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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


25 bis 26°, welches nicht länger als fünfzehn Minuten genommen werden darf, höchst wohlthätig. Endlich noch machen wir darauf aufmerksam, das für den kindlichen Organismus reichlicher Schlaf dringendes Bedürfniß ist. Im Allgemeinen sind für ein vier- bis sechsjähriges elf, für ein sieben- bis zehnjähriges zehn, für ein elf- bis vierzehnjähriges neun Stunden Schlaf nöthig.

Nicht minder wichtig ist der geistige (moralische) Theil der Erziehung. Man erziehe das Kind nicht so, daß es verleitet werde, seiner kleinen Person eine besondere Wichtigkeit beizulegen und sich als den Mittelpunkt zu betrachten, um den sich die ihm bekannte Welt dreht. Man suche zeitig das Gefühl in ihm zu wecken, daß es Pflichten hat, man gewöhne es an Gehorsam, man lehre das Kind entsagen! Nichts stärkt besser als dies die Willenskraft, und ein starker Wille ist oft für sich allein im Stande, der Nervosität vorzubeugen.

Die oft wiederholte ärztliche Mahnung, den Geist des Kindes nicht zu frühzeitig anzustrengen, muß auch hier wiederholt werden. Die in den meisten deutschen Ländern mit dem sechsten Lebensjahre eintretende Schulpflichtigkeit ist ein großer Mißgriff. Man sollte kein Kind vor vollendetem siebenten Lebensjahre zur Schule schicken. Schwächliche und nervösreizbare Kinder müssen noch länger geschont werden.

Die nämlichen Principien, welche wir für die Kindererziehung als Abwehr einer späteren Entstehung der Nervosität aufgestellt haben, gelten im Allgemeinen auch für die weiteren Lebensperioden, natürlich mit den den veränderten Verhältnissen entsprechenden Modificationen, so namentlich, daß der erwachsene Mensch seine Erziehung selbst in die Hand zu nehmen hat.

Soviel von der Art und Weise, wie der Nervosität vorzubeugen ist. Und nun, Ihr viel duldenden Kreuzträgerinnen, die Ihr der schlimmen Krankheit bereits anheimgefallen seid, laßt Euch sagen, wie Eueren Leiden abzuhelfen ist! Kein Kraut ist es und keine Tinctur, die aus der Officin des Apothekers hervorgehen, kein Hoff’sches Malzextract ist es und keine Nervenpillen sind es, die Euch wieder zur Gesundheit verhelfen können. Nur in der vernünftigen, gesundheitsgemäßen Weise, wie Ihr Euer ganzes Leben einzurichten habt, liegt das Heil. Aber hier bedarf es unumgänglich des festen Entschlusses, auszudauern und consequent zu sein. Denn wenn auch oft schon in wenigen Wochen eine merkliche Besserung erreicht wird, so gehört doch viel längere Zeit dazu, um dieser Besserung Dauer zu geben, und die wirkliche Genesung herbeizuführen.

Die vier großen Mittel, welche (selbstverständlich bei Vermeidung der früher genannten Schädlichkeiten) in allen Fällen krankhafter Nervosität Besserung und in den meisten bei lange fortgesetztem Gebrauche die Genesung herbeiführen sind:

  1. Zweckmäßige Ernährung, mit Einschluß des Genusses der freien Luft.
  2. Die äußerliche Anwendung des Wassers in Form von Abreibungen und Bädern.
  3. Uebung der willkürlichen Muskeln (körperliche Gymnastik).
  4. Psychische Gymnastik.

Zu 1. Es ist bereits oben hervorgehoben worden, wie wichtig für die Gesundheit des Nervensystems und seiner Centren die Bethätigung des normalen Stoffwechsels durch zweckmäßige Ernährung ist. Die Regelung derselbe ist die nächste Aufgabe für Nervenleidende. Also kräftige, leichtverdauliche und einfache Kost! Obenan steht die Milch in Verbindung mit anderen guten Nährstoffen, wohin weichgesottene oder rohe Eier, gebratenes Fleisch, besonders Wildpret, Ochsen- und Hammelfleisch gehören. In manchen Fällen ist eine sogenannte Milchcur von gutem Erfolge. Personen, welche die Milch nicht vertragen können, lernen dies oft, wenn sie dieselbe eßlöffelweise langsam verzehren. Als Getränk ist (außer Milch und Wasser) vielen Patienten ein Glas gutes Lagerbier zu empfehlen. Von höchster Wichtigkeit ist der möglichst reichliche Genuß der freien Luft, besonders auf dem Lande in waldigen Gegenden. Wenn es Jahreszeit und Wetter irgend erlauben, muß die Kranke den größten Theil des Tages im Freien zubringen. Wer so muskelschwach ist, daß er nicht gehen und längere Zeit sitzen kann, der lasse sich im Freien ein Ruhebett aufstellen oder eine Hängematte zurecht machen, um in bequemer Lage die frische Luft zu athmen. Ich kann versichern, daß ich schon einzig und allein in Folge des dauernden Aufenthaltes im Freien, verbunden mit der geeigneten Diät, bei sehr vielen meiner nervösen Kranken binnen kurzer Zeit eine wesentliche Besserung des leidenden Zustandes habe eintreten sehen.

