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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


unter dem Namen „Miguel“ mit Gedichten voll warmer Empfindung und von anziehender Formenschönheit.

Der Ausspruch Jean Paul’s, daß jeder Jüngling ein Dichter sei, wurde an ihm zur Wahrheit. Da brach am 13. März 1848 das Morgenroth einer schöneren Zeit an; der patriarchalische Absolutismus stürzte vor dem ersten Windhauche der Volksbewegung zusammen. An diesem Tage löste sich die Zunge des dichterischen akademischen Legionärs und am 14. März 1848 erschien ein poetisches Flugblatt: „Der Universität und den Bürgern“, aus seiner Feder, das mit Enthusiasmus die Erlösung aus dem Joche der geistigen Zwingherrschaft feierte. Etienne hatte die Weihe des Politikers empfangen, und er, der auch heute nicht mehr zu sein begehrt als ein schlichter Bürger ohne Titel und Orden, hat die Geburtsstunde seiner politischen Thätigkeit niemals verleugnet.

In einer Brochure „1) Oesterreich und Europa, 2) Von der Presse“ (erschienen am 4. April 1848) bringt er die Bewegung in Oesterreich mit den freiheitlichen Bewegungen im übrigen Europa in inneren logischen und historischen Zusammenhang und giebt dem Bedürfnisse nach dem einigen Deutschland kräftigen Ausdruck. In der zweiten Abhandlung bespricht er die Vortheile für die geistige Erhebung des Volkes durch die Freiheit der Presse. Von nun an sehen wir Etienne fortgesetzt an Journalen thätig, am „Wanderer“ und vornehmlich an der „Reform“ Sigmund Engländer’s. Eine Artikelserie, welche die Maitage von 1848 behandelte, verwickelte ihn in einen Preßproceß, in welchem er ohne juristischen Beistand seine Vertheidigung in glänzender Weise führte. Er suchte den Nachweis zu führen, daß er die Bewegung geschildert, wie sie die öffentliche Stimmung, das Volksbewußtsein, auffaßte. Noch bedeutsamer ist seine Charakteristik des Parteikampfes und seine Prophezeiung, daß die Revolution wegen der Zwietracht im Lager der Fortschrittsmänner ein ruhmloses Ende finden werde. Warnend erhob er vor den Geschworenen und dem Staatsanwalte seine Stimme: man möge, wenn man auch den Vorgängen vom 15. Mai (Sturmpetition) nachtheilige Folgen zuschreibe, sich wohl hüten, die Errungenschaften vom März preiszugeben, „an die Säulen des Tempels zu greifen, den Tempel der Freiheit umzustürzen“. Die Geschworenen, Männer des bürgerlichen Gewerbes, anfänglich gegen den Angeklagten gestimmt, sprachen wohl ein Schuldig, aber nicht im klägerischen Sinne, und statt zu drei Monaten, wurde Etienne zu drei Wochen einfachen Arrestes verurtheilt, von dem Tragen der Gerichtskosten jedoch freigesprochen.

Es kamen böse Tage über Wien, Kriegsgericht und Belagerungszustand. Etienne fand kein Organ zur Bethätigung seiner Gesinnung in Oesterreich, und so flüchtete er sich in ein ausländisches Journal. Der spätere Begründer der „Gartenlaube“, Ernst Keil, öffnete ihm die Spalten seines damaligen Organs „Der Leuchtthurm“, und darin legte Etienne in Correspondenz-Artikeln die authentische Geschichte der Bewegung von 1848, der Octoberrevolution, der Einnahme Wiens und des Auftretens Windischgrätz’ und der Kroaten nieder.

Die Stadtcommandantur hatte ein sorgsames Augenmerk auf Etienne gerichtet, und als auch die octroyirte Verfassung beseitigt und das Säbelregiment herrschend geworden war, konnte Etienne nicht mehr in Wien bleiben. Er wurde noch rechtzeitig gewarnt und konnte nur in aller Eile seine Flucht vorbereiten. Mit geringer Baarschaft kam er nach Floridsdorf an der Donau bei Wien, hielt sich dort „auf den Mühlen“ bei einem Schulcameraden versteckt, der auch mit den Bediensteten der Nordbahn vertraut war, und gelangte so ungefährdet über die Grenze. Auf allerlei Umwegen kam er nach Leipzig. Dort machte er, wie Etienne dem Schreiber dieser Zeilen oft mit dankbarer Erinnerung erzählte, seinen ersten und einzigen Besuch bei dem Herausgeber und Redacteur dieser Blätter, der ihn freundlich aufnahm, ihm ein kleines Guthaben seines Honorars ausbezahlte, aus Eigenem noch einen ansehnlichen Beitrag hinzufügte und für die Weiterreise des Flüchtlings besorgt war. Sein Ziel war Paris; dort verlebte er fünf Jahre, unterstützt von dem alten Freunde Sigmund Engländer, der ihn zur „Correspondance Havas“ brachte, mit den ernstesten Studien beschäftigt, dabei als Correspondent deutscher, meist rheinischer Blätter und der „Donau“ thätig, ausgezeichnet durch die Freundschaft Heinrich Heine’s. Von der ersten Stunde seines Pariser Aufenthaltes an war er ein entschiedener Gegner Napoleon’s und seines Systems. Begreiflicher Weise litt er fortgesetzt unter den Chicanen der Polizei, und Mr. Pietri ließ seine Mouchards ein wachsames Auge auf ihn richten. Endlich wurde er festgenommen und in Mazas in Haft gehalten, gleichzeitig mit seinem Freunde und Landsmann Moriz Hartmann. Bis 1855 war er als Journalist in Paris thätig, als die Weltausstellung dem Verbannten mit einem Male durch den Verkehr mit Deutschen und Oesterreichern das Bild der Heimath so mächtig vor die Seele zauberte, daß er dem Drange des Heimwehs nicht länger widerstehen konnte und über Mannheim und Süddeutschland nach Wien zurückkehrte, wo er anfangs als Redacteur der „Donau“ (ein Blatt, das der Arbeitsminister von 1848, Ernst von Schwarzer, herausgab) thätig war, um wenige Monate später an die Spitze der Redaction der „Presse“ zu treten. Seine wahrhaft glänzenden Leistungen verschafften diesem Blatte einen großen Aufschwung, einen ungeheuren Leserkreis und einen tiefgehenden politischen Einfluß. Er verband sich schon 1856 das Talent des Dr. Max Friedländer (gestorben am 20. April 1872), und sie Beide, brüderlich vereint, arbeiteten mit außerordentlichem Erfolge bis zum Mai 1864 an der „Presse“.

