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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

der Willenskraft, und wenn wir das Wörtlein „gern“ beifügten, so liegt darin, daß man der üblen Laune widerstehen, daß also die Selbstbeherrschung geübt werden soll, die ein so wichtiges Mittel zur Heilung der Nervosität ist, daß der berühmte Romberg ihr und der Uebung der willkürlichen Muskelthätigkeit den Preis vor allen andern „Nervenmitteln“ zuerkennt. Mag also der Widerwille gegen Spazierengehen oder gymnastische Exercitien, gegen Abwaschungen oder gegen einzelne diätetische Vorschriften noch so groß sein, so muß er doch tapfer überwunden werden. Das mag im Anfang schwer sein, aber auch nur im Anfang, bald wird es ganz gut gehen. Sodann gewöhne sich die Kranke, von ihren Leiden nur im wirklichen Nothfall zu sprechen und sich mit ihrer Umgebung von etwas anderem zu unterhalten, wenn sie auch zur Zeit für gar nichts weiter Interesse hat als für ihre Krankheit. Dadurch werden ihre Gedanken allmählich sich aus dem Zauberkreise befreien, der sie bisher so eng umstrickte. An Augenblicken, wo der Geduldsfaden zu reißen droht und die Kranke sich versucht fühlt, wieder in die alten Klagen auszubrechen, wird es nicht fehlen, aber um so mehr Mühe gebe sie sich, Selbstbeherrschung zu üben. Der auf der Höhe des Leidens stets vorhandene Krankheitsegoismus wird sich mehr und mehr verlieren, das eine und andere Interesse aus früheren gesunden Tagen wird wiederkehren. Und nun wird die Zeit kommen, wo die Kranke eine leichte Beschäftigung aufzunehmen vermag, nützlich für sie selbst, und dreifach nützlich, wenn sie auch Anderen zu gute kommt. Bei der Einen mag dies leichte belehrende Lectüre, bei der Andern häusliche Beschäftigung, bei der Dritten beides zugleich sein. Dabei sei man vorsichtig in der Vornahme weiblicher Handarbeiten. Stricken, Weißsticken und Nähen ist nachtheilig, weil es die empfindlichen Nervenverzweigungen in den Fingerspitzen angreift und leicht einen starken Reflexreiz erzeugt.

Das sind die ersten, allerdings für Viele sehr schweren Schritte auf dem Wege zur Genesung. Wenn dabei auch der gute Wille der Patientin die Hauptsache ist, so ist doch nicht zu leugnen, daß derselbe oft nicht kräftig genug ist, um mit der nöthigen Consequenz jenen Weg zu wandeln, wenn die Umgebung der Kranken ihr nicht eine stete feste und wohlwollende Stütze und Anregung gewährt. In vielen Fällen, wo die Krankheit, besonders nach der psychischen Seite hin, weit vorgeschritten ist, macht es sich nöthig, daß die Kranke sich aus den gewohnter Verhältnissen entfernt und in neue begiebt, wo sie nicht nur die Bedingungen für ihre körperliche Kräftigung vorfindet, sondern auch in eine neue Umgebung eintritt, die andere Gedanken und Anschauungen in ihr erweckt, als die bisherigen eng begrenzten, und ihre Selbstbeherrschung anregt. Ein Landaufenthalt in waldiger, bergiger Gegend, wo die besänftigende Natur, ländliche Ruhe und das Beisammensein mit Menschen, welche der Kranken in ihrem Genesungsbestreben verständig rathend und aufmunternd zur Seite stehen, vereint zu finden sind, wird die Genesung am nachdrücklichsten fördern. Dagegen wirkt das ganz verkehrte Herumziehen auf Reisen und in Bädern fast immer schädlich. Selbstverständlich sind in letzterer Beziehung die übrigens nicht häufigen Fälle ausgenommen, in denen der Gebrauch eines Mineralbades nach ärztlichem Ermessen ganz bestimmt angezeigt ist.

Und wer sich der wiedererlangten Gesundheit freut und einen sicheren Schutz gegen die Wiederkehr der überwundenen Krankheit haben will, der gebe seinem Leben Kern und Gehalt durch Thätigkeit, und zwar durch Nutzen bringende Thätigkeit.




Im Hause des Commerzienrathes.

Von E. Marlitt.
(Schluß.)

Dies Alles hatte Käthe noch einmal mit thränenverdunkelten Augen überblickt, dann war sie heimgegangen, um an den Schreibtisch zu treten und noch einige nöthige Geschäftsbriefe zu schreiben. Kaufmann Lenz sollte am Abende von seiner geschäftlichen Rundreise zurückkehren; bis dahin hatte die junge Herrin noch Manches zu erledigen, um dann, abgelöst von ihrem Posten, auf vierzehn Tage nach Dresden zu ihren Pflegeeltern zu reisen.

