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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


acht Jahrgängen der „Presse“, in den elf Jahrgängen der „Neuen Freien Presse“ finden wir die Abhandlungen Etienne’s. Nehmen wir nun jene hundertzweiundvierzig Bände der „Neuen Freien Presse“ als die gesammelten Werke Etienne’s, so wird man von dieser Productivität mit großem und aufrichtigem Respect erfüllt.

Diese Kraft der Production wäre schier unerklärlich, wenn eben nicht die Tagesschriftstellerei ihrer Natur nach eine so eigenthümliche wäre. Der Reichthum politischer Beziehungen an den Brennpunkten des staatlichen Lebens, die unmittelbare Nähe der großen Staatskörperschaften, der treibenden und spinnenden Kräfte der Staatsmaschine, die sich sofort elektrisch mittheilende Erregung der Bevölkerung, das politische Fluidum, das den Journalisten umgiebt, durch alle Unterhaltungen und Gespräche der großen Stadt zuckt und dem Tagesschriftsteller persönlich nahe tritt – all’ dies setzt ihn in den Mittelpunkt der Politik, wirkt auf ihn, verarbeitet sich in ihm.

Etienne besitzt zudem ein lebhaft kräftiges Naturell, eine scharfe Urtheilskraft, die umfassendste literarische Bildung, eine Gewandtheit und Plastik des Ausdruckes, wie wenige Journalisten, eine wahrhaft classische Einfachheit der Diktion.[1] Gar kunstgerecht sind seine Situationsartikel, in welchen er die jeweilige Weltlage exponirt, aber seine Feder wird zur schneidigsten Waffe, wenn er die Dunkelmänner angreift, die Freiheit der Presse gegen Angriffe schützt oder das gefährdete Deutschthum in Oesterreich mit seinem jugendlichen Feuer zu vertreten hat. Vielleicht kein deutscher Publicist hat so unentwegt vom Staatsstreiche bis zum Tage von Sedan Napoleon den Dritten und sein System angegriffen und diesen Feind des europäischen Friedens in seinen letzten Zielen so vollständig klar erfaßt und verurtheilt, als Michael Etienne.

Sein Haß gegen Napoleon war geradezu sprüchwörtlich geworden, aber der weltgeschichtliche Ausgang hat ihn ebenso gerechtfertigt, wie Etienne’s voraussehendes Urtheil über das mexicanische Abenteuer. Ueber den nordamerikanischen Krieg und die Sclavenfrage hat er eine Reihe der trefflichsten Abhandlungen geschrieben, deren Grundton immer und immer wieder die Humanität war. Es ist noch in frischer Erinnerung, wie getheilt die Stimmung in Oesterreich bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges gewesen. Noch war die Wunde von 1866 nicht ganz verharscht; noch gab es staatskluge Männer genug, welche die Kaunitz’sche Politik eines Bündnisses mit Frankreich gegen Preußen Tag für Tag predigten; jede nationale Empfindung wurde verdächtigt; das „wahrhafte Oesterreicherthum“ feierte während der Hohenwart’schen Verwaltung Orgien über Orgien. Damals gab es in Menge Drohungen und Verleumdungen gegen die „Neue Freie Presse“ und ihren Leiter, aber der Letztere blieb treu seiner Gesinnung, und in seinem Blatte wurde die Sache Deutschlands wie eine eigene Sache Oesterreichs mit voller und ganzer Wärme vertreten. Das ist im deutschen Reiche nicht vergessen, und daß es dies nicht ist, davon gab der Lichtmeßtag dieses Jahres redende Beweise. Einen aus der Menge möchte ich citiren, nachdem ich so vieles aus eigener Wahrnehmung und Erfahrung gesagt; es ist Karl Gutzkow, der in einem Gedichte an den Jubilar sagt:

Michael – man denkt an’s Schwert,
Etienne – an Druck und Lesen;
Denn ein Drucker, hochgelehrt,
Ist einst Stephanus gewesen.
Kommt Dir Heil’ges mehr gelegen,
Dem Du eifertest zu gleichen,
Fehlt auch nicht der Steine Regen –
Laß’ den Silberkranz Dir reichen!
Ob zum Trutze, ob zur Wehre,
Deinem Namen machst Du Ehre.

R–r.




Bei der Frau Lerche.
Von F. A. Bacciocco.


