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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Eltern, an meine ersten freudlosen Kinderjahre; ich war gewohnt, Altenhof als meine Heimath anzusehen, und später, als ich hätte hierherkommen sollen, herkommen müssen, da – war es etwas Anderes, was mich zurückhielt. Das rächt sich jetzt. Die zwanzigjährige Beamtenwirthschaft, die mein Vormund duldete, hat schon Unheil genug gestiftet, aber das Aergste haben die letzten vier Jahre unter dem Baratowski’schen Regimente gethan. Freilich, es ist meine Schuld allein. Warum habe ich mich nie um mein Eigenthum gekümmert, warum machte ich die leidige Gewohnheit des Onkels, jedem Berichte zu glauben, der auf dem Papiere stand, zu der meinigen? Jetzt stehe ich wie verrathen und verkauft auf meinem eigenen Grund und Boden.“

„Sie waren ja noch so jung damals, als Sie mündig gesprochen wurden,“ begütigte der Doctor. „Die drei Jahre auf der Universität waren wirklich dringend nothwendig für Ihre Ausbildung, und als wir dann noch ein Jahr auf Reisen waren, ahnte ja Niemand, wie die Dinge hier standen. Wir sind sofort umgekehrt, als Sie den Brief des Administrators erhielten, und Sie mit Ihrer Energie sind doch sicher auch den schlimmsten Verhältnissen gewachsen.“

„Wer weiß!“ sagte Waldemar finster. „Die Fürstin ist meine Mutter, und sie und Leo sind gänzlich von meiner Großmuth abhängig – das ist es, was mir die Hände bindet. Wenn ich es zu einem ernstlichen Zerwürfnisse kommen lasse, so müssen sie Wilicza verlassen. Rakowicz ist dann ihre einzige Zuflucht, und einer solchen Demüthigung will ich wenigstens meinen Bruder nicht aussetzen. Und doch muß ein Ende gemacht werden, besonders mit dem, was hier im Schlosse geschieht. Sie ahnen noch nichts davon? Ich glaube es, aber ich weiß desto mehr. Ich wollte nur erst klar in der Sache sehen – und nun werde ich mit meiner Mutter reden.“

Es trat eine längere Pause ein. Fabian wagte keine Erwiderung; er wußte, daß, wenn das Gesicht des jungen Schloßherrn so aussah wie jetzt, es sich nicht um Kleinigkeiten handelte, endlich oder trat er doch auf ihn zu und legte die Hand auf seine Schulter mit der leisen Frage:

„Waldemar, was ist denn gestern auf der Jagd vorgefallen?“

Waldemar blickte auf. „Auf der Jagd? Nichts! Wie kommen Sie darauf?“

„Weil Sie so grenzenlos verstimmt zurückkamen. Ich hörte freilich bei Tische einige Andeutungen über einen Streit zwischen Ihnen und dem Fürsten Baratowski –“

„Nicht doch!“ sagte Nordeck gleichgültig. „Leo war allerdings empfindlich, weil ich sein Lieblingspferd beim Reiten etwas unsanft behandelte, die Sache ist aber von gar keiner Bedeutung und bereits ausgeglichen.“

„Dann war es also etwas Anderes.“

„Ja – etwas Anderes.“

Es folgte ein erneutes secundenlanges Schweigen, dann begann der Doctor wieder:

„Waldemar, die Fürstin nannte mich neulich Ihren einzigen Vertrauten; ich hätte ihr entgegnen können, daß Sie überhaupt keinen Vertrauten haben. Etwas stehe ich Ihnen vielleicht näher, als alle Anderen, aber Ihr Inneres schließen Sie auch mir niemals auf. Müssen Sie denn durchaus Alles allein tragen und durchkämpfen?“

Waldemar lächelte, aber es war ein kaltes, freudloses Lächeln. „Sie müssen mich schon nehmen, wie ich nun einmal bin. Aber wozu denn die Besorgniß? Ich habe doch wohl bei all den Sorgen und Widerwärtigkeiten, die hier auf mich einstürmen, Grund genug, verstimmt zu sein.“

Der Doctor schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Dergleichen reizt und erbittert Sie höchstens, aber die Stimmung, die Sie jetzt beherrscht, ist eine andere. So habe ich Sie nur einmal gesehen, Waldemar, damals in Altenhof, als –“

„Herr Doctor, ich bitte, verschonen Sie mich mit diesen Erinnerungen!“ unterbrach ihn Waldemar so rauh und ungestüm, daß Fabian zurückwich, aber er besann sich sofort wieder. „Es thut mir leid, daß auch Sie unter dem Aerger leiden müssen, den dieses Wilicza mir verursacht,“ fuhr er mit bedeutend gemilderter Stimme fort. „Es war überhaupt egoistisch von mir, daß ich Sie mit hierher nahm. Sie hätten nach J. zurückkehren sollen, wenigstens so lange, bis ich hier Ordnung geschafft habe und Ihnen ein ruhiges Asyl bieten kann.“

„Ich hätte Sie unter keiner Bedingung allein gelassen,“ erklärte Fabian mit seiner sanften Stimme, die aber diesmal etwas ungewöhnlich Bestimmtes hatte.

