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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Im Winter an der Ostsee.


Will der Bewohner großer Städte ohne künstlich fabricirtes Ozon frei aufathmen und alle Schlacken, welche ihm innen und außen durch den langen Aufenthalt im Häusermeere anhaften mögen, von sich abfallen sehen, so ahme er mein Beispiel nach und werde, wenn auch nur auf kurze Zeit, am Strande der ewig beweglichen Thalatta, hier Ostsee genannt, ein neuer gesünderer Adam!

Schreiber dieses verlebte den Sommer 1875, der sich ja durch schönes Wetter besonders auszeichnete, ländlich, schändlich, aber harmlos und gesund in einer reinlichen Fischerhütte, hart am Wogenpralle gelegen, auf der romantisch schönen und sagenhaften Insel Rügen. Ein Kind, unser einziges, vergaß hier sehr bald die Nachwehen einer aufreibenden Krankheit, lernte seine Füße gebrauchen und blühte neu auf wie eine Rosenknospe. Diese wunderbare Wirkung der Luftveränderung auf den Körper des muntern Kleinen wollte ich nur ungern unterbrechen; die Abreise nach der großen Hauptstadt wurde immer weiter hinausgeschoben; der Herbst mit seinen Sommerfäden, seiner Durchsichtigkeit und wechselnden Farbenpracht im welkenden gelb und roth schimmernden Blätterschmucke der hohen Eichen und Buchen schlug tief seine Fesseln in unser empfängliches Gemüth, und als Boreas die ersten Eisnadeln und Schneeflocken uns in das Gesicht jagte, lachten wir ihn aus: „Du wirst uns nicht los.“ Wir winterten ein. –

Der Großstädter ist gewöhnlich der Ansicht, daß ein gebildeter und in seinen eigenen Schuhen stehender Mann ohne die Freuden und das Treiben der Stadt einen langen Winter hindurch auf dem Lande nicht leben könne, ohne zu verkommen und zu verbauern; das ist aber, wie ich aus eigener Erfahrung versichern kann und in nachfolgenden Skizzen beweisen möchte, keineswegs der Fall, man muß nur körperlich und geistig gesund sein und die Lust haben, etwas Neues und Lehrreiches, was im abgelegensten Erdenwinkel möglich ist, aufzufassen und kennen zu lernen, dann wird man nicht seine Zeit verloren haben.

Nun aber will ich, um endlich zur Sache zu kommen, ohne das Stillleben des Winters bei hellbrennender Lampe und wohlgeheiztem Ofen zu berühren, mit einem raschen Sprunge mitten hinein in den Fischfang der Küstenbewohner den Leser fallen lassen, ohne daß sich derselbe den Fuß naß zu machen brauchte.

Wenn der Winter mit alleinherrschender Schroffheit und unwiderstehlich in seine eisigen Rechte tritt, so geschieht solches häufig nach vorhergegangenen heftigen, tagelang andauernden Nordweststürmen, wenn der trotzdem auf der Insel lagernde dichte Nebel, hier „Dack“ genannt, sich nicht heben will, ganz plötzlich und unerwartet. Der Wind springt nach Südost um. Es wird „hohe Luft“, und in gewaltig langen, wallenden Riesenschleiern sehen wir die trägen Dunstmassen nach Norden abziehen. Nun lagert sich mit heiterer Ruhe und siegesgewiß der Eisgott breit und schwer auf Land und Wasser. Der noch eben vom Nebel halbbetäubte Strandmensch wacht ebenso schnell auf, wie die Veränderung des Wetters eintrat; die kleinen Boote werden eilig auf das Trockene gebracht und hier umgekehrt, während die größeren Küstenfahrzeuge, Schooner, Galeassen und Jachten, schleunigst einen sicheren Hafen aufsuchen, um dort, abgetakelt, den langen Winter faullenzend hinzuträumen. Erfahrungsmäßig ist der Einritt großer Kälte stets mit stiller Luft verknüpft, sodaß in wenigen Tagen, soweit das Auge reicht, der starre Frost einen Eispanzer um das bewegte Element gelegt hat, der so glatt und fest auf dem ruhelosen Wasser liegt, daß der Mensch im Stande ist, auf bequemere Weise und gefahrloser seinem Erwerbe nachzugehen als bei offener See.

