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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


dort über ein paar Jahre ihren Aufenthalt, oft daß diese Zahl sich noch um Zehntausend erhöhte. Damals war Constanz eine reiche, eine stolze, lebensvolle Stadt von vierzigtausend Einwohnern. Wie anders als bis vor Kurzem, da sie so todt, so arm, so verloren als letzter deutscher Posten an der schweizer Grenze erschien, auf fünftausend Einwohner herabgekommen, die in dem kolossalen Steinhaufen verschwanden. An das erstarrte Venedig mußte man unwillkürlich denken, wenn man diese Stadt am Bodensee sah, die unter langem und unbeschränktem Pfaffenregiment gebannt geblieben war, indeß vier Jahrhunderte die Physiognomie der Welt verändert hatten; die so in all ihrem Leben darniederlag, daß ihr Zweck völlig nutzlos, ihr Dasein gar nicht nöthig schien.

Wie ein Wunder kam mir denn die Veränderung vor, in welcher ich jüngst im Mai diese Stadt wiedersah. Aus dem öden Ufer war ein Tummelplatz eines Seehafens geworden. Fort und fort ergänzte sich längs des Strandes ein rastloser, fieberhaft eiliger Verkehr, wie ihn abgehende und ankommende Waaren und Reisende hervorrufen. Am Brückenprahm lagen ein paar Dampfschiffe, die täglich zehn, zwölf Mal von hier über den See und den Rhein hinunter bis Schaffhausen fahren und ebenso wieder einlaufen. Segel zogen die Bucht hinauf und herab; beim Zollhause an der Landungsstelle ein ewiges Auf- und Abstapeln von Gütern, wie Ein- und Auskarren von Ballen, Kisten und Kasten. Kaum daß ein Eisenbahnzug mitten durch dieses laute, rührige Hafentreiben davongerollt, so lief schon ein anderer wieder ein und brachte eine Menge geschäftig sich vertheilender Menschen. Jetzt hat hier nicht mehr ihr Ende die einzige badische Eisenbahn, sondern auch die Schwarzwaldbahn ist bis hier vorgedrungen, und diese deutschen Schienenwege setzen sich auf schweizer Gebiet fort, längs dem Ufer des Sees einestheils nach Rorschach hin, anderntheils dem Untersee entlang nach Singen[WS 1] und Winterthur hinüber. Constanz ist auf einmal zu einem Knotenpunkte des Eisenbahnverkehrs zwischen Süddeutschland und der Schweiz, zu einem Stapelplatze des Handels zwischen Italien und dem deutschen Reiche geworden, und dadurch waren die Todten auferstanden, um nach Jahrhunderten wieder Besitz von dem zu nehmen, was sie einst als Lebendige besessen.

Ein stattlicher, dem mittelalterlichen Style der Stadt geschmackvoll Rechnung tragender Eisenbahnhof erhebt sich heute am Strande; neue, moderne, schöne Häuser sind ihm gegenüber entstanden; Villen jenseits der Rheinbrücke am Seeufer fesseln den Blick. Aus dem Dominikanerkloster auf der Insel, wo Huß gefangen lag, ist das in seinem Innern, besonders durch seinen Speisesaal, sehenswerthe Inselhôtel geworden, und einzig in der Art seiner Lage am See, seiner comfortablen Einrichtung, seiner Badecabinete, ladet das neue Badhôtel zu gastlichem Aufenthalte ein. Unter dem alten Conciliumsaal zieht sich durch die Halle der Schienenstrang für Güter; am Ufer hin, neben der Eisenbahn, führt ein anmuthiger, schon schattiger Promenadenweg. Wagen, sonst kaum gesehen, rollen auf dem Platze und auf der neuen Straße, die dahinter entstanden ist, hin und her, mit Personen, mit Waaren, mit Baumaterial und Lasten aller Art.

Wie der See immerfort seine grünen, klaren Wogen gegen die neuen Kaimauern wirft, so fluthet bald stärker, bald schwächer, aber ohne Stockung, der Verkehr hinüber nach der Schweiz und herüber von dort und verfließt dann in das Innere der Stadt. Ihre Hauptstraßen, sauber gehalten, sind jetzt durch Handel und Wandel von früh bis spät belebt; neue, hübsche Läden unterbrechen die einstige klösterliche Physiognomie der Häuser; Bier- und Kaffeehäuser zeugen vom gewachsenen Wohlstand der Bürger, der ihnen zur Mittags- und Abendzeit die Erholung und Zerstreuung daselbst gestattet. Vordem zu weit und zu groß für den Rest seiner Bewohner, greift Constanz jetzt über seine Marken, zieht die angrenzenden thurgauer Ortschaften Kreuzlingen, Emmishofen und Egelshofen in seinen neuen Machtkreis und haucht ihnen ein frisches, blühendes Leben ein. Dem See selbst wird jetzt ein Landgürtel am Hafen abgenommen, um für einen neuen Stadttheil daselbst Grund und Boden zu gewinnen. Welch ein anderes Constanz! Welch ein modernes Bild bürgerlichen Schaffens heut’ in dieser alten, hier und da sich schon umwandelnden Hülle! Aus den fünftausend sind binnen wenigen Jahren zwölftausend Einwohner geworden; aus der todten ist binnen kaum einem Jahrzehnt eine heitere, rührige, zukunftreiche Stadt erstanden, in welcher der Fremde gern verweilt und wo im Genuß einer prächtigen Natur, allen gediegenen Comforts und anmuthenden Lebens von Jahr zu Jahr mehr zuziehende Familien ein Heim sich errichten. Alt und Neu mischen sich hier in einer Weise, welche der Stadt einen eigenthümlichen Reiz verleiht. Manch ehrwürdiges Gebäude aus mittelalterlichen Zeiten schaut Einen in neuem Aufputz wundersam fesselnd an, wie das ganze Constanz selber. Das ehemalige Zunfthaus zum Rosgarten in der Augustinerstraße – sein Besitzer, der Apotheker Leiner, hat es zu einem auch in dieser Hinsicht hochinteressanten Museum constanzischer Geschichte gemacht, in dem die Zeugen aus allen Culturperioden der Stadt in seltenen Sammlungen vertreten sind und die der jetzigen eben aus allen den Besuchern bestehen, welche im neuen Stadtgebilde das alte, ursprüngliche wiedersehen wollen.

