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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Feinde erkennen mußte, so kann über seine eigentliche Absicht bei diesem Gewaltstreiche kein Zweifel herrschen.

Während die Parteien Ugolino’s und Nino’s wie zwei sich bedrohende Flammen über Pisa aufloderten, erhob sich plötzlich dazwischen eine dritte, beide überragende in der endlich zur That erwachten Partei, der alten echten Ghibellinen. Zu ihr gehörten die Gualandi, Sismondi und Lanfranchi und an ihrer Spitze stand der schon genannte Erzbischof von Pisa, Roger degli Ubaldini, von einem ghibellinischen Hause aus der Gegend von Arezzo. Dieser neuen Macht suchte nun Ugolino sich sofort anzuschließen, um durch sie Nino zu stürzen. Mitten in die Unterhandlungen Ugolino’s und des Erzbischofs fiel folgendes Ereigniß. Eine Hungersnoth oder wenigstens außerordentliche Theuerung erregte die Erbitterung des Volkes in Pisa gegen die auf die ersten Lebensbedürfnisse gelegten Zölle und dadurch gegen Ugolino selbst. Als ihm einer seiner Enkel und ein anderer Verwandter, der zugleich ein Neffe des Erzbischofs war, Vorstellungen darüber zu machen wagten, gerieth er in so tobende Wuth, daß er seinen Enkel mit dem Vorwurfe: „Ha, Verräther, Du willst mir meine Macht rauben?“ mit dem Dolche am Arme verwundete und den Andern mit einem Schlage todt niederstreckte. Ghibellinen trugen die Leiche zum Erzbischof und sprachen: „Hier ist Dein Neffe, vom Grafen Ugolino erschlagen.“ Und der Priester: „Tragt ihn hinweg!“ rief er, „das ist mein Neffe nicht. Ich weiß nicht, daß der Graf irgend eine Ursache hätte, meinen Neffen zu tödten. Hat er ihn doch immer als einen Verwandten gut behandelt. Man rede mir kein Wort mehr davon!“

So bezähmte die Arglist den glühenden Haß, um die Rache desto kälter zu genießen. Wirklich hatten die Unterhandlungen zwischen dem Erzbischof und Ugolino ihren ruhigen Fortgang und führten zum geheimen Beschlusse einer gemeinsamen Unternehmung gegen Nino. Als Tag der Ausführung war der 30. Juni bestimmt. Jetzt fand die Doppelzüngigkeit ihren Fallstrick. Um es nicht mit den Guelphen ganz und gar zu verderben, blieb Ugolino am bestimmten Tage auf seinem Landgute Settimo, während die Ghibellinen schon am Morgen gegen Nino sich zusammenschaarten, und dieser, von Ugolino verlassen und von dessen Verrath gegen ihn überzeugt, verließ um Mittag mit seinem Anhang die Stadt und warf sich in seine festen Schlösser. Die Ghibellinen aber besetzten sofort den Palazzo del Commune und traten, als Ugolino endlich gegen Abend in die Stadt kam, nun vor ihn mit dem Anspruche, um in Pisa das ghibellinische Element wieder zu Ehren zu bringen: dem Erzbischof oder einem anderen ihrer Häupter an Nino’s Stelle neben sich den Platz einzuräumen. Ugolino wußte, daß dies die Oberherrschaft der Ghibellinen, die Heimkehr der Gefangenen und seinen Sturz bedeuten würde, und suchte Zeit dagegen zu gewinnen. Auf den nächsten Morgen war eine Besprechung darüber in der Kirche San Bastiano bestimmt. Während oder kurz nach derselben drang zu dem Erzbischof die Kunde, daß Ugolino’s Enkel Brigata mit einer Schaar von tausend Kriegern die Stadt bedrohe. Sofort ließ er die Sturmglocke des Palazzo del Commune ziehen und den Ruf: „Zu den Waffen!“ erschallen. Aber auch Ugolino’s Partei gehorchte dem Rufe der Sturmglocke des Palazzo del Popolo, und so entbrannte nun ein Kampf in den Straßen, der auf und ab wogte, bis der Palast die letzte Zuflucht Ugolino’s wurde, in welchem, nachdem man denselben in Brand gesteckt hatte, er mit seinen Söhnen Gaddo und Uguccione und seinen Enkeln Nino Brigata und Anselmuccio (Einige nennen noch einen dritten, Heinrich), in die Gefangenschaft seiner Feinde fiel.

Man brachte die Gefangenen zuerst in den Palazzo del Commune, wo sie zwanzig Tage verwahrt blieben; von da kamen sie in den Thurm der Gualandi, genannt alle Settevie, nach den „sieben Wegen“, welche dahin führten. Hier blieben sie bis zum März 1289. Dann geschah das Entsetzliche, das unsere Abbildung darzustellen sucht. Man verschloß plötzlich den Thurm, warf den Schlüssel in den Arno und übergab Vater, Söhne und Enkel dem Hungertode.

