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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Ah – Du meinst, unser armer Moritz habe mir während der Hochzeitsfeier den Schrecken ersparen wollen und das Blatt confiscirt? Ach, ja – jedenfalls! Und er hätte mir auch den Schaden ersetzt, ich weiß es – war er es doch selbst, der mir die Sache eingeredet hat. … O mein Gott, das ist ein Gedanke von oben. Nöthigenfalls kann ich’s beschwören, daß Moritz mich zu dem Unternehmen verleitet hat. Wie – sollte ich nicht darauf hin doch vielleicht Anspruch auf Ersatz aus der Erbschaftsmasse haben?“

Flora warf die Zeitung auf den Tisch; sie, die in allen Fällen rücksichtslos Vorgehende, war doch einen Augenblick in Verlegenheit, wie sie ihre Worte, diesen unzerstörbaren Illusionen gegenüber, zu wählen habe. Sie hatte bis zur Stunde geschwiegen, voraussetzend, daß sehr bald einer der guten Freunde die Mission der Aufklärung übernehmen werde, aber die guten Freunde waren ja schon gestern ausgeblieben; es ließ sich keiner mehr blicken und nun mußte sie es selbst thun; sie durfte doch nicht zugeben, daß sich ihre Großmama mit dieser beispiellosen Zuversicht und Harmlosigkeit vor aller Welt blamire.

„Großmama,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme und legte die Hand auf den Arm der alten Dame; „es fragt sich vor allen Dingen, wie hoch sich diese Erbschaftsmasse beziffern wird.“

„O Kind, sieh Dich um, sieh nur zum Fenster hinaus, und Du wirst wissen, daß man den Abzug meiner viertausend Thaler an dem Nachlasse kaum merken wird. Mag auch das ungeheure Capitalvermögen, mit welchem Moritz operirte, unwiederbringlich verloren sein, weil alle darauf bezüglichen Bücher und Documente vernichtet sind, die Liegenschaften und anderen Werthobjecte, die er hinterlassen, repräsentiren immer noch einen Besitz, den man reich, ja glänzend nennen darf“ – ein tiefern schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust. – „Ich wollte Gott danken, wenn ich den unbestrittenen Anspruch an diese Erbschaft hätte.“

Flora zuckte die Achseln. „Wer weiß, ob Du sie antreten würdest –“

Die Präsidentin fuhr empor. „Bist Du toll, Flora? So schwach ich auf meinen Füßen bin, ich wollte stundenweit laufen, ich wollte wochenlang hungern und dursten und kein Auge schließen, wenn ich mir dadurch die Ansprüche der Universalerbin erringen könnte. – Sollte man es glauben, daß das Geschick so teuflisch, so grausam ironisch sein könne? Ich, ich in meiner Stellung, muß mich hinausstoßen lassen aus dem Hause, das seinen Glanz, sein aristokratisches Air mir einzig und allein verdankt, und sie, eine ganz obscure, alte Person, die jetzt noch ahnungslos altes Leinen für Fremde flickt, die es ihr Lebenlang nicht besser gewußt und gehabt hat, sie wird sich hier breit machen.“

„Darüber brauchst Du Dich nicht zu alteriren, Großmama – die alte Tante am Rhein erbt so wenig wie Du –“

„Ah, so treten doch noch andere Erben auf?“

„Ja – die Gläubiger.“

Die Präsidentin taumelte unter einem scharfen Aufkreischen in den Armstuhl zurück.

„Still! Ich bitte Dich, mache keine Scene!“ murmelte Flora. „Drunten im Souterrain giebt es Leute, die das noch viel besser wissen als ich; sie sind im Begriff, das Haus zu verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff. Ich kann und darf es Dir nicht länger verschweigen, wie die Sachen stehen. Jetzt heißt es au fait sein, wenn wir uns, als die Düpirten, nicht unsterblich lächerlich machen wollen.“ Sie zog die schwarze Kreppwolke um Kinn und Hals der alten Dame in die gehörige Faltenordnung und steckte die mit einer einzigen wilden Handbewegung völlig zerstörten weißen Lockenpuffen wieder auf. „So darf Dich Niemand sehen, Großmama,“ sagte sie streng. „Wir müssen uns so rasch wie möglich mit Haltung und Ruhe aus der Affaire ziehen – sie ist zu gemein und entehrend; darüber waltet kein Zweifel mehr, daß die Explosion ein Verzweiflungsakt – auf deutsch gesagt: ein Schurkenstreich – von Seiten Römer’s gewesen ist.“

„Der Elende! Der infame Betrüger!“ schrie die Präsidentin aufspringend – die wahnsinnige Aufregung ließ sie plötzlich im Zimmer hin- und herlaufen, als sei ihr ein Räderwerk in die schwachen Füße gekommen.