Die Leute glauben, es sei das allerlustigste Leben im blanken Saatfeld und in der grünen Ackerkrume und wieder hoch oben im blauen Himmelsgezelt mit hellem Getriller und Geschmetter, daß es weit hinaus schallt, und sie glauben, es könne kein lustigeres Leben geben, als leichtconstruirter Nestbau im Frühjahr und lustige, flotte Wanderschaft im Herbste auf baldiges, lustiges Wiedersehen. Ja freilich, wenn die Leute nur eine Ahnung hätten von der Wirklichkeit der Sache! Es ist nicht Alles Mehlwurm, was glänzt, und es sind nicht lauter Freudenjodler, welche da oben über dem blanken Saatfeld hinausgejauchzt werden in die Welt. Die alte Frau Lerche hat mir das oft gesagt, und ich hab’ mir ihre Worte gemerkt und habe mir gedacht, daß es seine besonderen Umstände haben müsse mit ihrem bedächtigen, nachdenklichen Wesen, wenn sie so einschichtig einherwandelt in der einsamen Ackerkrume. Der stillen, sorglichen Frau gefällt wahrscheinlich nicht immer der überlaute Gesang, den der Herr Gemahl hoch oben anstimmt, aber der Herr Gemahl erklärt, daß er es einmal nicht lassen könne, und daß es seine einzige Freud’ sei auf der Welt und er seine Lust ebenso auslassen müsse wie seinen Schmerz – und so läßt sie ihn denn gewähren und sorgt sich allein und müht und plackt sich im rauhen Feld, als wenn sie zur Sklavin und Taglöhnerin geboren wäre. Ach, die Frau, die eigentlich von hochadliger Herkunft ist! Giebt es denn ein nobleres Geschlecht, ein Geschlecht, welches auf einen schöneren und älteren Stammbaum hinweisen kann, als „die von Lerche“!? Sie könnten die einfältige und gelehrte Welt hinweisen auf zahllose werthvolle literarische Documente, von der ehrwürdigen Bibel bis zum classischen Dichter und bis herab zum modernsten, leichtsinnigsten Feuilletonisten, die alle mit der gleichen Entschiedenheit bezeugen, daß gar kein nobleres Geschlecht aufzutreiben sei, wie das „derer von Lerche“. Und doch muß die arme Frau Tag aus und ein wahrhaft im Taglohn sich schinden und placken. Wir brauchen hier nicht einmal zu reden von den zahllosen Fährlichkeiten, welche sie auf der Herreise zu bestehen hat, von dem anstrengenden Flug über das viele Wasser, von den mannigfaltigen Nachstellungen, denen sie ausgesetzt ist, vom ersten Moment, da sie den „gastlichen“ Boden Europas betritt, bis zu der endlichen, häuslichen Niederlassung auf der heimischen Ackerkrume. Da reden die Leute nur immer von der singenden Lerche, aber von der sorgenden reden sie nicht. Man muß sie beobachten im stillen aufgrünenden Feld, wie sie, von der ersten Morgenröthe bis zur letzten Abendröthe bei der Arbeit, im Geschäft ist, um einen Begriff zu erhalten von ihrem mühseligen, stillbescheidenen Leben und Weben. Die Frau ist ein Muster von Arbeitsamkeit und Geduld; wahrhaftig! und sie könnte vielen Hausfrauen als Vorbild unter die leichtsinnige Nase gehalten werden.

Wenn der wankelmüthige April noch seinen feuchtkalten, graupigen Athem über die junge Saat bläst, beginnt bereits die Arbeit. Das Lerchenpaar hat sein altes Ackerstück wiedergefunden, und wenn es das alte Paar nicht ist, wenn dieses im afrikanischen Sande, oder am fernen Meeresgestade, oder, was noch viel eher möglich ist, in den zahllosen Netzen und Stricken auf den Ebenen oder im wilden Alpenstocke sein Leben eingebüßt hat, dann ist es jedenfalls sein Nachwuchs. Die Lerche kehrt zurück zur alten Scholle, wie der Staarmatz zum alten Baume oder Thurme, wie die Schwalbe zu ihrem Thorwege, wie der Buchfink zu seinem jungen Fichtenstande. Freilich ist das schwer zu beweisen. Aber die Bauern sagen und behaupten es, und das genügt mir. Der Bauer ist nämlich kein Phantast und Poet; er weiß, was er sagt. Er weiß, daß es derselbe Storch, derselbe Staar und dieselbe Schwalbe ist, die alljährlich bei ihm einkehrt, und er weiß auch, daß es dieselbe Lerchenfamilie ist. Ein alter Pächter sagte mir einmal, auf eine hübschgelegene Hufe Ackerland zwischen Hutweiden deutend: „Seit zwanzig Jahren, seit ich hier bin, hat auf dem Stücke

  1. Wie frisch und elegant Etienne über rein literarische Gegenstände zu schreiben versteht, hat er erst neulich wieder in seinem prächtigen Artikel „J. Michelet (Nr. 4219 vom 25. Mai) bewiesen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_503.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)