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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Ich dächte doch nicht,“ meinte der Doctor, indem er geduldig wieder zurückblätterte, um die Stelle zu suchen, bei welcher sie stehen geblieben waren.

Die junge Dame maß ihn mit einem wahren Inquisitorenblick. „Nicht, Herr Doctor? Nun, Sie müßten doch aus erster Hand wissen, was es eigentlich im Schlosse gegeben hat. Sie, der Freund und Vertraute des Herrn Nordeck! Gegeben hat es etwas – das steht fest, denn das geht ja jetzt wie im Wirbelsturm, seit der junge Herr fort ist. Die Boten fliegen nur so zwischen Wilicza und Rakowicz. Bald ist Graf Morynski hier, bald Fürst Baratowski drüben; wenn man unsere gestrenge Frau Fürstin einmal zu Gesichte bekommt, so zeigt sie eine Miene, als stände der Weltuntergang allernächstens bevor, und was sind denn das für Dinge, die seit zwei oder drei Abenden im Parke vorgehen, und von denen mir der Inspector erzählt hat? Man holt etwas, oder bringt etwas. Sie müssen das doch nothgedrungen bemerkt haben. Ihre Fenster liegen ja gerade nach der Seite hinaus.“

Sie sprach consequent deutsch, und Fabian ließ sich immer wieder verleiten, ihr in dieser Sprache zu antworten. Er rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her.

„Ich weiß nichts, durchaus nichts davon,“ versicherte er.

„Das sagt Papa auch immer, wenn ich ihn frage,“ schmollte Gretchen. „Ich begreife ihn überhaupt diesmal ganz und gar nicht; er hat den Inspector angefahren, als dieser mit seiner Nachricht kam, und ihm streng befohlen sich nicht weiter um den Park zu kümmern, Herr Nordeck wolle es nicht. Papa kann doch unmöglich auch mit im Complot stecken, und doch sieht es beinahe so aus. Meinen Sie nicht?“

„Aber mein Fräulein,“ bat der Doctor. „Der Zweck meines Kommens wird wirklich nicht erreicht, wenn Sie sich fortwährend mit solchen Dingen beschäftigen. Seit einer halben Stunde bin ich hier, und wir haben noch nicht eine einzige Seite gelesen – bitte!“

Er schob ihr wohl zum sechsten Male das Buch hin. Sie nahm es endlich mit resignirter Miene.

„Meinetwegen! Ich sehe, man will nach nicht in das Geheimniß einweihen, aber ich werde schon allein dahinter kommen, und dann wird man bereuen, mir so wenig getraut zu haben. Ich kann auch schweigen – unbedingt kann ich das.“ Damit begann sie ein französisches Gedicht zu lesen, aber mit sehr gereiztem Ausdrucke und einer absichtlich falschen Betonung, die ihren Lehrer fast zur Verzweiflung brachte.

Sie las eben erst die zweite Strophe, als ein Wagen in den Hof fuhr. Es befand sich augenblicklich Niemand darin, aber der Kutscher schien hier schon bekannt zu sein, denn er machte sich sofort daran, auszuspannen. Gleich darauf trat eins der Dienstmädchen mit der Meldung ein, Herr Assessor Hubert werde sich die Ehre geben, auf dem Gutshofe vorzusprechen, er sei nur auf einen Augenblick im Dorfe abgestiegen, wo er bei dem Schulzen zu thun habe, und schicke einstweilen seinen Wagen voraus mit der Anfrage, ob er auch diesmal auf die Gastfreundschaft des Herrn Administrators rechnen könne.

Dabei war nun weiter nichts Auffallendes; bei der freundschaftlichen Stellung, die er zu der Frank’schen Familie einnahm, pflegte der Assessor stets in ihrem Hause zu übernachten, wenn seine Amtsgeschäfte ihn in die Nähe von Wilicza führten, und er sorgte schon dafür, daß dies sehr häufig geschah. Der Administrator war zwar über Land gefahren wurde aber noch heute Abend zurückerwartet; seine Tochter gab also die Weisung, für Fuhrwerk und Kutscher Sorge zu tragen und nachzugehen, ob im Gastzimmer Alles in Ordnung sei.

„Wenn der Assessor kommt, ist es mit unserer Lesestunde zu Ende,“ sagte sie etwas ärgerlich zum Doctor, „aber er soll uns nicht lange stören. Ich lasse gleich in den ersten fünf Minuten etwas von den Heimlichkeiten im Parke fallen, dann läuft er schleunigst hinüber, um sich hinter irgend einem Baume auf die Lauer zu stellen, und wir sind ihn los.“

„Um Gotteswillen nicht!“ rief Fabian im Tone des größten Schreckens, „schicken Sie ihn nicht dorthin! Im Gegentheil, halten Sie ihn um jeden Preis davon zurück!“

Gretchen stutzte. „So, Herr Doctor? Ich denke, Sie wissen nichts, durchaus nichts – weshalb gerathen Sie denn auf einmal so in Angst?“

Der Doctor saß mit gesenktem Blicke wie ein ertappter Verbrecher da und suchte vergebens nach einer Ausflucht; das Lügen wollte ihm durchaus nicht gelingen. Endlich schlug er die Augen auf und sah das junge Mädchen treuherzig an.

