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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


wie durch einen Zauberschlag Alles verändert. Ein Kanonenschuß donnerte von den Basteien; die Zugbrücken wurden aufgezogen, die Thore gesperrt, die Communication aufgehoben – dem Geräusche des Tages folgte lautlose Stille.

Ich wohnte am Stromufer. In einer klaren, poetisch schönen Frühlingsnacht saß ich am offenen Fenster. Die Brust athmete mit innigem Wohlgefühle die erfrischende Wasserluft, und entzückt weidete sich mein Auge an den orientalisch weichen Linien der Türkenstadt, die mondverklärt wie ein Gemälde Canaletto’s vor mir lag, gekrönt von dem weißschimmernden Castell des Paschas, der, die Hoheitsrechte wahrend, das Ansehen, die Macht und Pracht eines Sultans besaß. Doch meine Gedanken wandten sich in den Momenten süßen Nichtsthuns, wachen Träumens weit ab von Politik. Der tändelnden Phantasie gefiel es, die unübersteiglichen Bastionen zu überfliegen, die klafterdicken Mauern zu durchdringen, mich unmittelbar in das innerste Hauswesen des Paschas, in den Harem, zu versetzen. Alle Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ mußten herhalten, die üppigen Bilder meiner Einbildungskraft auszustatten. Ich sah den Pascha, umgeben von allen Wundern der Pracht und Ueppigkeit des Morgenlandes; Odalisken sah ich, schön wie die Houris des Paradieses, dem Herrn schmeichelnd zu Füßen, zu ihm wie zu einem Gotte aufblickend, alle Künste anwendend, allen Liebreiz aufbietend, um einen Gnadenblick, ein Liebeswort zu erhaschen. Ich sah blühende Bajaderen mit berauschenden Tänzen ihn umgeben, hörte Musik und holden Gesang erklingen. Schaaren von Sclaven harrten nur des befehlenden Winkes, den Gaumen mit den erlesensten Genüssen zu reizen und zu sättigen. Welches Meer von Wonne im Vergleiche zu meinem hartgeplagten Dasein, der armseligen Erwerbsquelle eines jungen europäischen Arztes, der erst Carrière machen will! Ein Gefühl neidischer Bitterkeit, gepaart mit unbestimmter Sehnsucht, bemächtigte sich meiner. Ein tiefer Seufzer entrang sich unwillkürlich der freudelechzenden Brust: wer doch – nur eine Nacht – mit dem Glücklichen tauschen könnte!

Ein Kanonenschuß, der von der Bastion abgefeuert wurde, brachte mich zur Besinnung. Das Thor der Festung öffnete sich. Einige Reiter erschienen gespenstisch im Halbdunkel der Nacht und sprengten gegen das Save-Ufer. Zwei tief in ihre Mäntel gehüllte Männer stiegen von den Pferden und weckten den Fährmann, der auf seinem Flosse zusammengekauert schlief; er fuhr erschreckt auf. Die Beiden stiegen ein; die Stricke wurden gelöst, und die Fähre setzte sich gegen Semlin in Bewegung. Angekommen, bedeuteten sie durch eine Handbewegung den Schiffer zu warten und wandten sich gegen die Stadt. Wenige Minuten darauf wurde an meine Hausthür gepocht; fremde Stimmen begehrten Einlaß. Mein Name wurde fragend genannt; und ich trat hinaus. Im Flur stand, ein trübe flackerndes Talglicht in der Hand, mein Hausgeist in Nachtmütze und Pantoffeln, vor ihm die zwei Männer, die ich von Belgrad kommen gesehen. Beim Knarren meiner Thür wandte er sich um und zeigte mit zornigem Knurren ob der gestörten Nachtruhe auf mich. Erstaunt erkannte ich in dem einen der fremden Männer einen alten Bekannten, Baron Velden, vormaligen österreichischen Officier, dann politischen Flüchtling, jetzt Dolmetsch des Paschas. Er schien sehr eilig, ja bestürzt, grüßte flüchtig und stellte seinen Begleiter vor, den Secretär und Günstling Achmed Paschas. Sie kamen im Auftrage ihres Gebieters, mich sogleich zu einem Schwerkranken in dessen Harem abzuholen.

War es einer jener lichtdurchwobenen Augenblicke gewesen, in denen der Seele innerstes Sehnen vor dem Weltenlenker Erhörung findet, als vorhin der abenteuerliche Wunsch in mir aufdämmerte? Welche cirkassische Venus war der ärztlichen, war meiner Hülfe bedürftig? Wie kam ich dazu, in jene allen männlichen Geschöpfen, den Ungläubigen noch besonders unzugänglichen, geheiligten Räume des Harems meinen profanen Fuß setzen zu dürfen? Hatte ich unbekannte Freunde, Gönnerinnen in jenen geheimnißvollen Regionen?

