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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


einen physiologischen Proceß, durch das allmähliche Gerinnen einer in den Muskeln enthaltenen Eiweißverbindung hervorgerufen und schwindet daher wieder, wenn bei der beginnenden Verwesung diese Eiweißkörper wieder aufgelöst werden.

Dagegen tritt unter noch nicht völlig klargestellten Umständen, wenn gesunde Menschen plötzlich, zum Beispiel durch einen sofort tödtenden Schuß hingestreckt werden, die Starre, und zwar dann doch wohl durch eine Art Krampf so plötzlich ein, daß die schmerzverzerrten Züge und die augenblickliche Stellung von Hand und Fuß festgehalten werden und die Bezeichnung des Todes als des „gliederlösenden“ und „langhinstreckenden“ nicht Stich hält. Auf den Schlachtfeldern der Krim, Italiens und Frankreichs haben verschiedene Aerzte augenblicklich getödtete Soldaten mit dem Gesichtsausdruck und in der Stellung angetroffen, in welcher sie das tödtliche Geschoß überraschte. So fand Dr. Roßbach auf dem Schlachtfelde von Sedan eine Gruppe von sechs Franzosen, die ein einziger Granatschuß in dem Augenblicke getödtet hatte, als sie in einer Erdvertiefung beisammensaßen, um ihr Frühstück zu genießen. Da sie eng aneinandergesessen, so stützten sich die Leichen gegenseitig; der eine Soldat, dem der Splitter nichts vom Kopfe gelassen als den Unterkiefer auf dem Rumpfe, hielt in der erhobenen Hand, zierlich zwischen Daumen und Zeigefinger, die zinnerne Tasse, deren Rand noch die Lippe berührte. Seinem Nachbar war der Hinterkopf weggerissen worden, während er wahrscheinlich über eine lustige Bemerkung seiner Cameraden lachte, und dieses Lachen hatte der Tod festgehalten. Ein durch die Brust geschossener Deutscher wurde gefunden, wie er auf seinem Tornister halb auf der Seite lag, und in der längst erstarrten Hand die Photographie seiner Frau oder Geliebten vor die gebrochenen Augen hielt. Derselbe Beobachter hat noch mancherlei ähnliche Fälle in Virchow’s Archiv beschrieben, wir müssen aber nach dieser Abschweifung zu der letzterwähnten Kranken zurückkehren.

Marie Lecomte erschien noch deshalb studirenswerth, weil ihre Krankheit, obwohl in Entstehung und Verlauf lebhaft an diejenige religiöser Schwärmerinnen erinnernd, doch ebenso wie der schlafende Ulan gänzlich jedes mystischen und religiösen Hintergrundes entbehrend, rein als das erschien, was sie war, als schweres Nervenleiden. Bei der Lecomte wurden nämlich die starrsuchtartigen Zustände, nachdem sie am siebenten Tage aus denselben erwacht war und zu trinken verlangt hatte, und nachdem neue Anfälle von abnehmender Dauer (vierzig Stunden, sechszehn Stunden, acht Stunden) in kurzen Pausen gefolgt waren, gerade wie bei der Maria von Mörl, Louise Lateau etc. von Traumphantasien abgelöst, in denen sie beständig sprach, nur daß ihre Aeußerungen durchaus keinen religiösen oder theatralischen Charakter hatten. Unter Anderem behauptete sie zwei Tage lang völlig blind zu sein und rieb sich beständig die Augen. Görres würde diese Abart der „heiligen Krankheit“ jedenfalls zu der „teuflischen“ Sorte gerechnet haben. Sie war vier Wochen nach ihrem ersten Anfalle völlig hergestellt, hat aber im Beginne dieses Jahres einen neuen kürzeren Anfall zu bestehen gehabt. Der Arzt bedarf des Studiums solcher Krankheitsfälle nicht, um sich in der Ansicht zu stärken, die schon Altmeister Hippokrates von den sogenannten „heiligen“ oder „dämonischen“ Krankheiten äußerte, aber ihr Auftreten wird, so lange der Schleier, der die ihnen zu Grunde liegenden körperlichen Vorgänge verhüllt, nicht völlig gelüftet ist, immer das höchste Interesse erregen, besonders wenn sie einen so ungemischten Charakter darbieten, wie in den hier erwähnten beiden Fällen.

C. St.




Bilder und Skizzen aus Potsdam.
Von Fedor von Köppen.
Mit Originalzeichnungen von Hermann Lüders.
(Schluß.)


5.

