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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Wände, und in der Mitte des weiten Gemaches stand ein seltsames mit Decken behangenes Gerüste, fast wie ein bunter Katafalk anzusehen. Röchelnde Athemzüge drangen von dort an mein Ohr. Achmed trat auf den Zehenspitzen näher – es war das Krankenbett.

Ich blieb in einiger Entfernung stehen und blickte forschend umher. Der Saal schien menschenleer zu sein, und doch hörte ich ein seltsames Rauschen und Zischeln. Da bemerkte ich, daß die Wände mit braunem Holzgitterwerk bekleidet waren, wie ich es in jüdischen Synagogen an den Frauenabtheilungen schon gesehen hatte. Was oder wer verbarg sich dahinter? Meine Entdeckungsreise in das Innere unterbrach ein Aechzen des Kranken. Er war erwacht, und ein Wink des Paschas rief mich zu ihm. Ich ergriff eine brennende Kerze und ließ das volle Licht auf den Patienten fallen. Welcher Anblick bot sich mir dar! Auf dem reichen Bette lag ein unförmlicher thranduftender Klumpen, aus dessen Kopfende ein schönes, aber wachsbleiches, abgemagertes Menschenantlitz mit großen dunklen Augen hervorstarrte. Ich stand, schreckerstarrt, einige Minuten stumm beobachtend da. Welche Qualen mußte das arme Kind in dieser entsetzlichen Einpackung ausstehen!

„Doctor! Warum schweigst Du? Wie findest Du seinen Zustand?“ fragte mich der arme Vater mit angstbebender Stimme.

„Ich sehe ihn wegen der Umhüllungen nicht recht,“ antwortete ich ihm ausweichend, denn der erste Blick verrieth mir den trostlosen Zustand höchstgradiger Abzehrung. „Die Wärterinnen mögen ihn entkleiden. Dann wollen wir das Weitere sehen.“

Er rief halblaut einige Worte. Auf mehreren Seiten zugleich öffneten sich Thüren im Gitter, und verschleierte Frauen traten heraus. Das Zimmer, in dem wir uns befanden, war also ein Mittelraum, ähnlich dem Atrium der Griechen, in den die übrigen Zellen des Harems mündeten.

Ich ersuchte die Frauen, den armen Jungen vollständig zu entkleiden. Ein Murren des Widerspruchs wurde laut; ein strenger Blick des Gebieters – es verstummte und Alles geschah nach meinen Anordnungen. Zehn und mehr in Schlangenfett getauchte Tücher und Decken, die mit ranzigem Geruche die Luft arg verpesteten, wurden allmählich abgenommen. Aus dem ungestalten Klumpen entpuppte sich der zum Gerippe abgemagerte Körper eines schöngebauten zwölf- bis dreizehnjährigen Knaben. Ein Becken warmes Wasser wurde auf meinen Wunsch gebracht; ich goß eine stärkende Essenz hinein, ließ dem vernachlässigten, gemarterten Körper die langentbehrte Labung des Waschens angedeihen, die übelduftenden Bandagen hinausbringen, reines Linnen anlegen. Die Procedur that dem Kranken, der schon von Agonie befallen war, sichtlich wohl; er athmete geräuschloser und tiefer.

„Ist noch Rettung möglich? O, sage: ja! Ich sehe, Deine Nähe wirkt wohlthätig auf ihn,“ flüsterte der Vater, den Kranken, der ihn nicht mehr erkannte, mit unendlicher Liebe anblickend.

„Wir müssen abwarten, welche Folgen die Waschung nach einigen Stunden der Ruhe, des Schlafes hat,“ antwortete ich, ihn zu beruhigen; ich wußte nur zu gut, daß die Sanduhr des jungen Lebens im Ablaufen war; ich verordnete noch einen kühlenden Trunk, wenn die trockenen, fieberverbrannten Lippen darnach begehren sollten, dann wollte ich mich empfehlen und versprach den nächsten Tag wiederzukommen.

„Du darfst uns jetzt nicht verlassen, Doctor,“ rief der Pascha mit glühenden Blicken, als wir das Krankenzimmer hinter uns hatten. „Dein Aussehen weissagt Böses, und ich habe Niemanden, keine Menschenseele, der ich vertrauen, auf die ich mich verlassen kann. Bleib’ hier, bis es sich zur Besserung wendet oder – wie es Allah in seiner Weisheit sonst bestimmt.“

„Ich habe alles Nöthige angeordnet, und Eure Frauen, gnädigster Herr, werden das Kind gewiß vortrefflich pflegen, bis ich wiederkomme,“ war meine Erwiderung.

„Ich habe keine Frauen. Mein Weib ist lange todt,“ seufzte der Pascha; „die Du sahst, Fremdling, sind blos Dienerinnen, in deren Händen mein Kind in diesem Zustand gerieth. Du siehst, Du mußt bleiben.“

Wir waren in seinem Gemache angekommen. Wieder brachten Diener Kaffee und Tschibuks; wir saßen eine Weile stumm rauchend. Die blauen Rauchwolken ringelten sich empor. Achmed Pascha verfolgte die phantastischen Ringe eine Weile mit träumerischer Melancholie, dann wandte er sich zu mir und sagte mit weicher Stimme:

„Der Diener unterbrach mich vorhin, als ich Dir eine Episode meines Lebens, die Bezug auf mein krankes Kind hat, erzählen wollte; höre sie jetzt!