Waldemar reichte ihm wie zur Abbitte die Hand. „Das weiß ich ja, aber nun quälen Sie sich auch nicht länger mit meinen Sorgen, oder ich bereue es wirklich, offen gegen Sie gewesen zu sein. Sie haben genug mit Ihren eigenen Angelegenheiten zu thun. Wenn Sie nach J. schreiben, so sagen Sie dem Professor Weber einen Gruß von mir, und ich wäre eben dabei, Ihr Werk in’s Praktische zu übersetzen und meinen urslavischen Gütern etwas von der ‚Geschichte des Germanenthums‘ aufzuprägen; es thäte Noth hier in Wilicza. – Leben Sie wohl!“

Er ging. Doctor Fabian blickte ihm nach und seufzte. „Undurchdringlich und starr wie ein Fels, sobald man es versucht, diesem einen Punkte nahe zu kommen, und ich weiß doch, daß er bis auf den heutigen Tag noch nicht damit fertig geworden ist und es niemals werden wird. Ich fürchte, der unglückselige Einfluß, um dessen willen wir Wilicza so lange mieden, fängt wieder an, seine Kreise zu ziehen. Mag Waldemar es leugnen, wie er will, als er gestern von der Jagd zurückkam, habe ich es gesehen – er ist wieder in dem alten Bann.“


Es war am Abend desselben Tages. In Wilicza herrschte die vollste Ruhe und Stille im Gegensatz zu gestern, wo alles von Gästen schwärmte. Nach der Rückkehr von der Jagd hatte noch ein großes Souper stattgefunden, das sich bis in die Nacht hinein ausdehnte, und die meisten der Eingeladenen hatten erst am heutigen Morgen das Schloß verlassen. Auch Graf Morynski und Leo waren zum Besuch eines der Gutsnachbarn abgereist; sie beabsichtigten erst in einigen Tagen heimzukehren. Wanda war zur Gesellschaft ihrer Tante zurückgeblieben.

Die beiden Damen befanden sich also heute Abend allein im Salon; er war bereits erleuchtet, und die Vorhänge waren überall herabgelassen; man merkte hier drinnen nichts von dem rauhen Novembersturm, der draußen tobte. Die Fürstin saß auf dem Sopha, während die junge Gräfin von ihrem Sitze aufgestanden war; sie hatte den Sessel wie im Unmuth zurückgestoßen und ging unruhig im Zimmer auf und nieder.

„Ich bitte Dich, Wanda, verschone mich mit diesen Kassandrawarnungen!“ sagte die ältere Dame. „Ich wiederhole Dir, daß Dein Urtheil vollständig von Deiner Antipathie gegen Waldemar beeinflußt wird. Muß er denn nothgedrungen unser Aller Feind sein, weil Du fortwährend mit ihm auf dem Kriegsfuße stehst?“

Wanda hemmte ihren Schritt, und ein finsterer Blick flog zu der Sprechenden hinüber. „Vielleicht bereust Du es noch einmal, Tante, daß Du nur Spott für meine Warnungen hast,“ erwiderte sie. „Ich bleibe dabei, Du täuschest Dich in Deinem Sohne. Er ist weder so blind noch so gleichgültig, wie Du und Ihr Alle glaubt.“

„Willst Du mir statt all dieser dunkeln Prophezeiungen nicht lieber klar und deutlich sagen, was Du eigentlich fürchtest?“ fragte die Fürstin. „Du weißt, ich gebe in solchen Dingen nichts auf Meinungen und Ansichten – ich verlange Beweise. Woher kommt Dir der Verdacht, an dem Du so hartnäckig festhältst? Was hat Dir Waldemar eigentlich gesagt, als Du gestern mit ihm auf der Försterei zusammentrafest?“

Wanda schwieg. Dieses Zusammentreffen am Waldsee – nicht auf der Försterei, wie sie für gut gefunden hatte, ihrer Tante zu sagen – bewies doch im Grunde nichts für ihre Behauptungen, denn Waldemar hatte ihr gegenüber nicht das Geringste zugegeben, und sie hätte um keinen Preis der Welt die Einzelheiten ihres Gespräches mit ihm hier wiederholt. Sie konnte nichts anführen, als jenen seltsamen Instinct, welcher sie von Anfang an geleitet hatte bei der Beurtheilung eines Charakters, der sich sogar dem Scharfblick der Fürstin verhüllte, aber sie wußte sehr gut, daß sie Ahnungen und Instincte nicht geltend machen durfte, ohne ein Spottlächeln auf die Lippen ihrer Tante zu rufen.

„Wir sprachen nur wenig miteinander,“ entgegnete sie endlich, „aber es war genug, um mich zu überzeugen, daß er bereits mehr weiß, als er wissen sollte.“

„Das ist möglich,“ versetzte die Fürstin mit vollkommener Ruhe, „und darauf mußten wir früher oder später gefaßt sein. Ich zweifle zwar, daß Waldemar selbst Beobachtungen angestellt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_645.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)