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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Soweit die Tanne reicht, also bis zu sehr ansehnlicher Höhe, dehnt der Berghirsch seine Wanderungen aus und kommt eben so selten in die Niederung, wie die scheue Gemse. Die dominirende Gewalt der alpinen Natur, welche allen lebenden Wesen in ihrem Bereiche das Merkmal ihrer Eigenheit verleiht, hat auch den Berghirsch mit einer Fülle von Eigenschaften ausgestattet, die ihn weit über seines Gleichen in der Ebene erheben. Hervorragend an Größe, zeichnet er sich durch besondere Kraft und Behendigkeit aus und mancher sonst erfahrene Jäger hat zugestanden, daß ihn beim erstmaligen Anblicke eines solchen herrlichen Thieres eine Aufregung befallen habe, die ihn zum Werke völlig unfähig machte.

Wenn der Berghirsch durch das Dickicht bricht, aufgescheucht von menschlichen Wesen oder im Zornesmuthe der beleidigten Hoheit, dann schallt es und kracht es im Walde, als ob der Sturm durch die Büsche zöge, und prasselnd zersplittern die Zweige am Gehörne des ungestümen Flüchtlings. Wenn im Herbste die Natur seine Triebe mächtig erregt, dann durchtönt ein gewaltiges Brüllen die Schluchten der Berge, und gar oft hört man das Getöse des wilden Kampfes zweier Nebenbuhler bis weit in’s Thal herab. Mit welcher Erbitterung derartige Angelegenheiten ausgefochten werden, ist zur Genüge bekannt; ist es doch schon mehrere Male vorgekommen, daß zwei kämpfende Hirsche sich mit den Geweihen so in einander verstrickten, daß sie unmöglich mehr aus einander konnten und dadurch ihr beiderseitiger Untergang herbeigeführt wurde.

In den Bergen des Algäu kommt diese Gattung Hirsche noch sehr häufig vor, in einzelnen Revieren sogar in solcher Zahl, daß in einer Saison oft Hunderte abgeschossen werden müssen, um den empfindlichen Wildschaden etwas herabzumindern. Die außergewöhnliche Kraft und Abhärtung macht dem Berghirsche das Ueberwintern leichter; denn er ist nicht allein zu größeren Wanderungen befähigt, sondern vermag auch eher zu einer Nahrung zu gelangen, die für das übrige Rothwild unerreichbar ist; besonders wählerisch ist allerdings der Edle nicht. Es kam z. B. im vergangenen Winter in der Hindelanger Gegend vor, daß Hirsche den gewaltigen Düngerhaufen eines ziemlich hochgelegenen Gehöftes bis auf das letzte Atom vollständig aufgefressen haben. Der jüngeren Generation muß bei sehr strengen Wintern durch Füttern etwas nachgeholfen werden; an solchen Stellen versammeln sich dann ganze Rudel „Wildpret“, wie man diese Familie schlechtweg dort zu Lande bezeichnet, und harren stundenlang geduldig, bis die Barmherzigkeit des Jägers etwas Heu zur Stelle schafft; in gewöhnlichen Zeiten begnügt sich letzterer, ein paar Rothtannen fällen zu lassen, die mit Rinde, Sprossen und Nadeln für viele Tage Nahrung geben. Geht endlich der Schnee fort, dann sehen freilich die Thiere sehr herabgekommen aus, allein in einigen Wochen haben sie sich wieder erholt und durchstreifen, von Kraft und Uebermuth strotzend, auf’s Neue die Wälder.

Die Herbsttreibjagden sind für den Hirsch am gefährlichsten; fast jeder Tag bringt ein paar der gewaltigen erlegten Burschen in die Thalstätten herab, wo sie vom Wildhändler erwartet werden. Mit einer gewöhnlichen Holzsäge wird dann das Geweih sammt einem handbreiten Stück der Hirnschale vom Kopfe abgetrennt, und das Stück selbst wandert entweder ganz oder zerwirkt nach seinem Bestimmungsorte, zumeist in die größeren Bäder der Schweiz, um den Gaumen der wildpretlüsternen Touristen zu laben. Der Wildexport nach der Schweiz ist ein außerordentlicher, und von dem Städtchen Immenstadt gehen hunderte von Centnern über den Bodensee, um die Schweizerküche mit landesüblichen Producten zu versehen.

Die Einzeljagd auf den Hirsch hat so wenig Gefahren im Gefolge wie die Gemsjagd, wenn der Jäger nicht selbst in seinem Eifer durch Nichtbeachtung des Terrains eine bedenkliche Situation herbeiführt. Am schwierigsten ist es in solchen Fällen meistens, das geschossene Stück zu holen, da das waidwunde Thier, von Kraft und Instinct verlassen, gewöhnlich ohne Wahl geraden Weges sich zur Flucht wendet und daher leicht in Schluchten und Abgründe stürzt, die schwer zugänglich sind.

