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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

mich fort, in Sonnenfernen tragen.“ Zu sagen: „ich muß das wissen, um selig werden zu können, weil ich dich geliebt habe mit allen Kräften, mit jeder Faser meines Herzens,“ das konnte die scheu verschlossene Mädchenseele selbst in der Todesstunde nicht über sich gewinnen.

Es war, als überfliege ein verklärender Schein die gesenkte Stirn des Doctors. „Es hat sich noch Alles glücklich für mich gewendet, Henriette,“ sagte er bewegt. „Ich wage zu hoffen, daß ich nicht mehr einsam und verbittert durch’s Leben gehen werde, oder besser: ich weiß, daß sich in der zwölften Stunde noch mein Traum von wahrer Lebensbeglückung erfüllen wird – genügt Dir das, meine Schwester?“ Er zog die schmale, erkaltete Hand, die er noch in der seinen hielt, an die Lippen. „Ich danke Dir,“ setzte er innig hinzu.

Ein Erröthen, sanft rosig wie das Abendlicht draußen, kam und schwand in jähem Wechsel auf den Wangen der Sterbenden; mit einem Ausdruck von scheuem Glück streiften ihre Augen unwillkürlich die Schwester, welche, die Rechte auf Bruck’s Armstuhl gelegt, sichtlich bemüht war, ihren Schmerz, aber auch eine unverkennbare Bestürzung zu bemeistern. Bei diesem Anblick schmolz Henriettens Herz in Weh und Mitleid.

„Sieh meine Käthe an, Bruck!“ sagte sie bittend, aber mit erlöschender Stimme und unaufhörlich von Athemnoth unterbrochen. „Lasse mich’s noch aussprechen, was mich immer bedrückt und tief geschmerzt hat! Du bist immer so kalt gegen sie gewesen – einmal sogar hart bis zur Grausamkeit – und ihr kommt doch Keine gleich, Keine! Leo, ich habe Dein Vorurtheil nie begreifen können. … Sei gut gegen sie – stehe an ihrer Seite –“

„Bis zum letzten Athemzug! Bis über den Tod hinaus!“ unterbrach er sie, kaum fähig, seiner stürmischen Bewegung Herr zu werden.

„Sieh, nun ist Alles gelöst! Ich weiß es; hältst Du sie in treuer Hut, dann wird meine starke, meine muthige Käthe stets zwischen Dir und allem Ungemach stehen –“

„Wie eine treue Schwester, die ich ihm von dieser Stunde an sein werde,“ vollendete Käthe mit halberstickter Stimme.

Ein geisterhaftes Lächeln irrte um Henriettens Mund – sie schloß die Augen. Sie sah nicht, daß durch die Glieder der Starken, Muthigen Schauer liefen, als schüttle sie das Fieber – sie sah nicht, daß sie Bruck’s dargebotene Rechte mit weggewendetem Gesicht von sich schob; als sei selbst ein Händedruck nicht statthaft. Das Lächeln erlosch, und aus der Brust der Sterbenden rang sich ein röchelnder Laut. „Grüßet die Großmama! – Nun möchte ich Ruhe haben – schaffe mir Ruhe um jeden Preis, Leo!“ hauchte sie angstvoll.

„In zehn Minuten wirst Du schlafen, Henriette,“ sagte er in tiefen, beruhigenden Tönen. Er legte ihre Hand auf die Bettdecke zurück, und sich erhebend schob er seinen Arm sanft und unmerklich unter das Kopfkissen – so lag sie wie ein Kind an seiner Brust – seliges Sterben!

Und nach zehn Minuten schlief sie. Die hereinnickenden Weinblätter wehten leise, als streife sanfte Berührung an ihnen hin, und das Rosenlicht draußen, in das zu tauchen die Seele sich gesehnt hatte, erglühte plötzlich wie angefacht zum tiefsten Purpur. Und der kleine, kirre Vogel ließ sich wie immer zum Abendgruß auf dem Fenstersims nieder; er zwitscherte leise herein, nach dem wachsweißen Mädchengesicht hin letzten Mal; denn nun wurde auch dieser Fensterladen geschlossen, bis – fremde Hände kamen und Besitz ergriffen vom Hause des Commerzienrathes.

Da kam die Präsidentin herein, gebeugt, als habe ihr das so lange nachschleichende Alter nunmehr mit doppelter Wucht einen Stoß in das Genick versetzt. Die weiße Schleierwolke lag wieder um Kinn und Hals; sie hatte die schwarze Krepphaube fortgeschleudert – um einen Schurken trauere man nicht, hatte sie gesagt. Sie trat an das Bett, und ein leichter Krampf machte ihre Lippen beben, als sie in das stille Todtengesicht sah. „Ihr ist wohl,“ sagte sie mit brechender Stimme. „Sie hat das bessere Theil erwählt; nun braucht sie nicht in die Verbannung zu gehen – der bittere, bittere Kampf mit der Armuth ist ihr erspart geblieben.“

