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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 35.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Gretchen Frank mochte ungefähr zwanzig Jahre alt sein; sie war durchaus keine zarte, ideale Erscheinung, aber dafür ein wahres Bild von Jugend und Gesundheit. Es lag in ihrem ganzen Wesen etwas von der stattlichen, kräftigen Art des Vaters, und das frische, rosige Gesicht mit den klaren blauen Augen und den blonden Flechten über der Stirn sah jetzt, von dem hellen Scheine der Lampe angestrahlt, so reizend aus, daß man es begriff, daß der Assessor die schnöde Flucht „bis zur Bodenkammer“ vollständig vergaß und eiligst aufsprang, um seine Auserkorene zu begrüßen.

„Guten Abend, Herr Assessor!“ sagte das junge Mädchen, die Begrüßung etwas kühl erwidernd. „Also Sie waren es, der vorhin in den Hof fuhr? Ich setzte das gar nicht voraus, da Sie erst am Sonntage hier waren.“

Der Assessor fand für gut, die letzten Worte zu überhören. „Mich führen diesmal Amtsgeschäfte her,“ entgegnete er, „ein Auftrag von großer Wichtigkeit, den man mir anvertraut hat und der mich einige Tage hier in der Gegend festhält. Ich habe mir erlaubt, die Gastfreundschaft Ihres Herrn Vaters in Anspruch zu nehmen. Wir von der Regierung haben jetzt schlimme Zeit, Fräulein Margarethe. Ueberall dumpfe Gährung, geheime Umtriebe, revolutionäre Bestrebungen – die ganze Provinz ist eine einzige große Verschwörung.“

„Das brauchen Sie uns nicht erst zu sagen,“ meinte der Administrator trocken. „Ich dächte, das hätten wir hier in Wilicza aus erster Hand.“

„Ja wohl, dieses Wilicza ist der eigentliche Herd der Verschwörungen,“ rief der Assessor im Eifer. „In Rakowicz wagen sie das Spiel nicht so offen zu treiben; es liegt dicht bei L. und ist rechts und links von deutschen Colonien eingeschlossen – das genirt den Herrn Grafen Morynski doch einigermaßen, hier dagegen hat er freie Hand.“

„Und das günstigste Terrain,“ setzte Frank hinzu. „Bis zur Grenze Nordeck’sches Gebiet, nichts als Wald und die Förster und Forstaufseher darin zu den Befehlen der Fürstin. Man sollte meinen, die Grenze wäre so scharf bewacht, daß auch nicht eine Katze durch könnte, und doch geht es allnächtlich hinüber und herüber, und wer von drüben kommt, findet offene Thüren in Wilicza, wenn es auch vorläufig nur die Hinterpforten sind.“

„Wir wissen das Alles, Herr Frank,“ versicherte der Assessor mit einer Miene, die zum Mindesten Allwissenheit verkündete. „Alles, sage ich Ihnen. Aber wir können nichts thun, denn uns fehlt jeder Beweis. Es ist absolut nichts zu entdecken. Sobald sich Jemand von unserer Seite naht, ist das ganze Treiben in die Erde versunken. Auch meine Mission hängt damit zusammen, und da Sie die Polizeiverwaltung hier haben, so bin ich zum Theil auf Ihren Beistand angewiesen.“

„Wenn es sein muß! Sie wissen, ich gebe mich nur ungern zu solchen Diensten her, obgleich man im Schlosse darauf besteht, mich für einen Spion und Häscher zu halten, weil ich meine Augen nicht absichtlich verschließe und der Widersetzlichkeit meiner Leute mit voller Strenge entgegentrete.“

„Es muß sein. Es handelt sich um zwei sehr gefährliche Subjecte, die sich hier in der Gegend unter allerlei Vorwänden herumtreiben und womöglich dingfest zu machen sind. Ich bin ihnen übrigens bereits auf der Spur. Bei meiner Herfahrt traf ich mit zwei äußerst verdächtigen Individuen zusammen. Sie gingen zu Fuße.“

Gretchen lachte laut auf. „Ist das ein Verdachtsgrund? Sie hatten vermuthlich kein Geld, die Post zu bezahlen.“

„Bitte sehr um Entschuldigung, mein Fräulein – sie hatten sogar Geld genug für die Extrapost, denn sie fuhren in einer solchen an mir vorüber. Auf der letzten Station aber haben sie den Wagen verlassen und sich in auffälliger Weise nach allen möglichen Einzelheiten über Wilicza erkundigt. Die angebotene Führung dorthin lehnten sie ab und gingen zu Fuße weiter, aber mit Vermeidung der Landstraße, quer durch die Felder. Dem Postmeister wollten sie auf keine seiner Fragen Rede stehen. Ich traf leider erst auf der Station ein, als sie bereits fort waren, und die einbrechende Dämmerung machte für heute den weiteren Nachforschungen ein Ende, morgen aber werde ich sie mit allem Eifer wieder aufnehmen. Die Beiden sind jedenfalls noch in der Nähe.“

„Vielleicht sogar dort drüben,“ sagte Gretchen, in jene Richtung hinauszeigend, von wo die erleuchtete Fensterreihe des Schlosses durch das Dunkel herüberschimmerte. „Es ist ja heute großer Verschwörungsabend bei der Fürstin.“

Der Assessor fuhr in die Höhe. „Verschwörungsabend? Wie? Was? Wissen Sie das genau? Ich werde sie überraschen; ich werde –“

Der Administrator zog ihn lachend wieder auf seinen Sitz nieder. „Lassen Sie sich doch nichts weiß machen! Es ist eine übermüthige Idee von dem Mädchen da, weiter nichts.“

„Aber Papa, Du meintest doch selbst neulich, daß es ganz besondere Gründe hätte, wenn im Schlosse jetzt Fest auf Fest folgte,“ warf Gretchen ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_577.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)