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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


eben noch geduldig, mit Verleugnung seines ganzen Charakters, sich jeder Laune Wanda’s beugte, ihr und den Ihrigen in so furchtbarer Erregung den Rücken kehrte, daß er das Haus der Mutter in einer Weise verließ, die auf Nimmerwiederkehr deutete. Aber auch hier in Altenhof verfloß der ganze Nachmittag, ohne daß Waldemar sich zeigte. Doctor Fabian harrte vergebens; er war froh, daß Herr Witold die Abwesenheit seiner beiden Hausgenossen benutzt hatte, um nach der nahegelegenen Stadt zu fahren, von wo er erst gegen Abend zurückerwartet wurde – so entging man wenigstens für’s Erste seinen unvermeidlichen Fragen.

Stunde um Stunde verging; der Abend brach herein, aber weder der Inspector, der in der Försterei gewesen war, noch die Leute, die vom Felde heimkamen, hatten den jungen Herrn gesehen. Jetzt trieb die Angst den Doctor zum Hause hinaus; er ging eine Strecke den Fahrweg hinauf, der nach dem Gute führte und den jeder Ankommende passiren mußte. In einiger Entfernung zog sich ein sehr breiter und tiefer Graben hin, der meistens voll Wasser stand, aber die Hitze dieses Sommers hatte ihn völlig ausgetrocknet, und die mächtigen Feldsteine, mit denen der Grund förmlich gepflastert war, lagen offen da. Von der Brücke, die hinüber führte, hatte man einen weiten Umblick auf die Felder ringsum. Noch war es völlig hell im Freien, nur der Wald fing schon an, sich in Dämmerung zu hüllen. Rathlos stand Doctor Fabian auf der Brücke und überlegte eben, ob er weitergehen oder umkehren solle – da endlich erschien in der Ferne die Gestalt eines Reiters, der im Galopp näher kam. Der Doctor athmete auf; er wußte selbst nicht recht, was er eigentlich gefürchtet hatte, aber die Befürchtung war ja grundlos gewesen, und voll Freude darüber eilte er am Graben entlang dem Ankommenden entgegen.

„Gott sei Dank, daß Sie da sind, Waldemar!“ rief er. „Ich habe mich so sehr Ihretwegen geängstigt.“

Waldemar parirte sein Pferd beim Anblick seines Lehrers. „Weshalb?“ fragte er kalt. „Bin ich ein Kind, das man nicht aus den Augen lassen darf?“

Es war trotz der erzwungenen Ruhe ein fremder Klang in seiner Stimme, der die kaum beschwichtigten Besorgnisse des Doctors wieder aufwachen ließ. Er sah erst jetzt, daß das Roß bis zum Tode erschöpft schien; es war über und über mit Schweiß bedeckt; aus seinen Nüstern floß der Schaum nieder, und die Brust hob sich keuchend. Das Thier war augenscheinlich ruhelos umhergejagt worden, nur der Reiter zeigte keine Spur von Ermüdung; er saß fest im Sattel, hatte mit eisernem Griff die Zügel gefaßt und machte jetzt, statt seitwärts nach der Brücke zu lenken, Miene, über den Graben zu setzen.

„Um Gotteswillen!“ wehrte Fabian ab. „Sie werden doch nicht eine solche Tollkühnheit begehen – Sie wissen ja, Normann nimmt den Graben nie.“

„So nimmt er ihn heute,“ erklärte Waldemar, seinem Roß die Sporen in die Seite setzend; es stieg hoch empor, aber es scheute zurück vor dem Hinderniß und mochte auch wohl fühlen, daß die erschöpften Kräfte ihm den Dienst versagen würden.

„Aber so hören Sie doch!“ flehte der Doctor, indem er trotz seiner Furcht vor dem bäumenden, schlagenden Thiere nahe herantrat. „Sie verlangen Unmögliches; der Sprung mißlingt, und Sie zerschmettern sich im Sturze den Kopf an den Steinen da unten.“

Statt aller Antwort trieb Waldemar seinen Normann von Neuem an. „Gehen Sie mir aus dem Wege!“ stieß er hervor. „Ich will nun einmal hinüber – aus dem Wege, sage ich.“

Der wilde, qualvoll gepreßte Ton zeigte dem Doctor, wie es in diesem Augenblick um seinen Zögling stand und daß er nicht viel darnach fragte, ob er sich wirklich da unten auf den Steinen zerschmetterte. In seiner Todesangst vor dem Unglück, das er unvermeidlich herankommen sah, wagte es der sonst so furchtsame Mann, in die Zügel zu greifen, und wollte seine Vorstellungen fortsetzen. In demselben Moment aber sauste ein furchtbarer Hieb der Reitpeitsche auf das widerspänstige Roß nieder; es bäumte sich in die Höhe und schlug wild mit den Vorderfüßen in die Luft, aber es versagte den Sprung. Zugleich schlug ein schwacher Schrei an das Ohr des Reiters; er stutzte, hielt inne und riß dann blitzschnell das Thier zurück – es war zu spät. Doctor Fabian lag bereits am Boden, und als Waldemar in der nächsten Secunde vom Pferde sprang, sah er seinen Lehrer blutend, ohne Lebenszeichen vor sich liegen.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Classiker der Gegenwart.