Am 1. September 1864 erschien die erste Nummer der „Neuen Freien Presse“, herausgegeben von Etienne und Friedländer – das größte Zeitungs-Unternehmen, das jemals in Oesterreich bestanden, nach seiner Einrichtung, seinem geistigen Inhalte, seinem politischen Einflusse eine der großartigsten Anlagen geistiger Production in deutscher Sprache. Glänzender konnte die Zeitungs-Literatur auf der letzten Weltausstellung nicht repräsentirt werden, als dies in dem Pavillon der „Neuen Freien Presse“ auf dem Ausstellungsplatze geschah, wo ein Abbild der derzeit vollkommensten Druck- und Falzmaschinenarbeit gegeben wurde. Die amtlichen Ausstellungsberichte aller Staaten enthalten Schilderungen dieses Pavillons und des (im Jahrgange 1873, Nr. 13 der „Gartenlaube“ eingehend besprochenen) palastähnlichen Gebäudes der „Neuen Freien Presse“ auf dem Kolowratringe. Die internationale Jury hat deshalb dieser Unternehmung auch den höchsten Preis, das „Ehrendiplom“, neben anderen Auszeichnungen zuerkannt. Was Raschheit der Berichterstattung, Lebhaftigkeit der Darstellung, Aufwand an telegraphischen Nachrichten anlangt, steht die „Neue Freie Presse“ vielleicht einzig in Deutschland da. Sie ist die Stimmführerin der österreichischen Journale, das Banner der Verfassungspartei, das hervorragendste Organ der deutsch-österreichischen Bevölkerung. Die nicht-österreichische Presse holt ihre Nachrichten fast durchweg aus diesem Journale, und dieses liefert nicht weniger als zehn Procent seiner Gesammtauflage in das Ausland. Ausgezeichnete Fachmänner der Landwirthschaft, des Handels und der Industrie, des Unterrichtswesens, der Kunst, des Kriegswesens veröffentlichen in den Fachblättern der „Neuen Freien Presse“ werthvolle Abhandlungen. Die besten Federn Deutschlands arbeiten für ihr Feuilleton.

Die amtliche Statistik bietet interessante Details über die Organisation dieses Journals, welches 600 Personen (darunter 50 interne Redactionsmitglieder, 80 bis 100 Correspondenten im Inlande, 120 Correspondenten im Auslande, 150 externe Mitarbeiter etc.) beschäftigt, an jährlichen Staatsabgaben die Summe von 252,000 Gulden und ebenso viel an Redactions-Honoraren verausgabt, dessen Jahres-Etat 1,205,000 Gulden beträgt. Dieses Journal leitet Michael Etienne (die Administration führt seit der Begründung des Blattes Herr Adolph Werthner) seit dem Tode Friedländer’s allein.

Etienne ist der Chefredacteur dieses Blattes. Nicht allzu Viele wissen, was das bedeutet. Welch’ eine mühevolle und verantwortliche Thätigkeit bietet die Hauptleitung eines großen, zweimal täglich erscheinenden Blattes! Inmitten eines Wustes von Zeitungen, Correspondenzen, Manuscripten, Briefen, Abzügen redigirt der Chef, conferirt er mit den Mitarbeitern, inspirirt er Artikel, revidirt er Beiträge, verhandelt er mit dem Factor und Metteur, empfängt er Besuche – und betrachtet es als eine geistige Erholung, wenn in später Abendstunde die Sammlung, „die Götterbraut, Mutter alles Großen“, wie der Dichter die traute Gefährtin des literarischen Arbeiters nennt, sich bei ihm einstellt und ihn auf die Tribüne des Leitartikels geleitet, um zu ungezählten Tausenden zu sprechen. In den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 502. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_502.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)