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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


darum also wurde er auf einmal so aufsässig. Hören Sie nur, Doctor, die saubere Epistel:

‚Mein Sohn! Es sind Jahre vergangen, ohne daß ich ein Lebenszeichen von Dir erhalten habe.‘ Als ob sie uns eins gegeben hätte!“ schob der Lesende ein. „‚Ich weiß nur durch Fremde, daß Du noch auf Altenhof bei Deinem Vormunde lebst. Ich befinde mich augenblicklich in C., und es würde mich sehr freuen, wenn ich Dich dort sehen und Dir Deinen Bruder zuführen könnte. Ich weiß nun freilich nicht‘ – geben Sie Acht, Doctor, jetzt kommt der Stachel! – ‚ob Du die nöthige Freiheit zu diesem Besuche hast. Wie ich höre, bist Du trotz Deiner inzwischen eingetretenen Mündigkeit noch gänzlich von dem Willen Deines Vormundes abhängig.‘ Doctor, Sie sind Zeuge davon, wie der Junge uns Beide Tag für Tag maltraitirt. ‚An Deiner Bereitwilligkeit, zu kommen, zweifle ich nicht, wohl aber an der Erlaubniß dazu von Seiten des Herrn Witold. Ich habe es dennoch vorgezogen, mich an Dich zu wenden, und ich werde ja sehen, ob Du so viel Selbstständigkeit besitzest, um diesen Wunsch Deiner Mutter, den ersten, den sie Dir ausspricht, zu erfüllen, oder ob Du ihr selbst diese Bitte nicht gewähren darfst.‘ Das ‚darfst‘ ist unterstrichen. ‚Im ersteren Falle erwarte ich Dich in diesen Tagen und schließe den Grüßen Deines Bruders die meinigen bei. Deine Mutter.‘“

Herr Witold war so erbost, daß er den Brief auf den Fußboden schleuderte. „Und so etwas muß man nun lesen! Meisterhaft ausgedacht von der Frau Mutter. Sie weiß so gut wie ich, welch ein Eisenkopf Waldemar ist, und wenn sie ihn jahrelang studirt hätte, sie könnte ihn nicht besser an seiner schwachen Seite fassen. Der bloße Gedanke, daß ihm Zwang geschehen könnte, bringt ihn außer sich. Jetzt mag ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihn zu halten, er wird doch gehen, blos um zu zeigen, daß er seinen eigenen Willen hat. – Was sagen Sie eigentlich zu der Geschichte?“

Doctor Fabian schien in die Familienverhältnisse hinlänglich eingeweiht zu sein und die bevorstehende Zusammenkunft mit dem gleichen Schrecken zu betrachten, wenn auch freilich aus anderen Gründen.

„Um Gotteswillen!“ sagte er ängstlich. „Wenn Waldemar auch in C. mit seinem gewöhnlichen unbändigen Wesen auftritt, wenn er der Frau Fürstin so vor die Augen kommt, was wird sie denken!“

„Daß er nach seinem Vater gerathen ist, und nicht nach ihr,“ war die nachdrückliche Antwort des Gutsherrn. „So, gerade so soll sie Waldemar sehen, dann wird es ihr wohl klar werden, daß er kein allzu gefügiges Werkzeug für ihre Intriguen abgiebt; denn daß da wieder Intriguen gesponnen werden, darauf will ich meinen Kopf verwetten. Entweder der hochfürstliche Geldbeutel ist leer – ich glaube, er ist nie allzu voll gewesen –, oder es soll wieder einmal eine kleine Staatsverschwörung in’s Werk gesetzt werden, und dazu liegt Wilicza so recht bequem, dicht an der Grenze. Was sie eigentlich mit meinem Jungen vorhaben, weiß der Himmel, aber ich werde schon dahinter kommen und ihm bei Zeiten die Augen öffnen.“

„Aber Herr Witold,“ mahnte der Doctor. „Wozu den unglücklichen Riß in der Familie noch mehr erweitern, jetzt wo die Mutter die Hand zur Versöhnung bietet! Wäre es denn nicht besser, endlich einmal Frieden zu schließen?“

„Das verstehen Sie nicht, Doctor,“ sagte Witold mit einer bei ihm ganz ungewöhnlichen Bitterkeit. „Mit der Frau ist kein Friede zu schließen, wenn man sich nicht willenlos ihrer Herrschsucht unterwirft, und weil der selige Nordeck das nicht that, hatte er Tag für Tag die Hölle im Hause. Nun, ich will ihn nicht gerade herausstreichen. Er hatte seine argen Fehler und konnte einem Weibe das Leben wohl schwer machen, aber das ganze Unglück kam doch daher, daß er gerade diese Morynska zur Frau nahm. Eine andere hätte ihn vielleicht lenken, vielleicht ändern können, aber freilich, ein wenig Herz hätte dazu gehört, und von dem Artikel hat Frau Jadwiga nie etwas aufweisen können. Herzlos ist sie von jeher gewesen und hochmüthig dazu. Nun, die sogenannte ‚Erniedrigung‘ der ersten Ehe ist ja durch die zweite wieder gut gemacht worden. Schade nur, daß die Frau Fürstin Baratowska mit Gemahl und Sohn nicht auf Wilicza residiren durfte. Das hat sie nie verwinden können, aber da hatte das Testament zum Glück einen Riegel vorgeschoben, und daß Waldemar nicht noch nachträglich eine Dummheit macht, dafür haben wir mit unserer Erziehung gesorgt.“

„Wir?“ rief der Doctor erschrocken. „Herr Witold, ich habe redlich meine Unterrichtsstunden gegeben, wie es mir vorgeschrieben war, auf das Wesen meines Zöglings habe ich leider nie den geringsten Einfluß üben können, sonst –“ er stockte.