Mein Vater war Gelehrter und seine Freunde bildeten einen Kreis weiser Männer, in deren Gesellschaft sich die Liebe zur Wissenschaft bald mächtig in meiner Kindesseele regte. So brachte ich auch meine Jugend, statt mit sinnlosen Vergnügungen, die meinen Alters- und Standesgenossen geläufig waren, mit ernsten Studien zu. Mein Lehrer und zugleich wärmster Freund war Butu, ein Ulema von ungewöhnlichen Geistesgaben, der, meinen Wissensdurst erkennend, mich ungehindert am Zauberborne der Erkenntniß trinken ließ. Bald genügten mir die Studien nicht mehr, wie sie an unseren Medressen geboten wurden. Ich begann christliche Bücher und Sitten zu studiren; nicht lange konnte ich meinen Neigungen leben; nach den Jahren der Vorbereitung mußte ich, um dem Willen meines Vaters nachzukommen, in den Staatsdienst treten und sollte mir ein eigenes Hauswesen gründen. Unsere Religion überläßt weisermaßen die Zahl der Ehefrauen ganz den Neigungen des Betreffenden. Meine Vorliebe für die Gebräuche und Sitten des Abendlandes hatte Widerwillen gegen die Vielweiberei in mir erweckt. Ich liebte eine schöne, junge Armenierin; sie trat meinetwillen zum Islam über und wurde meine Gattin, meine einzige, angebetete Gattin. An der Seite dieses Weibes fand ich Alles, was die Erde zum Paradiese macht; meine Dienste für den Staat wurden auch im vollsten Maße anerkannt, glänzend belohnt; der Weg zu den höchster Ehrenstellen war mir geebnet. Ich wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn es der Vorsehung gefallen hätte, unserer Liebe ein sichtbares Zeichen, ein Kind, einen Sohn, zu gewähren.

Endlich, nach vielen Jahren, als wir die Erfüllung unseres Lieblingswunsches fast nicht mehr hofften, gefiel es dem Propheten, mein Weib zu segnen.

In der Freude meines Herzens wallfahrtete ich kurz vor der Geburt des Sehnlicherwarteten zu dem heiligen Grabe nach Mekka, Allah für die große Gnade zu danken, seinen Schutz und Beistand zu erflehen und auch meinen alten Freund und Lehrer Butu, der mittlerweile dort Imam geworden, wiederzusehen. Am Grabe des Propheten war, wie er sich ausdrückte, der Geist der Weissagung über ihn gekommen. Schaaren wallten aus allen Theilen des Reiches zu ihm, sich das Räthsel der Zukunft von ihm lösen zu lassen; sein Ruhm war in Aller Mund.

Unser Wiedersehen war ein herzliches und freudiges; ich erzählte ihm der Grund meiner Pilgerreise und bat ihn, kraft seiner Sehergabe mir das Leben und Schicksal des noch Ungeborenen vorherzusagen.

Es war ein seltsamer Orakelspruch, den er nach langen inbrünstigen Gebeten, nach der Stellung der weißen Stäbe und anderen geheimnißvollen Vorbereitungen verkündete: ‚Du wirst einen Sohn bekommen,‘ lautete der Spruch, ‚der frei von jeder Sünde bleiben wird.‘ Mein Dankgefühl war grenzenlos – ein Sohn, und dieser Sohn makellos, und ich war das Gefäß der Gnade, auserwählt, der Erzeuger dieses vollkommenen, dieses reinen Menschen zu werden. Wozu hatte ihn das Schicksal schon vor seiner Geburt bestimmt? Sollte er der Wohlthäter seines Volkes, der Segen seines Jahrhunderts, die Leuchte seines Vaterlandes werden?

Erfüllt von der frohen Botschaft, reiste ich fröhlichen Sinnes nach Hause. Die Nacht vor meiner Heimkunft war mein Weib niedergekommen. Der Neugeborene war ein schöner, kräftiger Knabe; der erste Theil der Verkündigung war erfüllt.“

Der Pascha schwieg und seufzte tief. Als er wieder aufblickte, waren seine Augen feucht. „Ich sah einen heißen Wunsch erfüllt; ich hatte einen Sohn,“ flüsterte er, „aber Allah! um welchen Preis! Fatime, mein Weib, war gestorben. Ich habe kein Weib mehr genommen. Jussuf ist mein einziges Kind geblieben. Armer Jussuf! armer Jussuf! Viel ist in den dreizehn Jahren über mich hingegangen; ich hatte lange Zeit weder an den alten Imam noch an seine Prophezeiung gedacht. Als Jussuf immer tiefer in sein Leiden versank, sehnte ich mich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_652.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)