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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


zusammengethan und die vernichteten Mobilien und Waaren dazugerechnet, ist auf die Summe von 500 Millionen anzuschlagen und dieser Anschlag dürfte noch entschieden zu niedrig gegriffen sein.

Wie furchtbar die Kommune in Wehr und Waffen gestanden hatte, mag schon aus der Thatsache klarwerden, daß die blauen Sieger den rothen Besiegten 2500 Kanonen und Mitrailleusen, sowie mehr als 400,000 Schießgewehre aller Art abgenommen haben.

Und nun wollen wir das Facit dieser Blut- und Brandrechnung ziehen, indem wir die Frage stellen: Wozu der ganze Gräuel?

Was ist mit so vielem Kraftaufwand, mit so viel Wuth und Weh, mit so viel Blut und so viel Thränen erreicht worden?

Was hat Frankreich dadurch gewonnen?

Rein nichts, wohl aber hat es viel verloren.

Ja, so viel verloren, daß Frankreich Ursache haben dürfte, in seinem Geschichtekalender den 18. März von 1871 als einen Nationaltrauertag, als einen, ja wohl als den „dies nefastissimus“ zu verzeichnen.

Warum?

Weil das mit jenem Tage angehobene rothe Quartal im Grunde eine Verleugnung der wahrhaft großen, befreienden und erlösenden Principien von 1789 gewesen ist. Diese hatten ja – das ist und bleibt ihr unvergänglicher Ruhm – die sociale Einheit verkündet und begründet, und zwar theoretisch dadurch, daß sie die Gleichheit der politischen Rechte aufstellten, praktisch dadurch, daß sie an die Stelle der Privilegien der Geburt oder der Kaste die Berechtigung der Arbeit und des Verdienstes setzten. Die Kommunarden von 1871 dagegen, wenigstens diejenigen, welche sich zu Werkzeugen der Internationale hergaben, wollten hinter der spanischen Wand einer angeblichen Demokratie, welche aber in Wahrheit nur eine Pöbeltyrannei war, den Grundsatz der Gleichheit vernichten, indem sie auf die Schaffung einer neuen Kaste, die der Handarbeiter, abzielten und mittels dieser Kaste eine neue Klassendespotie, die des bevorrechteten Proletariats über die übrigen Volksklassen, begründen wollten.

Daß damit der Rückfall der Gesellschaft aus der Civilisation in die Barbarei begonnen haben würde, muß jedem, welcher fünf gesunde Sinne besitzt und davon Gebrauch machen will, einleuchtend sein.

Wir anderen Demokraten sind von ganzem Herzen bereit, die Tyrannei des Geldsacks niederkämpfen zu helfen, aber gegen eine bloße Ersetzung derselben durch die Tyrannei des Bettelsacks verwahren wir uns entschieden. …

Die unmittelbaren Schäden, welche das rothe Quartal – auch abgesehen von der dreihundertfachen Menschenhekatombe und dem Brandschaden – angerichtet hat, sind ebenso schmerzlich wie handgreiflich. Angenommen, der Drang nach Decentralisation, das Verlangen nach Gemeindefreiheit sei der ursprüngliche Gedanke der Kommune gewesen, was hat sie durch ihre Art und Weise, diesen Gedanken zu verwirklichen, bewirkt? Nichts als die Straffung und Schärfung der Centralisation, die Auslöschung sogar des bloßen Gedankens gemeindlicher Selbstverwaltung in Frankreich.

Und was hat die aberwitzige rothe Rebellion gegen die Republik des Herrn Thiers zuwegegebracht? Nichts als die Republik der Herren Broglie und Buffet, also die schnödeste Gaukelei, welche jemals einer Nation vorgemacht worden ist.

Und auch daran war es noch nicht genug. Der frevelhafte Vorstoß der Kommune nach Wolkenkukuksheim rief einen Rückschlag von solcher Macht hervor, daß die Wiederinthronisirung des Mittelalters in Frankreich in der Person des Grafen von Chambord bekanntlich nur an der e–hrenhaften Seite dieser Persönlichkeit scheiterte.

Was endlich das mörderische Wüthen der Kommunarden gegen die Priester angeht, so liegen die Folgen hell oder vielmehr dunkel, sehr dunkel zu Tage. Denn es ist ja eine ganz zweifellose Thatsache, daß das im Mai von 1871 durch die Rothen vergossene Priesterblut in Frankreich für das Pfaffenthum ein Mairegen geworden, welcher es zur üppigsten Blüthe trieb, zu einer Blüthe, welche anzukünden scheint, daß „la grande nation“ nicht mehr – wie sie bislang wenigstens in ihrer Einbildung gethan – an der Spitze der Civilisation, wohl aber unter dem Banner des Heiligen von Loyola an der Seite Spaniens marschiren wird.

