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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


freundlich gegen mich zu sein, o ja! und das mag ihr oft Mühe genug kosten, aber sie kann die innere Abneigung nun einmal nicht überwinden, und ich kann’s auch nicht – also haben wir uns Beide nichts vorzuwerfen.“

Wanda schwieg betreten. Die Wendung, die das Gespräch nahm, befremdete sie im höchsten Grade. Waldemar schien das nicht zu bemerken; er fuhr in herbem Tone fort:

„Die Fürstin Baratowska ist und bleibt mir fremd. Ich gehöre nicht zu ihr und ihrem Sohne – das fühle ich bei jeder neuen Begegnung. Sie ahnen nicht, Wanda, was es mich kostet, immer wieder diese Schwelle zu betreten, immer wieder dieses Zusammensein zu ertragen. Es ist eine wahre Tortur, die ich mir auferlege, und ich habe nie geglaubt, daß ich sie so geduldig aushalten würde.“

„Aber weshalb thun Sie es denn?“ rief Wanda unvorsichtig. „Es zwingt Sie ja Niemand dazu.“

Er sah sie an. Die Antwort lag in seinen Augen, lag so deutlich darin, daß das junge Mädchen bis an die Stirn erröthete. Der heiße, vorwurfsvolle Blick sprach auch gar zu deutlich.

„Sie thun der Tante Unrecht,“ versetzte sie rasch, wie um ihre Verwirrung zu verbergen. „Sie muß und wird doch ihren eigenen Sohn lieben.“

„O gewiß!“ Die Bitterkeit Waldemar’s ließ sich jetzt nicht länger bewältigen. „Ich bin überzeugt, daß sie Leo sehr liebt, trotz ihrer Strenge gegen ihn, aber weshalb sollte sie mich lieben, oder ich sie? Ich hatte kaum die ersten Lebensjahre hinter mir, da verlor ich Vater und Mutter zugleich. Da wurde ich fortgerissen aus der Heimath, um im fremden Hause aufzuwachsen. Als ich später denken und fragen lernte, da vernahm ich, daß die Ehe meiner Eltern ein Unglück gewesen war, ein Unglück für Beide, daß sie sich im bittersten Haß von einander losgerissen hatten, und ich habe es erfahren, wie dieser Haß über Tod und Grab hinaus noch in mein Leben eingriff. Man sagte mir, die Mutter sei an Allem schuld gewesen, und doch hörte ich so manche Aeußerung, so manche Andeutung über den Vater, die mich auch an ihm irre machte. Wo andere Kinder lieben und verehren dürfen, da wurden mir Argwohn und Mißtrauen eingeflößt – ich kann sie jetzt nicht wieder los werden. Der Onkel ist gut gegen mich gewesen; er hat mich auch lieb in seiner Weise, aber er konnte mir doch auch nichts anderes bieten, als das Leben, das er selbst führt. Sie werden es ja wohl zur Genüge kennen; ich glaube, man ist bei meiner Mutter sehr genau darüber unterrichtet – und da verlangen Sie von mir, Wanda, ich soll die Poesie kennen?“

Die letzten Worte klangen wie ein grollender Vorwurf, und doch barg sich tief dahinter etwas wie eine dumpfe Klage. Wanda blickte mit großen erstaunten Augen auf ihren Begleiter, den sie heute gar nicht wieder erkannte. Es war freilich das erste Mal, daß sie in ein ernstes Gespräch mit ihm gerieth, daß er seine einsilbige Zurückhaltung ihr gegenüber aufgab. Auch ihr war das eigenthümlich kalte Verhältniß zwischen Mutter und Sohn nicht entgangen, aber sie hatte nicht geglaubt, daß dieser überhaupt eine Empfindung dafür habe; hatte er doch bisher mit keiner Silbe darauf hingedeutet, und nun auf einmal verrieth er eine fast leidenschaftliche Kränkung darüber. Dem jungen Mädchen kam erst in dieser Stunde eine Ahnung davon, wie einsam, wie grenzenlos leer und öde die Jugend Waldemar’s gewesen sein mußte, und wie verlassen und freundlos der junge Erbe, dessen Reichthum sie so oft hatte preisen hören.