„Ich bin ein friedlicher Mann, mein Fräulein,“ sagte er, „und dränge mich nie in fremde Geheimnisse. Ich weiß wirklich nicht, was im Schlosse vorgeht, daß aber etwas vorgeht, habe ich freilich auch in den letzten Tagen bemerken müssen. Herr Nordeck hat mir nur Andeutungen darüber gegeben, aber es ist doch wohl kein Zweifel, daß Gefahr bei der Sache ist.“

„Nun, für uns doch nicht,“ meinte Gretchen mit großer Seelenruhe. „Was thut es denn, wenn der Assessor wirklich die ganze Gesellschaft da drüben auseinandersprengt? Herr Nordeck ist fort – den kann er also nicht greifen, und er wird sich auch hüten nach jener ersten Verhaftungsgeschichte. Sie stehen außerhalb jedes Verdachtes, und was die Fürstin und Fürst Leo betrifft –“

„So sind sie Waldemar’s Mutter und sein Bruder,“ fiel Doctor Fabian in tiefer Bewegung ein. „Begreifen Sie denn nicht, daß jeder Schlag, der gegen sie geführt wird, auch ihn treffen muß? Er ist der Herr des Schlosses; man macht ihn verantwortlich für Alles, was dort geschieht.“

„Und das mit vollem Rechte!“ rief Gretchen hitzig werdend. „Warum reist er fort und läßt den Umtrieben Thür und Thor offen? Warum ist er mit seinen Verwandten einverstanden?“

„Er ist es nicht,“ betheuerte Fabian, „im Gegentheil, er setzt sich mit aller Entschiedenheit dagegen; seine Reise hat ja nur den Zweck – mein Gott, zwingen Sie mich doch nicht, von Dingen zu reden, von denen ich gar nicht weiß, ob ich sie Ihnen verrathen darf! Aber das weiß ich, daß Waldemar Alles daran liegt, Mutter und Bruder zu schonen. Er hat mir bei der Abreise das Versprechen abgenommen, ich solle nichts hören und sehen wollen von dem, was im Schlosse vorgeht, und Ihrem Vater hat er ähnliche Weisungen gegeben. Ich hörte es, wie er zu ihm sagte: ‚Ich mache Sie verantwortlich dafür, daß die Fürstin inzwischen unbehelligt bleibt; ich nehme Alles auf mich.‘ Aber jetzt ist er fort; Herr Frank ist fort, und nun führt ein unglücklicher Zufall gerade jetzt diesen Assessor Hubert her, der um jeden Preis etwas entdecken will und auch entdecken wird, wenn man ihm freie Hand läßt. Ich bin ganz rathlos.“

„Das kommt davon, wenn man mir etwas verschweigt,“ sagte Gretchen strafend. „Hätte man mich in’s Vertrauen gezogen, so hätte ich mich rechtzeitig mit dem Assessor gezankt, und dann wäre er für’s Erste nicht hierhergekommen. Jetzt soll ich Rath schaffen.“

„Ach ja, thun Sie das!“ bat der Doctor. „Sie vermögen ja Alles über den Assessor. Halten Sie ihn zurück! Er darf heute durchaus nicht in den Umkreis des Schlosses kommen.“

Fräulein Margarethe schüttelte bedenklich den Kopf. „Da kennen Sie Hubert nicht; den hält kein Mensch zurück, wenn er erst einmal eine Spur gefunden hat, und finden wird er sie, wenn er überhaupt in Wilicza bleibt, denn er fragt regelmäßig den Inspector aus; also darf er gar nicht hier bleiben. – Ich weiß ein Mittel. Ich lasse mir von ihm eine Erklärung machen – er setzt jedesmal dazu an; ich lasse ihn nur nie so weit kommen – und dann gebe ich ihm einen Korb. Darüber wird er so wüthend werden, daß er Hals über Kopf nach L. zurückfährt.“

„Das gebe ich unter keiner Bedingung zu,“ protestirte der Doctor. „Was auch kommen mag, Ihr Lebensglück darf nicht das Opfer werden.“

„Glauben Sie etwa, daß mein Lebensglück von Herrn Assessor Hubert abhängt?“ fragte Gretchen mit verächtlich aufgeworfenen Lippen.

Fabian glaubte das allerdings. Er wußte ja aus Hubert’s eigenem Munde, daß dieser „sicher auf ein Ja rechnen durfte“, aber eine sehr begreifliche Scheu hielt ihn zurück, diesen zarten Punkt näher zu berühren.

„Mit solchen Dingen darf man niemals Scherz treiben,“ sagte er vorwurfsvoll. „Der Assessor würde früher oder später die Wahrheit erfahren, und das würde ihn tief verletzen, ihn vielleicht auf ewig von Ihnen entfernen – niemals!“

Gretchen sah etwas betroffen aus; sie begriff zwar durchaus nicht, wie man einen Korb so ernst nehmen könne, und machte sich herzlich wenig aus der ewigen Entfernung des Assessors, aber der Vorwurf traf doch ihr Gewissen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 693. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_693.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)