Ach, wie entsetzlich zerstreut war sie doch heute! Wie klopften ihre Pulse, und wie abscheulich zerfahren kamen die sonst so sicheren Gedanken und Buchstaben aus ihrer Feder! Und nun trat auch noch die Jungfer der Präsidentin ein; sie hatte den großen, leeren Marktkorb am Arme, „weil sie eben das bischen Bedarf für die Festtage in der Stadt einkaufen wollte“; es sei ja nur ein kleiner Umweg über die Mühle, habe die gnädige Frau gemeint und ihr einen eben eingelaufenen Brief von Fräulein Flora zum Durchlesen für das „liebe Fräulein Käthchen“ mitgegeben.

Suse wurde sofort beordert, den Korb bis an den Rand mit ihren schöngerathenen Napfkuchen und allen möglichen guten Dingen aus der Speisekammer zu füllen, der Brief aber lag noch unberührt auf dem Schreibtische, als die Jungfer längst in die Stadt zurückgekehrt war.

Die Präsidentin hatte dem jungen Mädchen schon einige Male die Zuschriften der Stiefschwester mitgetheilt – es war Käthe zwar stets zu Muthe gewesen, als glühe das Briefblatt zwischen ihren Fingern, aber sie hatte pflichtschuldigst gelesen, um nicht feindselig zu erscheinen. Auch jetzt überschlich sie das Gefühl, als müsse aus dem starkparfümirten Couvert da neben ihr eine Flamme züngeln, um sie zu verletzen. Unwillig schob sie das widerwärtige kleine Viereck mit dem Ellenbogen weiter, sodaß es unter einem Stoße von Rechnungsformularen verschwand – sie sah nicht ein, weshalb sie sich auch noch durch das Lesen einer der meist sehr frivolen und von Anmaßung und Uebermuth strotzenden Episteln aufregen solle, wie es bisher stets der Fall gewesen war.

Die Feder wurde wieder aufgenommen, aber nur für wenige Augenblicke. Erregt griff das junge Mädchen wie nach einem schützenden Talisman nach den mitgebrachten Veilchen, die vor ihr im Glase standen, und athmete den kühlen, süßen Duft ein; sie trat an ihren Flügel und spielte zur inneren Beschwichtigung eine harmlose, sanfte Melodie; sie öffnete eines der Fenster und streichelte die kirren Tauben, die draußen auf dem Sims hockten, und dabei sagte sie sich wiederholt, daß die Uebermittelung des Briefes im Grunde ja nur ein maskirtes Attentat auf ihre Speisekammer gewesen sei – aber es mußte ein böser Zauber in dem unseligen Couvert stecken. Das Blut stürmte ihr immer heißer nach dem Kopfe, bis sie, glühend wie im Fieber, plötzlich die Formulare wegstieß und mit hastigen Fingern den Brief ergriff.

Beim Entfalten des Papierbogens fiel ein versiegelter Zettel heraus – sie bemerkte es nicht – ihre Augen irrten über den Anfang der Zuschrift; sie wurden groß und weit, und unwillkürlich griff das starke Mädchen nach einer Stütze, um sich eine festere Haltung zu geben. Flora schrieb von Berlin aus:

„– Du wirst wohl lachen und triumphiren, liebe Großmama, aber ich sehe ein, es ist besser so – ich habe mich vor einer Stunde mit Deinem ehemaligen Protégé, Karl von Stetten, verlobt. Er ist häßlicher und körperlich verkommener als je und trägt in seinem Bullenbeißergesicht jetzt auch noch eine blaue Brille – fi donc, ich werde mich zeitlebens geniren, an seinem Arm zu gehen, aber seine hündisch treue, wirkliche närrische Leidenschaft für mich erweckte mir schließlich doch ein menschliches Rühren, und weil er durch den unerwarteten Tod seines jungen Vetters plötzlich Majoratsherr auf Lingen und Stromberg geworden ist, hier zu Hofe geht, und in der Gesellschaft gut angeschrieben zu sein scheint, so hatte ich sonst nicht viel mehr gegen die Partie einzuwenden –“

Der Brief flog auf den Schreibtisch – Bruck war frei, dergestalt von seiner Kette erlöst, daß er nun auch – in die Schloßmühle kommen durfte. War das denkbar? Eine so jähe, ungeahnte Wendung, nachdem man sich sieben entsetzliche Monate hindurch gemartert, nachdem man alle innere Kraft aufgeboten hatte, um das widerspenstige Herz, ja, jeden abirrenden Gedanken zu knebeln, damit man endlich zu der stoischen, todten Ruhe gelange, mit der man den verhaßten Ring in die Hand der Auserwählten legen und dann seinen rauhen Lebensweg einsam, aber ohne Schuld zu Ende gehen konnte!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_432.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)