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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


zu der im letzten Jahrzehnte fast in amerikanischen Proportionen gewachsenen Bevölkerung der Stadt jenem gewaltigen Umschwunge der öffentlichen Verhältnisse in Deutschland zu danken ist, welche zum ersten Male den hohen Gedanken eines deutschen Reichsbürgerrechts, eines Heimathsrechts, allgemeiner Zug-, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit durch ganz Deutschland zur vollen Wahrheit werden ließen. Und es darf nicht Wunder nehmen, daß eine Stadt von der Lage, der Handelsblüthe und der Creditstrenge Leipzigs von diesem segensreichen Umschwunge den größten Nutzen für sein eigenes Wachsthum gezogen hat.

Aber all das kann und soll keineswegs die Verdienste des Mannes verkleinern, der Leipzig seit siebenundzwanzig Jahren als Bürgermeister durch alle Stürme und Wandlungen der Zeiten geführt hat. Vielmehr dienen diese Erwägungen nur zu einer gerechteren Würdigung seiner Absichten und seines Wirkens. Am reinsten zeigt sich die unvergängliche Bedeutung, die Bürgermeister Koch für seine Vaterstadt und für sein gesammtes sächsisches und deutsches Vaterland sich errungen, wenn man die Tage seiner Jugend, seines ersten öffentlichen Wirkens im Dienste seiner Stadt, seines Volkes vergleicht mit dem, was er am Ende seiner Tage erreicht und erfüllt sah.

Als Karl Wilhelm Otto Koch am 3. Mai 1810 im Hause des Rathsoberförsters Koch zu Grasdorf bei Leipzig das Licht der Welt erblickte, lastete auf Deutschland noch der ganze Jammer der Napoleonischen Fremdherrschaft. Auch auf dem Königreich Sachsen. Denn wenn auch der von Napoleon zum König beförderte Kurfürst von Sachsen als allertreuester Rheinbundfürst dem Frankenkaiser zur Seite stand, so war doch nicht vergessen, daß Sachsen vor vier Jahren erst noch an der Seite Preußens den unseligen Tag von Jena durchkämpft hatte. Furchtbar war dann der Entscheidungskampf, den das arme mißhandelte, entehrte, niedergetretene deutsche Volk mit der nie besiegten Uebermacht des Eroberers wagte; furchtbar vor Allem jene dreitägige Schlacht in der weiten Ebene Leipzigs, die wohl die früheste Erinnerung Koch’s ausmachte.

Aber der Siegespreis war die furchtbaren Opfer nicht werth. Für einen Welttheil hatte Deutschland geblutet, aber die Früchte seiner Opfer pflückten Andere. Ohnmächtiger und zerrissener als je trat das deutsche Land in die Tage des Friedens nach dem größten und herrlichsten seiner Kriege.

Am trübsten sah es wohl in Sachsen aus. Durch die unselige Theilung, welche das beim Wiener Congreß nach und nach von allen Verbündeten verlassene und verrathene Preußen, statt der beabsichtigten Annexion von ganz Sachsen, an dem Königreiche vollziehen mußte, war die Stimmung des Hofes, der Beamten, des Heeres, der ganzen sächsischen Bevölkerung auf’s Tiefste gegen Preußen erbittert. Die kleinliche Politik des Hofes und der väterliche Freund aller preußenfeindlichen Dynasten, Fürst Metternich, sorgten auf’s Kräftigste für Erhaltung dieser zwieträchtigen Gesinnung. Bis in die Mitte der Zwanziger Jahre ist die Haltung der sächsischen Regierung gegen die Zollvereinsbestrebungen Preußens die denkbar feindseligste. Erst im Jahre 1833 ist das Königreich, unter dem erleuchteten Lindenau, dem Zollvereine beigetreten.

Ich weiß, alles das ist den Lesern der „Gartenlaube“ aus hundert Schilderungen längst bekannt. Aber immer wieder muß daran erinnert werden, wenn wir einen Mann zu beurtheilen haben, der in diesem tiefsten Jammer deutscher Kleinstaaterei und vergeudeter Nationalkraft seine Jugend verlebte, seine Mannesjahre kommen sah. Wer in diesen Tagen nicht verkümmerte und verbitterte, sondern fähig war, den Glauben und die Thatkraft für eine herrlichere Zukunft der deutschen Nation zu bewahren und zu bethätigen, wahrlich, den müssen wir schon von Haus aus mit viel größerem Maße messen, als die Patrioten, denen heutzutage die Liebe zum deutschen Vaterlande so außerordentlich bequem gemacht wird.