„Sie wollten ja den Sonnenuntergang sehen,“ sagte Waldemar, plötzlich abbrechend, in ganz verändertem Tone, indem er sich erhob und an ihre Seite trat. „Ich glaube, wir haben ihn heute in seltener Pracht.“

Das Gewölk, das den Horizont umsäumte, war in der That schon von rother Gluth umflossen, und die Sonne selbst sank in voller Klarheit dem Meere zu, das seltsam aufleuchtete, als es den Abschiedsgruß des scheidenden Gestirns empfing. Eine Fluth von Glanz und Licht schien darüber hinzuströmen und sich weithin zu verbreiten. Dort drüben aber, wo Vineta auf dem Meeresgrunde ruhte, brannten die Wellen in dunklem Purpurscheine; in ihren Furchen glänzte es wie flüssiges Gold und tausende von strahlenden Funken tanzten darüber hin. Es liegt doch etwas in den alten Sagen, was sie weit hinaushebt über den Aberglauben, und man kann ein Kind der neuen Zeit sein, und doch voll und ganz die Märchenstunde erleben, in der das alles wieder lebendig wird. Es waren ja Menschen, welche die Sagen schufen, und ihre ewigen Räthsel, wie ihre ewigen Wahrheiten ruhen noch heute tief in der Menschenbrust. Freilich nicht Jedem öffnet sich das jetzt so streng verschlossene Märchenreich, aber die Beiden auf dem Buchenholme mußten wohl zu den besonders Begünstigten gehören, denn sie fühlten deutlich den Zauber, der sie leise, aber unwiderstehlich in seine Kreise zog, und keines hatte den Muth oder den Willen, sich ihm zu entreißen.

Ueber ihren Häuptern rauschten die Buchenwipfel im Winde, und noch lauter rauschte das Meer zu ihren Füßen. Woge auf Woge kam an das Ufer gerollt; die weißen Schaumkronen auf den Häuptern, bäumten sie sich einen Moment lang empor, um dann zischend am Strande zu zerschellen. Es war die alte mächtige Melodie des Meeres, jene aus Windesrauschen und Wellenbrausen zusammengesetzte Melodie, die mit ihrer ur-ewigen Frische jedes Herz gefangen nimmt. Sie singt von träumender sonnenbeglänzter Meeresstille, von Sturmestoben mit all seinem Schrecken und Verderben, von rastlosem, endlosem Wogen und Leben, und jede Welle bringt einen Ton davon an’s Ufer, und jeder Windhauch bringt den Accord dazu.

Waldemar und seine jugendliche Gefährtin mußten diese Sprüche wohl verstehen, denn sie lauschten ihr in athemlosem Schweigen, und für sie klang auch noch etwas Anderes mit hindurch. Aus der Tiefe der Fluth schwebten die Glockenklänge zu ihnen empor, und es legte sich ihnen um das Herz, wie Schmerz und Sehnsucht, und doch wieder wie die Ahnung eines unendlichen Glückes. Den purpurnen Wellen aber entstieg ein schimmerndes Luftgebild. Es schwebte auf dem Meere; es zerfloß im Sonnengolde und stand doch klar und leuchtend da, eine ganze Welt voll unermessener, nie gekannter Schätze, von ihrem Zauberglanze umwoben, die alte Wunderstadt – Vineta.

Der glühende Sonnenball schien jetzt mit seinem strahlenden Rande die Fluth zu berühren; tief und tiefer sinkend, entschwand er langsam den Blicken; noch einmal flammte es am Horizonte auf, wie mit feuriger Lohe – dann war das Licht verschwunden, und auch das dunkle Roth, das noch auf dem Wasser lagerte, begann allmählich zu verblassen.

Wanda athmete tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn. „Die Sonne ist nieder,“ sagte sie leise, „wir werden an die Rückkehr denken müssen.“

„An die Rückkehr?“ wiederholte Waldemar wie im Traume. „Schon jetzt?“

Das junge Mädchen erhob sich rasch, als gelte es irgend einer beängstigenden Empfindung zu entfliehen. „Das Tageslicht bleibt nicht mehr allzulange, und wir müssen jedenfalls bei anbrechender Dämmerung in C. sein, sonst verzeiht uns die Tante nie diese eigenmächtige Fahrt.“

„Das werde ich bei meiner Mutter vertreten,“ sagte Waldemar, auch er schien sich zu den gleichgültigen Worten förmlich zwingen zu müssen, „wenn Sie aber die Rückkehr wünschen –“

„Ich bitte darum.“

Der junge Mann machte eine Wendung nach dem Boote hin, auf einmal aber hielt er inne.

„Sie wollen ja wohl fort, Wanda? Schon in wenigen Tagen? Nicht wahr?“

Die Frage klang seltsam erregt, und auch in der Stimme der jungen Gräfin lag nicht die gewöhnliche Unbefangenheit, als sie antwortete:

„Ich muß zu meinem Vater; er entbehrt mich schon so lange.“

„Meine Mutter und Leo gehen nach Wilicza –“ Waldemar stockte bei den Worten, als ob ihm irgend etwas den Athem benehme. „Es ist die Rede davon, daß ich sie begleite – darf ich das?“

„Weshalb fragen Sie mich danach?“ fragte Wanda mit einer ihr sonst ganz fremden Befangenheit. „Es hängt doch einzig von Ihnen ab, ob Sie Ihre Güter besuchen wollen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_515.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)