Am frühen Morgen, als ich das Fenster meines Zimmers öffnete, gewahrte ich mit Ueberraschung die Häuser beflaggt, die ganze Stadt im Festschmuck, überall deutsche und badensche und constanzische Fahnen. Bald erscholl auch lustige Marschmusik mit Pauken und Trompeten, und mit zahllosen wehenden Fahnen kam ein langer Zug von Kindern die Straße herunter – Knaben im Sonntagsputz und dazwischen abwechselnd geordnete Schaaren von Mädchen, alle im weißen Kleid, alle gleich den Buben mit dreifarbigen Schärpen geschmückt, grüne Gewinde mit Blumen tragend, unter denen die weibliche Jugend wie unter einer wandelnden Festlaube dahinschritt. Wohl an tausend Kinder der städtischen Schule folgten so den rauschenden Klängen des Musikcorps, die kleinsten vorn, zuletzt die schon erwachseneren, die Mädchen mit den nicht mehr kurzen Röckchen. Ihr Ziel war das schöne Siegesdenkmal mit einer den Friedenskranz bietenden, wie Versöhnung verkündenden Victoria, welches als eine neue Zierde der Stadt nahe am Hafen sich erhebt; dort legten sie unter dem Aufspielen der „Wacht am Rhein“ ihre Kränze wie auf einen Altar des deutschen Vaterlandes nieder, zu Ehren des Tages, an welchem 1871 der Friede zwischen Frankreich und dem wiedererstandenen deutschen Kaiserreich geschlossen worden war. Wie sinnig mußte es erscheinen, daß dieses Friedensfest gerade in der wiedergeborenen deutschen Grenzstadt in solcher Art gefeiert wurde!

Vom Denkmal bewegte sich der Zug weiter nach dem grauen Kaufhaus hinüber, mit all seinen Fahnen hinauf in den Saal, in dem einst das große Concil getagt. Auch hier wieder Neu-Constanz in reizvoller Wechselwirkung mit dem mittelalterlichen. In einen heiteren Festsaal hat man seit mehreren Jahren diesen Raum gewandelt, und Frescogemälde auf Goldgrund von Friedrich Pecht und Fritz Schwörer mahnen an stadtgeschichtliche Vorgänge unter der alten und auch schon unter der neuen deutschen Kaiserzeit. Wo einst Roms Prälaten in lateinischen Reden sich unter einander gestritten, da erschollen nun von Kinderstimmen deutsche patriotische Gesänge, und ein Lehrer sprach begeisternd über die Bedeutung des Frühlingsfriedentages zu den lauschenden Kindern. Mit schallendem Jubelmarsche zogen sie darnach wieder hinaus in die Stadt, überall begrüßt von frohen Gesichtern in den Fenstern, um nach dem Ernste des Morgens ihre Ausflüge in die Maiennatur zu machen. Ein dicker Mönch stand auch vor dem Concilshause, am Wege an der Eisenbahn, und sah neugierig, wie nachdenklich, dem frischen Kinderzuge nach. Ja, Pfäfflein, es ist doch auch hier der neue Geist der Zeit siegreich geworden, und Du bist auf der Stätte, die Rom verfallen war, schon ein Fremdling geworden.

Der Odem der lebendigen Gegenwart hat diesen Zauber bewirkt und die alte Stadt des Concils aus ihrem Starrschlafe geweckt. Aber auch der Mann war da, welcher diesem Geiste vollauf gerecht zu werden und ihn als schöpferische Kraft in die gelähmten Glieder dieses Körpers zu treiben wußte. Aus Allem, was heute so reich und vielverheißend dort in diesem Geiste grüßte, spricht sein Werk; von den Dächern der Stadt rufen die Spatzen dankbar seinen Namen; in ganz Baden erklingt das Lob dieses Mannes, und längst ist sein Ruf als Patriot und Kämpfer gegen das anmaßliche Pfaffenthum bis weit hinein nach Deutschland gedrungen. Es ist Max Stromeyer, der Bürgermeister von Constanz, welcher mit Fug und Recht die meisten Verdienste um die Wiedergeburt seiner Vaterstadt in Anspruch nehmen kann.

Stromeyer stammt aus einer hannöverschen Familie; sein Großvater war Physikus in Tauberbischofsheim, sein Vater Oberrechnungsrath

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Siegen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_449.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)