Zu 2. Erwägt man, daß der größte Theil der zahllosen feinsten Verzweigungen der Nerven sich in der unsern ganzen Körper umkleidenden Haut verbreitet, so leuchtet es ein, daß durch eine rationelle Hautpflege normirend auf das Nervensystem gewirkt werden kann. Wir rechnen daher das Wasser zu unseren vier Cardinalnervenmitteln. In welcher Weise aber und in welchem Temperaturgrade das Wasser anzuwenden ist, muß stets sorgsam erwogen werden. Im Allgemeinen gelten folgende Regeln: Bei Blutarmuth und bei großer Schwäche sind kalte Bäder und Waschungen nachtheilig. Dagegen sind warme Bäder von 25 bis 28 Grad Réaumur und einviertelstündiger Dauer, wöchentlich zwei- bis dreimal genommen, bei dergleichen Kranken sehr wohlthätig. Bei nervösen Kranken, die weder blutarm noch sehr schwach sind, leisten tägliche Abwaschungen des ganzen Körpers mit kühlem Wasser vortreffliche Dienste. Anfangs nimmt man dazu Wasser von 20 bis 22 Grad und fällt allmählich auf 15, 12 und 10 Grad. Die Abwaschung wird mit einem in das Wasser getauchten und um den Körper geschlagenen Laken vorgenommen. Dann wird der Körper kräftig mit einem trockenen Laken abgerieben. Die ganze Procedur darf nur fünf Minuten währen. Hierauf werden die Kleider angelegt und ein kurzer Spaziergang im Freien, oder bei schlechtem Wetter auf dem Corridore, vorgenommen. Nach der Abreibung darf man sich nicht etwa gleich wieder in’s Bett legen. In manchen Fällen sind auch Fluß- und Seebäder nützlich, worüber jedoch ärztlicher Rath zu hören ist. Stets ist es gut, neben dem täglichen Gebrauche des kalten Wassers wöchentlich einmal ein warmes Bad zu nehmen.

Zu 3. Von der wohlthätigsten Wirkung ist die Uebung der willkürlichen Muskelthätigkeit, nur darf man Kranken in dieser Beziehung nicht Aufgaben zumuthen, zu deren Ausführung ein gesunder, kräftiger Körper gehört. Die Hauptregel ist, daß die Kranken sich nie bis zur wirklichen Ermüdung anstrengen dürfen. Erst nach längerer Uebung und bei Wiederkehr der Kräfte dürfen z. B. weitere Spaziergänge gewagt werden. Wo die Rücksicht auf große Schwäche nicht nöthig ist, da ist natürlich möglichst ausgiebige Bewegung in der freien Natur nützlich. Neben den Spaziergängen, und wenn diese nicht stattfinden können, als Ersatz derselben, sind gymnastische Muskelübungen von ausgezeichneter Wirkung, aber nur, wenn sie consequent und systematisch täglich vorgenommen werden.

Die Zimmergymnastik ist heutzutage zu einer eigenen Disciplin herangewachsen. Ich habe bei meinen Kranken die von Schreber in seinem bekannten Buche gegebenen Anweisungen befolgt und sehr guten Erfolg gesehen. Nur ist auch hier jede größere Anstrengung zu vermeiden. Die Uebungen sind anfangs auf täglich wenige Minuten zu beschränken und allmählich ihre Zahl und Dauer zu erhöhen. In keinem Falle bin ich über das tägliche Maß einer Stunde hinausgegangen.

Zu 4. Im Anschluß an die körperliche Gymnastik nennen wir das vierte Cardinalmittel psychische Gymnastik. Denn wie dort, gilt es auch in psychischer Hinsicht, einer täglich zu wiederholenden Uebung sich zu unterziehen, aber mehr noch als dort bedarf es hier der geduldigen Ausdauer. Die Nervöskranke versuche es zunächst, sich der tyrannischen Herrschaft, welche die Krankheit über sie ausübt, täglich auf einige, wenn auch nur kurze Zeit zu entziehen, indem sie während derselben, ich möchte sagen, sich gesund stellt, von ihrer Krankheit nicht spricht, irgend eine kleine Beschäftigung vornimmt und diese Uebung von Zeit zu Zeit ein wenig, wenn auch nur um einige Minuten verlängert. Ich höre schon den Einwurf, daß es unmöglich sei, auch nur auf kurze Zeit sich dem Krankheitsgefühle zu entziehen. Aber ich versichere, daß es bei gutem Willen öfter und besser gelingt, als man denkt. Mit kleinen und langsamen Schritten gelangt man auch zum Ziel. „Was aber soll ich thun,“ wird Manche fragen, „um meinen Willen zu üben und mich von der Herrschaft der Krankheit zu emancipiren?“

Die Antwort liegt sehr nahe. Die Kranke führe pünktlich und gern alle die Vorschriften aus, welche wir soeben unter 1, 2 und 3 besprochen haben. Darin liegt schon eine Uebung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_431.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)