Auf den deutschen Bühnen haben sich seit dreißig Jahren wenige Dramen so eingebürgert wie „Zopf und Schwert“, „Das Urbild des Tartüffe“, „Uriel Acosta“ und „Der Königslieutenant“; auch „Werner oder Herz und Welt“ und „Ein weißes Blatt“ üben fort und fort eine seltene Anziehungskraft. Der Dichter, der es so meisterhaft verstanden, die Sympathie unseres Volkes dauernd zu gewinnen, ist zwar den Lesern der „Gartenlaube“ im Jahre 1854 schon einmal vorgeführt worden. Indeß hat sich seitdem der Kreis der Leser dieses Blattes so sehr erweitert, daß eine abermalige Vorstellung dieses Helden der alten Garde, dieses „Ritters vom Geiste“, der vom Zahn der Zeit zwar berührt, aber in seinem Wesen nicht verändert worden ist, berechtigt und willkommen erscheinen muß.

Die Bedeutung Gutzkow’s in der deutschen Literatur und für das deutsche Volk ist durch den politischen Aufschwung unserer Nation nur gestiegen. In seinen zahlreichen Schriften hat er eine Vielseitigkeit des Wissens in der schönsten und anregendsten Form niedergelegt, wie kaum ein anderer unserer neueren Schriftsteller. Ueber Natur und Geschichte, Wissenschaft und Kunst, Volksleben und Politik, Philosophie und Religion, die kirchlichen und politischen Parteifragen, die Entwickelung der einheimischen und ausländischen Literatur, die hervorragenden Persönlichkeiten und die maßgebenden Einflüsse, kurz, über Alles, was unser höheres Leben in der Gegenwart bedingt und hebt, findet sich bei Gutzkow die reichste Fülle von Aufschlüssen. Er ist einer der vorzüglichsten Rathgeber für Alle, die den Pulsschlag unserer Zeit zu vernehmen wünschen und für einen gesunden Blutumlauf im Organismus unseres Volkes zu sorgen bemüht sind.[1]

Gutzkow hat sich vorzüglich an den Altmeister Goethe angeschlossen. Er suchte für unsere Zeit das zu werden, was

  1. Ihrem Inhalte nach lassen sich Gutzkow’s Schriften in folgende Etappen eintheilen:
    1) Autobiographisches: „Aus der Knabenzeit“, „Die schöneren Stunden“, „Lebensbilder“, „Rückblicke auf mein Leben“.
    2) Zeitgeschichtliches: „Öffentliche Charaktere“, „Säcularbilder“, „Zur Geschichte unserer Zeit“ etc.
    3) Literaturgeschichtliches: „Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte“, „Börne’s Leben“, eine große Anzahl maßgebender Kritiken, „Vermischte Schriften“, „Die kleine Narrenwelt“.
    4) Satirisches zur Geißelung geistiger Verirrungen und pathologischer Zustände unserer Zeit: „Maha Guru“, „Blasedow und seine Söhne“, „Die literarischen Elfen“ etc.
    5) Novellistisches: „Das Johannisfeuer“, „Der Wärwolf“, „Eine Phantasieliebe“, „Seraphine“, „Die Wellenbraut“, „Die Selbsttaufe“ und Alles, was im zweiten, dritten und vierten Bande der neuen Ausgabe der „Gesammelten Schriften“ steht.
    6) Reiseeindrücke: „Paris und Frankreich in den Jahren 1834 bis 1874“, „Aus Deutschland, der Schweiz, Holland und Italien 1832 bis 1873“.
    7) Größere Romane: „Die Ritter vom Geiste“, „Der Zauberer von Rom“, „Die Söhne Pestalozzi’s“, „Hohenschwangau“, „Fritz Ellrodt“.
    8) Zwanzig Dramen, darunter sieben Tragödien: „Uriel Acosta“, „Patkul“, „Philipp und Perez“, „.Pugatschew“, „Richard Savage“, „Wullenweber“, „Lisli“; sieben Lustspiele: „Das Urbild des Tartüffe“, „Zopf und Schwert“, „Der Königslieutenant“, „Fremdes Glück“, „Lenz und Söhne“, „Die Schule der Reichen“, „Lorbeer und Myrthe“; fünf Schauspiele: „Ella Rose“, „Ein weißes Blatt“, „Werner oder Herz und Welt“, „Ottfried“, „Der dreizehnte November“; ein tragikomisches Schauspiel: „Nero“.
    9) Dramaturgisches: „Ueber Theaterschulen“, und eine reiche Anzahl gelegentlicher Erörterungen über die Bühne.
    10) Philosophisches: „Philosophie der That und des Ereignisses“, „Denksprüche vom Baume der Erkenntniß“.
    11) Lyrisches, meist Ergüsse augenblicklicher Stimmungen.
    12) Epigrammatisches, noch bis in die neueste Zeit fortgehend in der „Deutschen Dichterhalle“.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_532.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)