Ein höchst interessanter derartiger Fall hat sich im letzten Winter in der Oberstdorfer Gegend, hart an der Vorarlberg’schen Grenze, zugetragen. Ein Oberstdorfer Jäger war so glücklich, einen prächtigen Hirsch aufzuspüren, der hart an der Grenze wechselte und dem deshalb mit um so größerem Eifer nachgestellt wurde. Das Terrain ist dort jedoch so eigenartig, daß es einer vorhergehenden Beschreibung desselben bedarf, um dem Nachfolgenden den Charakter des Außerordentlichen zu sichern. Unmittelbar vor dem Eingang in das kleine Walserthal liegt eine der wildesten Schluchten, die im deutschen Hochlande existiren. Jahrtausende hindurch mögen die von den umliegenden bedeutenden Höhen sich sammelnden Wassermassen mit der ganzen Wucht ihrer elementaren Kraft gekämpft haben, bis es ihnen möglich geworden ist, die ungeheuren Felswände zu durchbrechen, zwischen denen sich jetzt in schwindelnder Tiefe ein Gebirgsstrom brüllend und schäumend durchzwängt, und dieses gewaltige Bild der vorweltlichen Revolutionen hat der Gebirgsbewohner nicht mit Unrecht „die Zwing“ benannt. Ein kleiner, schmaler Steg führt über die schaurige Schlucht, und wenn man von dort weg in die grausige Tiefe blickt, drängt sich uns das Blut zum Gehirn und eine unnennbare Macht zwingt uns, vom Geländer der kleinen Brücke weit zurückzurücken, da der Anblick des Abgrundes zu überwältigend ist, als daß Jemand, der an denselben nicht gewöhnt ist, mit Kaltblütigkeit in die Kluft hinabzusehen vermöchte. Die Felswände fallen in eine Tiefe von weit über siebzig Meter thatsächlich senkrecht bis zum schäumenden Wasserspiegel ab, und kein Strauch, kaum ein Moosfleckchen, giebt dem irrenden Auge einen Halt, wenn es über die feuchten grauen Steinwände hinabgleitet in ein gespenstiges Dunkel, aus dem nur der helle Gischt des wüthenden Stromes heraufleuchtet, wie der zornige Blick eines in dämonischer Umgarnung sich windenden Riesen. Die beiden Felswände liegen in einer Entfernung von höchstens einigen Metern von einander da, und es trägt diese Enge der Schlucht ungemein viel dazu bei, den schaurigen Eindruck zu erhöhen. Wirft man einen Stein oder ein Stück Holz in die Tiefe, so hört man in immer weiterer Entfernung das Anschlagen des Körpers an die Felsen, und nach erheblicher Pause folgt endlich das prasselnde Zerstieben auf dem Gestein oder der dumpfe Fall in den Strom. Oft schleudert das Hochwasser große Tannen in die Zwing; nach wenigen Minuten sind sie aller Aeste und Wurzeln beraubt, und der fußdicke Stamm erscheint, von oben gesehen, wie ein erbärmlicher Prügel von einigen Centimeter Dicke. Was Wunder, wenn die Volkssage hier böse Dämonen hausen läßt, ja die Zwing bis zu einen gewisse Grade sogar mit der Unterwelt identificirt, indem sie einen reichen, aber gewissenlosen Walser Käsehändler, auf einer Käsekiste sitzend, in der Tiefe geistern und jammernd auf Erlösung harren läßt.

Im Winter sieht es hier womöglich noch fürchterlicher aus; die ungeheuren Felswände sind mit einer dicken, grünlich schimmernden Eisdecke überzogen, und an den hervorragenderen Stellen bilden sich ungeheure Eiszapfen, die wie Krystallsäulen zur Tiefe streben, während ein nebelgleicher Dunst bei strenger Kälte das Gewässer verbirgt und den Abschluß des eigenartigen Gemäldes noch geheimnißvoller gestaltet. Auf der rechten Seite dieser Schlucht, die überall von Tannenwald umgeben ist, erhebt sich eine gleichfalls senkrechte Felswand ungefähr vierzig bis fünfzig Meter hoch, und auf der Höhe dieses Aufbaues, der mit Nadelholz reichlich bewachsen ist, kam der obenerwähnte Jäger zum Schusse auf den lange verfolgten Hirsch.

Auf einem anderen Platze wäre das Wild eine sichere Beute des Jägers gewesen, denn in Folge der empfangenen Wunde mußte der Hirsch nothwendiger Weise nach kurzer Flucht verenden. Der Hirsch brach auf den Schuß hin zusammen, raffte sich jedoch gleich wieder auf, schlug eine andere Richtung ein, machte ein paar gewaltige Sätze – dann war Alles todtenstill – der Hirsch blieb verschwunden. Da es bereits dunkelte, war es zu gewagt auf diesem Punkte der Fährte des Flüchtlings zu folgen, und am nächsten Tage war dieselbe von fußhohem, neu gefallenem Schnee gänzlich verdeckt. Man suchte alles ab, fand nirgends eine Spur, und nun konnte so ziemlich sicher angenommen werden, daß der Hirsch in die „Zwing“ gefallen sei.

Das Ereigniß war in der Umgegend schnell bekannt; Jagd- und Abenteuerlust, sowie Freude an halsbrecherischen Unternehmungen sind bei den Bergbewohnern durchaus nicht in Abnahme gerathen, und so ist es leicht erklärlich, daß man die Möglichkeit, den Hirsch zu finden und etwa gar zu holen, bald in den Wirthsstuben besprach. Ein junger Oberförster war der Erste, welcher sich daran machte, in Begleitung von einigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_518.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)