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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


läßt’s mich aber nicht ruhen. Ich bin froh, wenn sich nichts, gar nichts Lebendiges mehr im Hause regt, dann schlafe ich augenblicklich ein – das weiß ich.“

„Zwingen kann ich Sie nicht, Huberin,“ entgegnete die gute Frau sorgenvoll. „Vielleicht ist’s wirklich am besten, wenn Sie sich zur Ruhe begeben. Gott behüt’ Euch Alle miteinander!“

Sie hatte kaum das Haus verlassen, als Monika in die Kammer ging und ihr Kleid losmachte. Wilhelm folgte ihr auf denn Fuße. „Frau!“ rief er mit gebrochener Stimme, „soll das so fortgehen? Willst Du nie mehr mit mir reden? Denkst Du denn gar nicht an mich und wie mir zu Muth ist?“

„Dir? Du hast Deine Pflicht und Schuldigkeit gethan. Dann ist Dir allzeit recht zu Muth; das hast Du oft genug gesagt, daß ich’s wissen kann.“

Wilhelm erblaßte und preßte seine Lippen fest aufeinander, als wollte er ein Wort ersticken, das sich herauszudrängen versuchte. Stumm wandte er sich und verließ Zimmer und Haus. Schweren, trägen Schrittes, wie ein Mensch, der allzuweite Wege gewandert ist und doch noch vorwärts muß, schritt er der Station zu. Es war ihm recht, daß man ihn dort verlangte, denn zu Hause hätte er um keinen Preis bleiben mögen. Auch nahm er sich vor, sich für den nächsten Tag freiwillig wieder zum Dienst zu melden. Man hatte ihn in seiner Unglücksstunde sofort abgelöst und ihm einen Mann aus der Arbeitsrotte zum Stellvertreter gegeben, was sollte er aber jetzt weiter mit der müßigen Zeit? Der Stationsvorsteher kam auf ihn zu, sobald er ihn sah, schüttelte ihm die Hand und sprach von geschehener Meldung höheren Orts, von Belobigung und Anerkennung. Wilhelm entgegnete kein Wort, meldete sich nur zum Dienst bereit und ging dann nach der Wärterbude, um seine Jacke zu holen, die an dem Unglückstage dort zurückgeblieben war. Müde saß er in dem engen Geviert auf dem hölzernen Schemel nieder, und sah, die Hände ineinander gefaltet, vor sich hin. Ein zufälliges Geräusch von draußen ließ ihn aufschauen; sein Blick irrte nach dem Fenster, durch welches ihm die Kiesgrube in die Augen fiel. Ein Stöhnen rang sich aus der Brust, die sich ein paar Augenblicke arbeitend hob und senkte, bis die lang auf Foltern gespannte Manneskraft endlich in unaufhaltsamem Schluchzen brach. Hier stehen! Von Neuem auf diesem Platze Posten stehen! Tag für Tag die Stätte schauen, wo ihn die lächelnden Augen zuletzt angeblickt, das helle Stimmchen ihm zuletzt erklungen war! Tag für Tag den folternden Moment neu erleben, ewig diese Signale hören, das schrille Pfeifen durch die Seele schneiden lassen – nein, das hatte er nicht bedacht, das war nicht möglich, nicht menschlich. Das mußte anders werden, wenn er seinen Verstand behalten sollte. Noch eben war ihm von Belobigung und Anerkennung höheren Orts gesprochen worden, und es hatte ihm dabei innerlich geschaudert, wie vor dem Schlimmsten, was ihm angethan werden könnte, aber Eins mußte man ihm gewähren – augenblickliche Versetzung. Die wollte er fordern, und auch das nur für den Moment. Sobald sich irgendwo in der Welt ein Stück Brod für ihn fand, und die ärmlichste Hütte zu Dach und Fach, dann fort, weit fort, irgendwo hin, wo es keine Bahnen gab und keine sausenden Locomotiven. Auch Monika würde so denken und lieber darben, als in dem öden Hause weiter leben, Monika? Wer weiß, ob er Die nicht gerade so gut für ewig eingebüßt hatte, wie seinen Fritzel. Weit fort von seinem Herzen war sie heut – weit fort er von dem ihrigen; das Kind viel näher, obwohl es im dunklen Grabe lag, durch ihn selbst darinnen lag, fühlte er sich nicht von ihm geschieden, wie von dessen Mutter, seit sie ihm die letzten bösen Worte gesagt. Er schüttelte den Kopf, wie Einer, dem der Sinn für ein Dunkles, das ihm zu rathen aufgegeben, nicht aufgehen will, und trat hinaus in’s Freie.

Als er eine Stunde später seiner Wohnung zuwanderte, geschah dies mit dem festen Schritte, der straffen Haltung, die ihm eigen waren. Auf seinen männlichen Zügen lag tiefe Trauer, aber die Ruhe der in sich gesammelten Kraft. Er beschleunigte seine Schritte, indem er dem Hause näher kam, und betrat das Zimmer mit einem Blick im Auge, der aussah, wie ein gutes Wort auf den Lippen. Innerhalb der Schwelle blieb er betroffen stehen. Das Zimmer war sorgfältig aufgeräumt. Monika saß, ihr Umschlagetuch auf dem Schooße, neben dem kleinen, alten Lederkoffer, welchen sie aus ihrer Heimath mitgebracht hatte; derselbe war vollgepackt und fest zugeschnallt.