Allerdings ist seine Arbeit, zumal bei großer Kälte, nicht mühelos und erfordert Kraft und Geschicklichkeit. Die langen Flügelnetze, welche oft gegen neunhundert Reichsmark kosten, werden von den in den Stranddörfern gebildeten „Commünen“, wie sie sich undeutsch nennen, hervorgezogen und auf die Peekschlitten gelegt. Ein Peekschlitten ist bekanntlich ein solcher, welcher mittelst eines langen mit einem Haken versehenen Stabes (Peekstange oder Pike genannt) durch fortwährendes gleichmäßiges Stoßen des darauf Stehenden auf dem Eise fortbewegt wird. Wenn es noch ganz finster ist, treten die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft am Strande an, und lustig gleitet die ganze, aus zwanzig bis dreißig Mann bestehende Schaar sausend und klirrend über die glatte Fläche dahin, um mit Tagesanbruch an der Fangstelle zu sein. In einer stillen, tief in das Land hineingehenden Bucht wird Halt gemacht, weil sich dorthin, in das seichte Wasser, gern der Plötz – denn ihm gilt heute die Jagd – begiebt, wahrscheinlich aus dem einfachen Grunde, um sich leichter in großer Menge vom Fischer fangen zu lassen. Eine andere Ursache hat mir wenigstens keiner dieser blonden ungehobelten Enakssöhne von dieser Massenversammlung der Familie „Plötz“, die sonst nur einzeln herumwimmelt, angeben können, also dürfen wir nichts Besseres thun, als glauben und – zusehn: fleißig sind alle Hände in Bewegung. Mit kräftigen Schlägen dringt die Axt in den Eispanzer; wie nach der Schnur werden, vierzig bis fünfzig Fuß von einander entfernt, in gerader Linie Löcher eingehauen, so daß in kurzer Zeit ein Rechteck oder Quadrat durch dieselben, je nach der Enge oder Weite der Bucht, entsteht, damit man regelrecht unter dem Eise fischen kann. Nach dieser rasch vollzogenen Arbeit beginnt in höchst drolliger Weise die Eröffnung dieses uns fremdartigen Schauspiels. Wie auf Commando fallen nämlich alle noch eben so fleißig arbeitenden Männer in den dunkelblauen Friesjacken, Südwester oder Pudelmütze auf dem harten Schädel, jeder vor seinem Loche platt auf den Bauch.

Die blutrothe Sonne taucht eben groß und majestätisch aus dem kalten Seebade auf; sie muß vor Allem ihr freundliches und mächtiges Licht scheinen lassen, damit das Wasser unter dem Eise klar und durchsichtig werde wie Krystall und damit das Auge des beutelustigen Raubthiers Mensch aus der Anzahl der an den Löchern vorüberhuschenden und blitzenden Fischlein den Schluß ziehen könne, ob es gerathen sei, die schwere Arbeit des Netzlegens vorzunehmen oder nicht. Ist ersteres der Fall, dann geht es mit großer Geschäftigkeit an’s Werk. Die Leinen, welche sich an den Enden der umfangreichen Garne befinden, werden mit kunstgerechtem Knoten an den langen Stangen, welche von einem Eisloche bis zum andern reichen, angeknüpft, und auf diese Art wird, von der Mitte anfangend nach rechts und links und zu gleicher Zeit, das ganze Netzsystem leise in’s Wasser getaucht, mittels der Stangen von einer Oeffnung zur anderen weitergeführt, bis die linke und rechte Flügelstange sich an einer bestimmten Oeffnung treffen, aus welcher der Aufzug geschieht.

So nur ist es möglich, unter dem Eise mit Netzen zu fischen und, wie es hier der Fall war, in einem Zuge mehr als dreißig Centner Plötze aus dem Wasser zu holen. An diesem denkwürdigen Tage wurden in drei Zügen gegen hundert Balgen à fünfzig Kilo geerntet, und wurde nach alter deutscher Sitte in der nächsten Strandkneipe nicht nur die Waare so rasch als möglich für den Marktpreis, der zwischen neun und fünfzehn Reichsmark pro fünfzig Kilo schwankt, verhandelt, sondern noch schneller in flüssiges Feuer, Grog oder Schwedenpunsch, verwandelt. Jedes Communemitglied hatte an genanntem Tage einen Verdienst von sechszig Reichsmark und die gegründete Hoffnung auf mehr. In dem sonst so stillen Häuschen ging es lustig zu. Es duftete nicht nach Patschouli und Rosenpomade, aber nach Thran und Fusel. Die Gesänge, welche den rauhen Kehlen entströmten, waren mehr Schelmen- als Minnelieder; die Geschichten, welche erzählt wurden, gehörten auch nicht alle in den „Kinderfreund“ hinein, und trotz alledem war es doch interessant, diesem Treiben beizuwohnen und sich eine kurze Zeit mit diesem nordischen Gebrüll und Gebahren zu identificiren, dessen schließlich auftretende Bestialität, wenn der Brummschädel mit Gasen erfüllt und die Beine das Bestreben zeigen, stets um die Ecke gehen zu wollen, dem Nüchternen immer lästig fällt. Darum hieß es auch bei mir sehr bald: „genug des grausamen Spiels“, denn ich hatte mäßig mitgehalten, mich erwärmt und konnte mich nach Hause drücken.

Eine zweite Art, dem stummen und wohlschmeckenden Wasserbewohner unter dem Eise zu Leibe zu gehen, besteht in dem erbarmungslosen Stechen des Aals. Um solches zu ermöglichen, wird an dem fünfundzwanzig bis dreißig Fuß langen Schafte von Kiefernholz das aus vier bis sechs sehr scharf angefeilten und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 666. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_666.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)