Und Karl Wilhelm Otto Koch gehörte zu diesen edelsten deutschen Männern, deren unbeugsamen Mannesmuth und unausrottbaren Idealismus die zwei lange Jahrzehnte auf Deutschland lastende Reactionsnacht nicht zu verkümmern vermochte. Den Grund zu dieser herrlichen Weltanschauung und Charakteranlage legte außer dem trefflichen Vater die Nicolaischule (Gymnasium) Leipzigs und der Umgang mit einer Anzahl gleichstrebender Schüler dieser Anstalt. Koch ward das seltene Glück zu Theil, schon auf der Schule vielversprechende Freunde zu gewinnen, die, zu gleichem Streben mit ihm verbunden, ihm für das Leben treu zugethan blieben. Wir nennen als solche Jugendfreunde drei große Todte: Karl Bock, Weinlig (später die Seele der volkswirthschaftlichen Abtheilung des sächsischen Ministeriums des Innern) und den später weitberühmter Arzt Francke. Auf der Universität hielt sich Koch vom Verbindungsleben – das damals gerade auf den gefährlichen Bahnen geheimer Verschwörungen oder „gutgesinnter“ rein materieller Genußsucht wandelte – zwar fern, aber dafür schloß er auch hier die werthvollsten Verbindungen für’s ganze Leben. An seinem elterlichen Herde, der damals und bis zum Tode seines Vaters in dem zinnengekrönten Rathsforsthause zum Kuhthurme bei Leipzig sich befand, und in den herrlichen Anlagen, die daran grenzen, sammelte sich häufig eine gleichgesinnte Schaar jugendfroher bedeutender Menschen um Koch. Da sah man außer den bereits genannten Freunden vom Gymnasium her die Studenten der Rechte von Zahn, Stelzner, Craushaar, die heute als Geheime Räthe die höchste Staffel juristischer Carrière erklommen haben, dann als Werber um die Hand einer Schwester Koch’s Krug, der als Geheimer Rath und weithin gefeierter Jurist gestorben ist, endlich Karl Biedermann, der sich mit dem hohen Vorsatze trug, der deutschen Culturgeschichte einen Lehrstuhl an den deutschen Hochschulen zu bahnen. Biedermann gehörte bald, und namentlich nach Zurücklegung der beiderseitigen akademischen Studien, als das „Philisterium“ die Juristen unter den akademischen Freunden in alle Winde zerstreut hatte, zu Koch’s allerintimsten Freunden – ein Freundschaftsband, das später durch die Vermählung des jungen Docenten der Literatur- und Culturgeschichte mit Koch’s vorjüngster Schwester noch inniger sich gestaltete.

Alle Genossen dieser frohen natürlichen Jugendtage Koch’s erinnern sich noch heute mit Behagen, wie er schon damals als leitender und ordnender Geist unter ihnen wirkte. Sein merkwürdiges Talent zum Anstellen, Anregen und Organisiren zeigte sich Allen im hellsten Lichte, als er mit den Freunden, Schwestern und deren Freundinnen im Elternhause und im Hause seines Schwagers Neubert ein kleines Liebhabertheater organisirte, dessen Seele er war. Auch einem anderen hatte er schon als junger Student als Hauptregisseur und -Faiseur gedient; er hatte hier sogar die öffentliche Aufführung der „Emilia Galotti“ ermöglicht und dabei auch Mitglieder des Stadttheaters zur Mitwirkung gewonnen, die sich seiner Regie zu fügen hatten. Kein Wunder, daß der spätere Bürgermeister dann und wann einmal sich auch dem städtischen Theater gegenüber als Oberregisseur fühlte und zur Geltung brachte. Und auch eine andere Eigenschaft seines Wesens trat schon damals hervor, die jedem mächtig wirkenden Charakter angeboren, vor Allem aber jenem Holze eigenthümlich ist, aus dem historische Bürgermeister geschnitten werden – denn jeder echte Bürgermeister muß etwas vom Tyrannen von Mottenburg an sich haben – jene starke, unbeugsame Willenskraft, die im Interesse der von ihm richtig erkannten und praktisch durchgeführten Sache das Widerstreben von Personen durch einen eisernen Machtspruch und einen in der Form manchmal rauhen, harten und unangenehmen Anstrich seines Wesens unbedingt und nachhaltig zu brechen wußte.

Aber wie weich und herzlich war er allen Denen, denen er wohl einmal im Interesse der von ihm vertretenen oder beabsichtigten höheren Zwecke wehe thun mußte, oder auch nur einmal wehe gethan zu haben glaubte! Ein Mann, der Jahrzehnte lang später an seiner Seite geschritten ist in der Verwaltung der Stadt Leipzig, ruft in einem Briefe dem theuren heimgegangenen Chef und Collegen noch im Grabe nach: „Sein Herz treu, offen und bieder, erfüllt von edler Bonhomie – ich finde nicht gleich den rechten deutschen Ausdruck – war er ein Vater jener Beamten, oft rasch und aufbrausend, aber nie nachtragend und mit rührender Offenheit und Treue dann selbst die Hand zuerst bietend und bittend, wenn er in seinem Eifer einmal etwas zu weit gegangen war oder nur gegangen zu sein glaubte.“

Doch greifen wir nicht vor! Koch hatte bei Beendigung seiner akademischen Studien die Absicht, die höhere Steuercarrière zu durchlaufen. Er begann sie als Actuar beim königlichen Steueramt zu Leipzig. Für ihn und für die ganze Stadt ward diese seine Stellung hochbedeutsam. Denn hier, im steten Verkehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_632.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)