„Wäre er anders geworden,“ ergänzte Witold lachend. „Nun, machen Sie sich keine Gewissensbisse darüber! Mir ist der Junge recht, so wie er nun einmal ist, trotz all seiner Wildheit. Wenn Sie also wollen, ich habe ihn erzogen; wenn das zu den intriguanten Plänen der Baratowski’s nicht stimmt, so soll es mich freuen, und wenn morgen meine Erziehung und ihre Pariser Bildung tüchtig aneinander gerathen, so soll es mich noch mehr freuen. Das ist doch wenigstens eine Revanche für die boshafte Epistel da.“

Mit diesen Worten ging der Gutsherr aus dem Zimmer. Der Doctor bückte sich nach dem Briefe, der noch immer auf dem Fußboden lag, hob ihn auf, legte ihn sorgfältig zusammen und sagte mit einem tiefen Seufzer:

„Und schließlich wird es doch heißen: Ein gewisser Doctor Fabian hat den jungen Erben erzogen. – O du gerechter Himmel!“


Die Herrschaft Wilicza, deren Erbe Waldemar Nordeck war, lag in einer der östlichen Provinzen des Landes und bestand aus einem sehr umfangreichen Gütercomplex, dessen Mittelpunkt das alte Schloß Wilicza mit dem Gute gleichen Namens bildete. Die Art, wie der verstorbene Nordeck in den Besitz dieser Herrschaft gelangt war, wie er schließlich die Hand einer Gräfin Morynska errungen hatte, bildete nur einen neuen Beitrag zu dem in unseren Tagen so oft wiederholten Schauspiele von dem Sinken alter, einst reicher und mächtiger Adelsfamilien und dem Emporsteigen neuer bürgerlicher Elemente, denen mit dem Reichthum auch die Macht zu Theil wurde, die jene einst als ihr ausschließliches Privilegium in Anspruch nahmen.

Graf Morynski und seine Schwester waren früh zu Waisen geworden und lebten unter der Vormundschaft ihrer Verwandten. Jadwiga wurde im Kloster erzogen, und als sie dasselbe verließ, hatte man bereits über ihre Hand verfügt. Das war durchaus nichts Ungewöhnliches in jenen Adelskreisen, und auch die junge Gräfin hätte sich unbedingt gefügt, wäre der ihr bestimmte Gemahl ihr nur ebenbürtig, wäre er nur wenigstens ein Sohn ihres Volkes gewesen. Aber gerade sie hatte man zum Werkzeug von Familienplänen ausersehen, die um jeden Preis verwirklicht werden sollten.

In der Gegend, wo die meisten Glieder der Morynski’schen Familie ansässig waren, war vor einigen Jahren ein gewisser Nordeck aufgetaucht, ein Deutscher von niedriger Herkunft, der aber zu großem Reichthume gelangt war und sich nun hier niederließ. Die Verhältnisse in der Provinz machten es damals einem fremdem Elemente leicht, Boden zu gewinnen, wo man es ihm sonst bedeutend erschwert hätte. Die Nachwehen des letzten Aufstandes, der, wenn auch jenseits der Grenze ausgebrochen, doch die deutschen Landestheile in Mitleidenschaft gezogen hatte, machten sich noch überall fühlbar. Die Hälfte des Adels war flüchtig oder verarmt, in Folge der Opfer, die sie der Sache ihres Vaterlandes gebracht hatten, und so war es für Nordeck nicht schwer, die verschuldeten Güter für die Hälfte ihres Werthes an sich zu bringen und nach und nach in den Besitz einer Herrschaft zu gelangen, die ihm eine Stellung unter den ersten Grundbesitzern des Landes sicherte.

Freilich war der Eindringling von sehr geringer Bildung und abstoßender Persönlichkeit, auch ergab es sich bald, daß er ein durchaus charakter- und gesinnungsloser Mensch war, aber der riesige Besitz gab ihm nichtsdestoweniger eine Macht, die in der Umgegend nur zu bald gefühlt wurde, um so mehr, als sie sich mit entschiedener Feindseligkeit gegen alles kehrte, was Polenthum hieß, vielleicht aus Rache dafür, daß die ausschließlich aristokratische und slavische Nachbarschaft sich mit unverhehlt gegen ihn ausgesprochener Verachtung fernhielt. Mochten nun Unvorsichtigkeiten von dieser Seite vorgefallen sein, mochte der schlaue Fremde auf eigene Hand den Spion gespielt haben, genug, er erlangte Einsicht in gewisse Parteibestrebungen. Dies machte ihn zu einem höchst gefährlichen Gegner und seine Freundschaft geradezu zu einem Gebote der Nothwendigkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_463.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)