Flora deutete nach dem einen Fenster, vor dessen zerschlagenen Scheiben keine schützende Jalousie lag. „Bedenke, daß man Dich draußen hört!“ warnte sie. „Seit dem Morgengrauen schleichen Geschäftsleute um das Haus; die Aufregung in der Stadt soll grenzenlos sein; es sind Leute, welche die Angst um ihr Geld aus den Federn getrieben hat. Was wir während des letzten halben Jahres in unserer großen Wirthschaft gebraucht haben, steht noch in den Büchern der Lieferanten. Der Fleischer hat sich sogar in das Haus hereingewagt und in dreister Weise gefordert, daß man Dich wecken möchte, er habe mit Dir zu reden. Jedenfalls will er versuchen, von Dir, weil Du dem Haushalt vorgestanden, die ihm schuldigen sechshundert Thaler zu erpressen, ehe die Gerichte einschreiten. Er ist frech genug gewesen, meiner Jungfer zu sagen, die Damen des Commerzienrathes hätten ja auch mitgegessen.“

„Pfui, in welchen Sumpf hat uns jener erbärmliche Wicht gelockt, um sich dann feig aus dem Staube zu machen!“ rief die Präsidentin, halb erstickt vor Grimm und Erbitterung, und zog sich instinctmäßig von dem offenen Fenster zurück. Sie rang die Hände. „Gott im Himmel, welche entsetzliche Lage! Was nun thun?“

„Vor allen Dingen einpacken, was uns mit Fug und Recht gehört, und das Haus räumen, wenn wir nicht wollen, daß unser Eigenthum mit versiegelt werde; da könnten wir wohl lange warten, bis es uns zurückgegeben würde! Ich bin eben im Begriff, hinaufzugehen und meinen“ – sie unterbrach sich mit einem schneidenden Lachen – „meinen Trousseau in Kisten und Koffer zu bringen. Dann will ich mit den Leuten das Hausinventar aufnehmen, und wenn Du nicht selbst die Uebergabe vollziehen willst –“

„Nun und nimmermehr –“

„Dann mag es die Wirthschaftsmamsell thun; wir haben Grund genug, krank zu sein.“ Sie nahm den Schlüssel zu dem Zimmer, in welchem der Trousseau aufgestellt war, aus ihrem Schreibtisch, während die Präsidentin mit verzweifelnd gen Himmel gehobenen Armen davonstürzte, um das Ihrige vor den Gerichtssiegeln in Sicherheit zu bringen.


27.

Ueber den Baumwipfeln des Parkes wehte die Morgenluft und zog durch das weit offene Fenster; sie trug ein traumhaftes, halbverlorenes Wasserrauschen vom fernen Fluß her in die Kirchenstille des Schlafzimmers und hauchte das weiße Gesicht der schlummernden Kranken mit Reseda- und Levkoyendüften an. Und das rothe wilde Weinlaub, das draußen den Fensterrahmen umkränzte, bebte im leisen, sammetweichen Zugwind; es sah aus, als habe er die dreifingerigen Purpurblätter im Vorüberstreifen gepflückt und über die weiße Bettdecke und das gelöste aschblonde, Haar hin verstreut und die blassen Hände in das kühle Laub wohlig vergraben. Henriette hatte sich die Blätter pflücken lassen „als letzte Grüße des Sommers, der sich nun auch zur Wanderschaft anschicke.“

Käthe saß am Bett und behütete den Schlaf der Schwester. Sie hatte selbst das dreist herbeifliegende Rothschwänzchen, das gewohnt war, Kuchenkrümchen auf dem Fenstersims zu finden, mit einer angstvollen Handbewegung fortgescheucht; sein zartes Gezwitscher klang fast erschreckend in das bange Schweigen, das dem Ohr jeden schwachen Athemzug hörbar machte, unter welchem sich die schmale Brust der Kranken in beängstigend langen Zwischenräumen hob. Doctor Bruck hatte seine Patientin für eine halbe Stunde verlassen müssen; der Fürst bestand darauf, den Arzt, der ihn nach so vielen fehlgeschlagenen Curen in kurzer Zeit vollkommen hergestellt hatte, bis zu dessen Abreise als Berather täglich zu empfangen. Und so war Bruck gegangen, die günstige Schlummerstunde benutzend, wo Henriette ihn nicht vermißte.

Die Kammerjungfer hatte sich mit einer Näharbeit hinter die Bettgardine postirt, um nöthigenfalls bei der Hand zu sein; sie sah dann und wann verstohlen zu dem regungslosen jungen Mädchen dort im Armstuhl hinüber. Drunten im Souterrain hatten sie vorhin davon gesprochen, daß „das Fräulein aus der Mühle“ bei „dem Streich des gnädigen Herrn“ am schlimmsten wegkomme, und sie meinte nun, ein Menschenkind, dem eben eine halbe Million aus der Hand geschlüpft sei, müsse doch ganz anders verzweifelt aussehen, als die junge Dame, die, den Verband über der Stirn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_379.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)