Brennende Neugierde ließ mich eine bezügliche Frage thun. Die Herren schienen aber nicht Lust zu weiteren Erklärungen zu haben. Sie antworteten ausweichend und drängten zum Gehen. Dürfen sie nicht mehr sagen? Sind sie nur Boten und wissen nicht mehr? Pah! dem Arzte muß es gleich sein, wer seiner Hülfe bedarf. Damit warf ich meinen Rock um, drückte den Hut in die Stirne und folgte meinen Führern, die stumm und rasch zur Fähre schritten. Am jenseitigen Ufer angekommen, rief ein schriller Pfiff des Türken die Pferde herbei, auch mir wurde eins geboten. Wir ritten zur Festung, wo auf ein Zeichen das Thor geöffnet wurde; die Parole wurde gewechselt, und in wenigen Minuten waren wir am Ziele. Der Baron empfahl sich und verschwand im Dunkel der Nacht, während mein anderer Begleiter mich in den Palast des Würdenträgers führte. In einem Vorsaale, nur matt beleuchtet, winkte er mir zu warten und entfernte sich durch eine Seitenhür. Nach geraumer Zeit erschien er wieder und ersuchte mich in gebrochenem Französisch, ihm zum Pascha zu folgen. Mein Herz klopfte hörbar. Nachdem wir noch einige schmale halbdunkle Räume durchschritten, gelangten wir in ein größeres, hellerleuchtetes Zimmer. Rings um die Wand lief ein breiter niedriger Divan. Darauf saß, der Thür gegenüber, mit untergeschlagenen Beinen, seine Wasserpfeife rauchend, regungslos wie ein Steinbild, ein noch junger Mann mit großen dunklen Flammenaugen, die mir fast unheimlich entgegenstarrten. Ein dunkler Bart wallte ihm fast bis zum Gürtel herab; ein grüner Turban bedeckte sein Haupt. „Ein Mekka-Pilger, ein Ulema“ war das Resultat meiner kurzen Beobachtung. Die lichten Dampfwolken des Nargileh umgaben ihn mit einer Art mystischen Heiligenschein – so mußte Mohamed ausgesehen haben.

Wir machten die üblichen Verbeugungen. Während mich der Pascha mit stummem Neigen des Hauptes begrüßte und durch eine Handbewegung zum Sitzen einlud, entfernte sich der Secretär. Erwartungsvoll sah ich den Hausherrn an. Wird er mir endlich das Räthsel meines Hierseins lösen? Vorläufig hatte er nicht Lust dazu; er klatschte in die Hände. Diener mit goldblinkenden Kaffeegeräthschaften erschienen und setzten dieselben auf Tabourets, die im Orient als Tische dienen, vor uns nieder. Wir tranken Kaffee und rauchten. Lautlose Pause. Endlich begann der Türke in französischer Sprache:

„Allah segne Deinen Eingang, Doctor! Erkenne, wie viel ich von Dir erwarte, daß ich Deinetwillen die geheiligten Gesetze des Herkommens breche und Dich, den Ungläubigen, in das Innerste meines Hauses, in die Frauengemächer, führen will! Ermesse daran, welches Vertrauen ich in Deine Kunst, Dein Wissen setze!“

„Ich werde Eure gute Meinung, hoher Herr, nach Möglichkeit zu rechtfertigen suchen,“ antwortete ich, mich verbeugend. „Wollt Ihr mir sagen, wer meiner Hülfe bedarf?“

„Freund! Ich bin in großer Bekümmerniß,“ erwiderte er kaum vernehmbar mit dem Ausdrucke tiefsten Schmerzes in den edlen Zügen. „Das Wesen, das meinem Herzen am theuersten ist, ich kann wohl sagen, das Einzige, was mir nahe steht – mein Sohn ist krank, sehr krank. Das Vorurtheil unseres Volkes gegen europäische Aerzte, die schlimme Sitte, unsere Frauen und Kinder durch alte Weiber behandeln zu lassen, hat schon manches blühende Leben in unseren Harems geknickt. Ich war immer gegen diese unvernünftige Quacksalberei, aber erst jetzt erkenne ich das Unheil ganz, seit mein Kind, mein einziges geliebtes Kind das Opfer wurde. Er ist an den Rand des Grabes gebracht – o rette ihn, Effendi! Rette ihn! Du sollst königlich belohnt werden, wenn Du den Krallen des Todes die edle Beute entreißt.“ Ein tiefer Seufzer schloß die Worte; sein Haupt sank auf die Brust. Regungslos wie ein Automat saß er wieder da.

„Führt mich zu dem Kranken, Herr!“ wagte ich nach einigen Minuten die Stille zu unterbrechen. Der Pascha fuhr zusammen wie aus einem Traume erwachend, klatschte in die Hände und befahl dem darauf eintretenden Diener, uns im Harem zu melden.

„Bevor Du dahin geführt wirst, muß ich Dir die Gedanken mittheilen, die mich vorhin gefangen hielten. Du wirst daraus ersehen, Doctor, wie entsetzlich, wie unersetzlich mir der Verlust meines Kindes wäre.“ In dem Augenblicke erschien der Diener wieder und meldete mit gekreuzten Armen: man sei bereit, den fremden Doctor zu empfangen. Achmed Pascha erhob sich und winkte mir zu folgen. Wir durchschritten mehrere Corridore und gelangten endlich in einen hohen, düstern Saal. Ein dicker Teppich machte unsere Tritte unhörbar; eine Anzahl Wachslichter auf blinkenden Girandolen verbreiteten ein angenehmes mattes Licht; breite Polstersitze liefen rings um die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_651.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)