Dieses Ende der Unglücklichen ist es, was Dante im dreiunddreißigsten Gesange der „Hölle“ schildert. Nachdem Ugolino, – den er auf seiner Höllenfahrt mit Virgil im Zustande der Verdammniß und an des Erzbischofs Schädel nagend gefunden – ihm den Traum erzählt hat, der ihn und seine mitgefangenen Söhne und Enkel gepeinigt, als ihnen zum ersten Male der Kerkermeister die bisherige Kost nicht gebracht hatte, fährt er, nach der Uebersetzung des Königs Johann, fort:

Als ich vor Tagesanbruch d’rauf erwachte,
      Hört’ ich die Söhnlein, die mit mir hier waren,
      Im Schlafe weinen und nach Brod verlangen.
Wohl hart bist Du, wenn Du bei dem Gedanken
      Deß, was mein Herz jetzt ahnte, nicht schon trauerst.
      Und weinst Du nicht, weshalb pflegst Du zu weinen?
Wir waren wach jetzt, und die Stunde nahte,
      Wo man uns Speise sonst zu bringen pflegte;
      Doch Jeder zweifelte ob seines Traumes,
Als unter uns des grausen Thurmes Thor ich
      Zuschließen hörte, drob ich meinen Söhnen
      In’s Antlitz schaute, ohn’ ein Wort zu sprechen.
Nicht weint’ ich; so erstarrt war ich im Innern,
      Doch Jene weinten, und mein Anselmuccio
      Sprach: „Blickst mich ja so an, was hast Du, Vater?“
Doch keine Thrän’ entfiel mir, und nicht gab ich
      Den ganzen Tag ihm, noch die Nacht d’rauf Antwort,
      Bis sich der Welt zeigt’ eine neue Sonne.
Als nun ein schwacher Strahl in’s schmerzenvolle
      Gefängniß drang und auf vier Angesichtern
      Das Ausseh’n ich des eigenen gewahrte,
Biß ich vor Schmerz mich selbst in beide Hände;
      Doch Jene, glaubend, daß ich’s aus Begierde
      Nach Speise thät, erhoben sich behende
Und sprachen: „Vater, minder schmerzlich wär’s uns,
      Wenn Du von uns jetzt äßest. Du umgabst uns
      Mit diesem Jammerfleisch – nimm es uns wieder!“
Da ward ich still, sie mehr nicht zu betrüben,
      Stumm blieben wir den Tag all’ und den nächsten.
      O harte Erde, daß Du Dich nicht aufthatst!
Doch als wir bis zum vierten Tag’ nun kamen.
      Fiel Gaddo ausgestreckt zu meinen Füßen
      Und rief: „Mein Vater, ach, was hilfst Du mir nicht?“
Dort starb er, und wie Du mich hier erblickest.
      Sah ich die Drei, Eins nach dem Andern, fallen
      Vom fünften Tag’ zum sechsten, d’rauf ich blind schon
Begann herum zu tappen über Jeden
      Und sie drei Tage rief nach ihrem Tode,
Bis Hunger that, was nicht der Schmerz vermochte.

Ein Pisamscher Commmtator des Dante, Francesco di Butt, erzählt, daß man des Jammergeschreis der Verhungernden so wenig geachtet habe, wie ihres Flehens um einen geistlichen Beistand. Acht Tage nach dem Verschlusse des Thurmes öffnete man ihn wieder und begrub die Verhungerten mit den Eisen, an ihren Füßen in dem Franziskanerkloster, wo Buti die Fußeisen, als man sie ausgrub, selbst noch gesehen haben will.

Dante ist von den „Frommen“ seines Landes, hart dafür getadelt worden, daß er diese Gräuelthat ohne Weiteres dem Erzbischof allein und nicht anderen gleichzeitigen Gewalthabern aufbürdet. Es ist aber nicht widerlegt, daß derselbe, als Haupt der herrschenden Partei, nicht den mächtigsten Einfluß gehabt habe. Ueberdies schreibt, nach König Johann, eine ältere „Cronika di Pisa“, welche wahrscheinlich gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts verfaßt und also fast den Zeitgenossen beizurechnen ist, den Tod des Grafen dem Erzbischof und den anderen Häuptern der Ghibellinen ausdrücklich zu; ja, Uberto Folietta, ein gründlicher, wenn auch ungleich späterer genuesischer Geschichtschreiber, berichtet, Roger habe jene schreckliche Todesart für Ugolino und die Seinen deshalb gewählt, um dem Buchstaben der Vorschrift nachzukommen, daß ein Geistlicher kein Blut vergießen dürfe.

Die Stätte dieser Unthat, jener Thurm von Gualandi, hieß seitdem „Torre di fame“, der Hungerthurm. Der Unterbau desselben ist noch bis heute erhalten, da auf ihm der Palast mit der Uhr errichtet ist, welcher neben dem Palaste der Ritter des heiligen Stephanus steht.

Fr. Hfm.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_415.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)