Flora aber kam und ging wortlos. Die zwei treuen Wächter am Todtenbette existirten nicht für sie. Sie küßte die heimgegangene Schwester auf die Stirne, dann schritt sie, den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, wieder nach der Thür, durch die sie gekommen. Wohl wurzelte ihr Fuß auf der Schwelle, aber sie wandte weder die Augen, noch den Kopf nach der Richtung, wo der Doctor stand und mit ernster, feierlicher Stimme die Grüße der Todten bestellte. Sie neigte unmerklich das Haupt, zum Zeichen, daß sie den Ausdruck des letzten Gedenkens in Empfang genommen, und ging mit rauschender Schleppe weiter, die Treppe hinab, um drunten Hut und Regenmantel anzulegen und nach dem nächstgelegenen Hôtel zu gehen, in welchem sie Zimmer für sich und die Präsidentin gemiethet hatte; unter dem Dach des Verbrechers durfte kein Glied der Familie Mangold mehr schlafen, selbst die Todte nicht.

Und als man auch sie nach hereingebrochener Dunkelheit fortgetragen hatte in die große Halle, wo sie Alle im letzten Schmuck und blumenüberschüttet auf das Oeffnen der letzten Pforte warten, da wurde auch in der Beletage die letzte Zimmerthür verschlossen, und der Doctor und Käthe stiegen die Treppe herab. Wie schollen ihre Schritte durch das schweigende, verlassene Haus! Wie gespenstig schlich der Schein der Lampe, die der Gärtner vor ihnen hertrug, über die einsamen Wände des Treppenhauses und der Corridore, an denen Tag für Tag die Fluthen des üppigsten Lebens, die übermüthigen Zeugen der goldgleißenden Schwindelepoche hinweggerauscht waren.

Die weiche Nachtluft, welche die Fortgehenden umfloß, legte sich wie Balsam auf Käthe’s heiße, verweinte Augen. Ein sternfunkelnder Himmel breitete sich über den schweigenden Park hin; man konnte die einzelnen Baumgruppen unterscheiden, und der Teichspiegel glomm schwach herüber, wie mattes Silber durch schwarzes Schleiergewebe. Das Sandgeröll wich knirschend unter den Tritten, und von fern her tosten die über das Wehr stürzenden Wasser, aber kein Blatt an den Wipfeln und Büschen regte sich – es war so lautlos still, wie droben im Sterbezimmer, wo man während der letzten Stunden nur flüsternd das Nothwendige beredet hatte. Und deshalb schrak auch Käthe jetzt so zusammen und brach fast in die Kniee, als der Doctor mit seiner tiefen, vollen Stimme das Schweigen unterbrach! Sie hatten gerade das tiefdunkle Laubthor der Allee vor sich, und da blieb er stehen.

„Ich verlasse in wenigen Tagen die Residenz, und so wie ich Sie kenne, werden Sie bis dahin weder zu meiner Tante kommen, noch mir gestatten, die Mühle zu betreten,“ sagte er – eine unsägliche Beklommenheit und Spannung lag in diesen Tönen. „Ich muß mir also sagen, daß wir zum letzten Male neben einander gehen – das heißt, für jetzt –“

„Für immer!“ unterbrach sie ihn tonlos, aber fest.

„Nein, Käthe!“ sagte er entschieden. „Eine Trennung für immer wäre es allerdings, wenn ich das, was Sie vor wenigen Stunden ausgesprochen haben, für unverbrüchlich halten müßte, denn eine Schwester will ich nicht. … Glauben Sie, ein Mann werde sich zeitlebens da mit wohlgemeinten schwesterlichen Briefen begnügen, wo er nach dem lebendigen Worte von geliebten Lippen dürstet? … Aber nein, das wollte ich ja heute nicht sagen. Die Selbstsucht reißt mich hin, Sie in einem Augenblicke zu bestürmen, wo Sie eine so bittere Schmerzenslast zu tragen haben. Nur über Eines muß ich mich noch aussprechen. Sie haben heute Nachmittag eine Begegnung in dem Zimmer gehabt, aus welchem Sie mir in der heftigsten Gemüthsbewegung entgegentraten. Man hat Ihnen mitgetheilt, was geschehen ist, und dabei ist selbstverständlich der ganze mißliche Anschein, den eine solche gewaltsame Lösung stets gewinnt, auf mich allein gefallen – ich sah das an Ihren Mienen, und später, als Sie sich gegen eine innigere Beziehung verwahrten, indem Sie Henriette zu Liebe mir eine Schwester sein wollten, da hörte ich auch, daß böse Einflüsterungen Macht über Sie gewonnen hatten – Gott sei Dank, nicht für immer! Ich weiß es – Ihr klarer, kluger Blick mag sich vielleicht momentan trüben, aber er wird sich nicht hartnäckig verschließen. Käthe, ich war neulich, an dem schreckensvollen Nachmittage, in meinem Garten; ich stand hinter dem Ufergebüsche, und drüben legte ein Mädchen die Stirn an einen Baumstamm und weinte bitterlich.“


(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_396.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)