Das ist die Schuldrechnung des rothen Quartals. Nur Narren können sie abmindern, nur Gauner können sie leugnen wollen. Sie ist sehr lehrreich; aber damit will ich nicht sagen, daß sie die Menschen viel oder auch nur etwas lehren werde. Das wäre ja gegen alle herkömmliche moralische Kleiderordnung und würde den alten Hegel Lügen strafen, welcher sein wahrstes Wort gesprochen hat, als er sagte: „Die Geschichte lehrt nur, daß sie die Leute nie etwas lehrte.“

Also weiter im gewohnten und beliebten „Laissez faire, laissez aller!“ mehr oder weniger liebe Zeitgenossen. Immer rüstig weitergeschwindelt, bis euch eines schwarzen oder rothen Tages der europäische Generalkrach wie ein Blitz auf die Köpfe fällt!




Wunderliche Leute.
1. Krawutschke.


Ein Augustnachmittag in dem vielbesuchte Badeorte W. mit höchst unschuldiger Quelle und herrlichen landschaftlichen Umgebungen. Es ist gegen fünf Uhr. Mit dem Glockenschlage beginnen die Curstunden und das Concert.

Auf einer Anhöhe des Curparkes haben es sich zwei junge Leute bequem gemacht. Diese Anhöhe bietet ihnen, zwischen den dichtschattenden Bäumen hindurch, einen vollen Anblick der Badepromenade. In ihren Hängematten liegend, wohlbewehrt mit Operngläsern zur bevorstehenden Revue über die Curgesellschaft, welche da unten lustwandelt, blasen sie in süßem Nichtsthun den Rauch ihrer Cigarren in die Luft. Die zwei jungen Leute sind mir genau bekannt. Der Jüngling mit schwarzem Haare und militärisch strengem Kaiserbarte ist ein neugebackener königlich preußischer Assessor und – trotz seiner Jugend – Realist von der stricten Observanz. Der zweite junge Mann ist meine erzählende Wenigkeit, und diese Wenigkeit überläßt sich in Allem der orts- und personenkundigen Führung des Freundes.

Die Promenade vor dem Curhause und dem Brunnen füllt sich. Der Assessor schildert mir mit liebenswürdiger Bosheit, welche so häufig dem süßen Nichtsthun ihren Ursprung dankt, manche interessante Specialität der verehrlichen Curgesellschaft. Plötzlich unterbricht er seine pikanten Plaudereien und fragt mich: „Kennst Du Krawutschke, die interessanteste Persönlichkeit des Ortes?“

„Wie sollte ich? Ich bin erst seit einigen Tage hier. – Wer ist denn dieser Krawutschke?“

„Augenblicklich ist er Gastwirth und hauptsächlich ein halbgebildeter Allerweltsmensch. Aber komm’! Du mußt ihn kennen lernen. Ich bin dann und wann ein wenig Pessimist. Wenn ich an Herrn Krawutschke denke, so möchte ich es fast für einen Fehler halten, daß die letzten Jahrzehnte so eifrig daran gearbeitet haben, die Wissenschaften volksthümlich zu machen.“

„O, o,“ rief ich, indem wir uns zu Krawutschke auf den Weg machten.

„Gewiß. Dieser Herr Krawutschke ist der Sohn von Eltern niederen Standes. Wäre er bei einer gesunden, guten Volksschulbildung stehen geblieben, so hätte er, bei seiner leichten Auffassungsgabe, der es nur an Tiefe fehlt, in festbegrenztem, kleinem Kreise ein ganz tüchtiges Mitglied der Gesellschaft werden können. Krawutschke war das verhätschelte Genie des Dorfes und wurde eitel auf seinen ‚Geist‘. Als eitler Mensch blieb er äußerlich. Ein Bildungstrieb wohnt ihm indessen jedenfalls inne. Er las ohne Wahl alles populär Zurechtgemachte, und das Conservationslexicon war und ist sein bester Freund. Kunterbunt würfeln sich in seinem guten Gedächtnisse zusammen etwa: eine gehörte Stelle des Horaz, ein Journalartikel über Spectralanalyse, die Mystik eines Perty und etwas

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_400.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)