Im Jahre 1831 beherrschte die Cholerasucht die Gemüther so entsetzlich und drückend, daß kaum noch Jemand sein Haus zu verlassen sich getraute. Die Maßregeln, durch welche man das damals noch unbekannte asiatische Gespenst fern zu halten suchte, thaten mehr dazu, diese Furcht zu steigern, als sie zu beschwichtigen. Damals zog der königliche Hof nach Charlottenburg, dessen Schloß vollständig abgesperrt wurde. Die in Sanssouci zurückbleibenden Prinzen und Prinzessinnen mit ihren Hofstaaten mußten hier eine Art von Belagerungszustand über sich ergehen lassen. Sämmtliche Zugänge zu den königlichen Schlössern und Gärten wurden militärisch besetzt, Briefe und Lebensmittel nur vermittelst Glasstäben in Empfang genommen und desinficirt. Jedermann, der in Sanssouci einpassiren wollte, mußte sich durch eine Bescheinigung des Polizeidirectors von Potsdam als unverdächtig legitimiren und dann noch einem Räucherungsproceß unterziehen, welcher daran bestand, daß unter einem Stuhle, auf welchem er sich niederzulassen veranlaßt wurde, Chlorkalk- und Essigdämpfe entwickelt wurden.

Um diese Zeit, als die Cholerafurcht ihren Gipfel erreicht hatte, trug sich hier ein für die Geschichte des königlichen Hauses von Preußen hochbedeutsames Ereigniß zu. Den rechten Flügel des Neuen Palais im Sanssoucigarten bewohnte damals Ihre königliche Hoheit die Prinzessin Wilhelm von Preußen, jetzt Kaiserin und Königin Augusta, welche zum ersten Male ihrer Niederkunft entgegensah. Am 18. October, jenem großen Gedenktage in der deutschen Geschichte, Morgens um zehn Uhr, erklärten die Aerzte, daß die Entbindung unmittelbar bevorstehe, und der damalige Adjutant des Kronprinzen, Hauptmann von Willissen, legte mit dieser Nachricht den Weg vom Neuen Palais nach dem Sanssoucischlosse in so schnellem Laufe zurück, daß er nur acht Minuten Zeit dazu gebrauchte. Gleich darauf erschien der Kronprinz, spätere König Friedrich Wilhelm der Vierte, auf einem Schimmel reitend und vom Gefolge umgeben, in der Hauptallee des Parkes, um sich im Galopp nach dem Neuen Palais zu begeben. Ihm folgte der vierspännige Wagen mit der Frau Kronprinzessin auf demselben Wege. Gegen einhalbelf Uhr öffnete sich eine der Thüren des Flügels, und es erscholl der laute Ruf: „Ein Prinz!“ worauf sogleich zwei Adjutanten, der eine nach Charlottenburg, der andere nach der Stadt sprengten, um dem Könige, sowie der großherzoglichen Familie in Weimar die frohe Nachricht zu überbringen. Die Feuerzeichen, welche an demselben Abende auf den Höhen um Potsdam zum Gedächtnisse der großen Völkerschlacht bei Leipzig aufloderten, konnten somit auch als ein Ausdruck der Freude des Volkes über die Geburt eines königlichen Prinzen angesehen werden. Dieser Prinz aber war kein Anderer, als der Kronprinz des deutschen Reiches und von Preußen, Friedrich Wilhelm, der gegenwärtige Bewohner des Neuen Palais.

Das Neue Palais war bekanntlich von Friedrich dem Großen in den Jahren nach dem siebenjährigen Kriege in dem westlichen Theile des Parkes von Sanssouci erbaut und in seinem Innern mit außerordentlicher Pracht ausgestattet worden. Wie man sagte, wollte König Friedrich mit diesem Baue, der einen Kostenaufwand von etwa drei Millionen Thalern erforderte, der Welt beweisen, daß es ihm noch lange nicht an Mitteln zur Fortsetzung des Krieges gefehlt haben würde, und im Volksmunde geht jetzt noch die Sage, daß die drei Genien auf der Kuppel des Schlosses, welche die Königskrone tragen, Niemanden anders vorstellen sollten, als seine drei Gegnerinnen, die Kaiserinnen Maria Theresia, Elisabeth von Rußland und die Marquise von Pompadour.

Die Nachfolger des Königs richteten ihr Augenmerk theils auf neue Bauten, theils auf die Erweiterung und Verschönerung der alten Anlagen von Sanssouci. Da sollte – einhundert Jahre nach seiner Gründung – auch für diesen letzten Prachtbau Friedrich’s des Großen eure neue Aera beginnen, als Prinz Friedrich Wilhelm nach seiner Vermählung mit der Prinzessin Victoria von Großbritannien hier für die Dauer seinen Sommeraufenthalt einrichtete und die hohe Frau die nächsten Umgebungen der Geburtsstätte ihres Gemahls mit feinem Kunstverständnisse und Geschmacke in einen Garten verwandelte, der schon jetzt an Schönheit nicht weit mehr hinter dem weltberühmten Parke von Sanssouci zurücksteht.

Die breite Hauptallee des Gartens von Sanssouci führt in westlicher Richtung gerade auf die Mitte der imposanten Hauptfront des Neuen Palais, während der Fahrweg von Schloß Lindstädt nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_725.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)