„Was soll der Koffer, Frau?“ sagte Wilhelm mit bewegtem Tone. „Willst Du fort? Was soll das heißen?“

„Ich gehe heim,“ entgegnete Monika, ohne ihn anzusehen; „ich habe auf Dich gewartet, um es Dir zu sagen. Von hier aus will ich nicht weg; ich gehe jetzt zu Fuß bis zur nächsten Station und fahre dann mit dem Nachtzuge. Den Koffer kannst Du mir nach Frauenwörth schicken. Was ich für die ersten Tage nöthig hab’, trag’ ich auf dem Leibe und im Armkorbe. Was das Fahrgeld angeht, so hab’ ich mir aus dem Kasten fünfzehn Gulden genommen; das langt. Du weißt wohl noch, daß Du mir aus dem Erlöse von dem, was nach dem Brande übrig geblieben, wieder hast anschaffen wollen, was ich an gutem Zeuge mitgebracht hatte. Wir brauchten das hier nicht, und das war gut, denn jetzt hab’ ich das Geld nöthiger, als ein paar Röcke.“

Sie hatte ganz still und langsam vor sich hingeredet, als gäbe sie Acht darauf, von allerlei gleichgültigen Sachen, die zu berichten wären, nichts zu vergessen. Wilhelm hörte sie an, als traute er seinen Sinnen nicht.

„Du willst heim,“ sagte er endlich in kummervollem Tone, „und sagst mir das so, im letzten Augenblicke, mit dem Fuße fast schon aus dem Hause, ohne darüber mit mir geredet zu haben, ohne nur zu fragen, ob es mir recht ist? Monika, das hätt’ ich Dir nicht zugetraut. Ein gutes Wort, und ich wär’ mit Allem zufrieden, was Dich trösten kann – gewiß hätt’ ich Dir keine Einreden gemacht.“ Er ging, die Hände auf dem Rücken, mit starken Schritten in der Stube auf und nieder. „Ich will Dir auch jetzt nicht zuwider sein,“ sagte er plötzlich und blieb vor ihr stehen, „nur bleib’ wenigstens noch heut’ Nacht im Hause! Was werden Deine Leute sagen, wenn Du so Hals über Kopf heimkommst? Schreib’ wenigstens zuvor! Und wie lange soll es dauern, bis Du wieder zu Deinem Manne zurück willst?“

Er war ihr ganz nahe getreten und blickte ihr fest in das Gesicht. Dunkle Röthe glomm in ihren aschfarbigen Wangen auf; ihre Augen hoben sich mit einem Male und begegneten den seinigen mit heißem, glühendem Blicke.

„Nie wieder will ich zurück zu Dir,“ rief sie mit einem Feuer, das nach der todtenhaften Starrheit der letzten Tage emporloderte wie Flammen aus dem Schutte.

„Monika!“ Sein mildes Auge wurde finster. Ein strenger Zug, der selten des Mannes gelassenen Ausdruck verschärfte, trat in sein Gesicht. „Du sprichst, was Du nicht verantworten kannst. Ich weiß, wie Dir jetzt zu Muthe ist, aber Alles muß seine Grenzen haben. Hättest Du Deinen Mann auch nur ein Bischen gern, dann müßtest Du mich jetzt trösten in meiner Noth, die größer ist, als die Deinige. Was geschehen ist, hat sein müssen. Durften hundert Menschen und mehr elend zu Grunde gehen? Und weil ich auf meinen Posten ausgehalten hab’ bis zum Letzten, willst Du mich jetzt allein lassen und hast doch heilig versprochen, in Noth und Tod mir treu zu sein?“

„Das hab’ ich versprochen, und das hätt’ ich gehalten,“ rief die junge Frau in leidenschaftlichem Schmerze, „wärst Du ein Mensch wie ein Anderer, mit dem man trägt, was unser Herrgott schickt. Aber Du – Dein eigenes Kind war Dir nicht so lieb wie Dein Posten. Wo gäb’s noch einen Vater, der sich da nur besinnt, was er darf und was er soll! Du hast’s gekonnt, weil – weil –“ Der Ton erstickte ihr in der Kehle; sie rang die Hände, dann brach es heraus wie ein Schrei: „Du hast kein Herz.“ Sie schlug die flatternden Hände vor die Augen. Es ward still um die Beiden, wie im Grabe. Wilhelm regte sich nicht, bis Monika in fieberischer Erregung in die Höhe sprang. „Ich geh’,“ sagte sie hastig und raffte ihr Tuch an sich. „Ich kann nicht mehr bei Dir sein. Kein zweites Kind sollst Du haben, um es hinzumorden, wie meinen Fritzel.“

„Geh denn!“ sagte Wilhelm, und die Worte kamen mühsam aus seiner Kehle. „Ich halte Dich nicht. Gott verzeih’ Dir, was Du mir thust!“

Sie hörte die Worte, wendete aber den Kopf nicht mehr nach ihm, sondern ging unaufhaltsam vorwärts, ohne einen Blick auf die Räume zu werfen, die sie durchschritt, zum Hause hinaus, querfeldein durch die bereits von Dämmerung umschatteten Wiesen, immer rascher, immer weiter, bis ihre Gestalt aus dem Bereiche der bisherigen Heimath verschwunden war.

Niemand blickte ihr nach.


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