in Person, wird niedergestreckt und sterbend zum Spital Lariboisière getragen, wo er am nächsten Morgen ausathmet. Der Verlust des Montmartre bedeutet für die Rothen schon ihre entschiedene strategische Niederlage. Auf Sieg kann jetzt nicht einmal der Wahnsinn mehr hoffen. Die beiden Plätze Pigalle und Blanche sind mit Blutlachen bedeckt, 100 Kanonen, mehrere tausende von Gefangenen sind die Beute der Sieger. Die Rache beginnt ihre Füsilladen an der Stelle, wo am 18. März der Frevel die seinigen begonnen hatte. Der General Ladmirault bleibt vorderhand auf Montmartre stehen; der General Clinchant steigt auf die äußere Boulevardlinie hinab, um von dieser aus und über die innere hin mit dem General Douay im Centrum Fühlung zu suchen. Links der Seine hat inzwischen der General Cissey seinen Vormarsch, allerdings unter schwerem Ringen, bis zur Kirche Saint-Sulpice fortgesetzt.

Die Nacht sinkt herab auf die rothen Walstätten des zweiten Schlachttages, auf Weh und Wunden ohne Zahl. Tausende von Wachtfeuern lassen kein Dunkel aufkommen und das Gebrause und Getose ruht kaum für etliche Stunden. Dann kommt der dritte Tag –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_332.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)