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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


der Höllenstrafe. „Die Bibel ist das Wort Gottes und enthält die einzig wahre Lehre; sie ist ein in allen Theilen und Einzelnheiten von Gott inspirirtes Buch. Aber derselbe Geist, der über die Propheten und Apostel kam und ihre Herzen mit himmlischer Weisheit erfüllte, lebt noch und verkündet den Auserwählten den Willen des Herrn durch unmittelbare Offenbarungen. Im siebenzehnten Jahrhundert begann der Geist das Werk der Inspiration in England (bei den Quäkern), im achtzehnten in Frankreich und Deutschland, erweckte die Gemüther vieler Frommen und führte sie durch die vortrefflichen Ermahnungen der Heiligen wieder zur reinen Lehre zurück. Doch der Versuchungen sind viele, und deshalb ist es räthlich, in gänzlicher Absonderung von der Welt durch Werke der Liebe, durch unausgesetzte geistliche Uebungen der Gnade des Herrn würdig zu werden.“

Die Taufe wird nicht ertheilt, dagegen wird das Abendmahl in ähnlicher Weise wie bei den ersten Christen gefeiert. Es wird jedoch nicht an bestimmten Tagen, sondern nur dann gereicht, wenn der Geist einen speciellen Erlaß an ein „Werkzeug“ ergehen läßt, was manchmal während mehrerer Jahre nicht geschieht. Die Gemeinde bereitet sich durch lange und inbrünstige Gebete, durch Belehrungen der Aeltesten, in welchen sich diese nicht nur allgemein über die Bedeutung des Festes und über die Pflichten der Gläubigen verbreiten, sondern einzelne Mitglieder je nach den Eingebungen des Geistes ermuthigen und loben, oder ermahnen und tadeln, auf das gnadenreiche Ereigniß vor. An dem feierlichen Tage versammeln sich die Frommen „zerknirschten Herzens“ im Bethause und bringen mehrere Stunden mit Singen und Beten und dem Anhören erbaulicher Reden zu. Dann waschen die Aeltesten die Füße gewisser durch Frömmigkeit ausgezeichneter Männer und Frauen. Nach diesem Acte findet die Segnung der Brode und des Weines durch das Werkzeug und die Austheilung derselben durch die Aeltesten statt. Darauf lassen sich die Gemeindemitglieder zu einem Liebesmahle, bestehend aus Kuchen, Chocolade und Kaffee, an den langen Tafeln nieder, stärken sich nach Beendigung desselben durch einen geistlichen Gesang und bringen den Rest des Tages in erbaulichem Nachdenken und stillem Gebete in ihren Häusern zu.

Die Amaniten haben dreimal die Woche, des Mittwochs, Samstags und Sonntags, Morgengottesdienst und täglich um sieben Uhr Abendandachten. Die Gemeinde ist, je nach der Heiligkeit der Mitglieder, in drei Grade oder Classen eingetheilt, welche sich gewöhnlich in besonderen Localen, am Samstag jedoch gemeinsam in der thurmlosen Kirche zusammenfinden. Am oberen Ende des geräumigen, niedrigen Betsaales befinden sich ein Tisch und mehrere Stühle, zu beiden Seiten des mittleren Ganges lange Bänke ohne Lehnen, auf denen die Gläubigen, rechts die Männer, links die Frauen, Platz nehmen. Die plumpen Möbel, die ungetünchten Wände und die Abwesenheit allen Schmuckes in dem Raume machen auf den Beschauer einen ungemein traurigen Eindruck, überhaupt sind die Amaniten fanatische Anhänger der Utilitätstheorie und haben der Schönheit und der Kunst in jeder Form den Krieg erklärt. Die Andachten werden gewöhnlich durch Absingen eines geistlichen Liedes eröffnet und beschlossen. Diese Gesänge – geschmacklose und holperige Versificationen der Psalmen mit hinzugefügten Nutzanwendungen und Lebensregeln – haben gewöhnlich zwölf bis vierundzwanzig Strophen, die wohl ein vom Geiste erfüllter Heiliger im Vorgeschmack himmlischen Entzückens zu dichten, jedoch selbst ein Amanite mit seiner unerschöpflichen Geduld nicht alle zu singen vermag. So werden gewöhnlich vier Strophen gesungen und der Rest derselben von den Aeltesten gelesen. Nach dem Gesange verharrt die Gemeinde einige Minuten in feierlichem Schweigen, um dann andächtigen Gemüthes einem kurzen Gebete des Aeltesten, gewöhnlich in Versen, zu lauschen. Darauf sagen alle männlichen Mitglieder, einzeln und in einer gewissen Reihenfolge, in singendem halblautem Tone ein kürzeres oder längeres Gebet her. Ein Aeltester improvisirt nun ein Gebet und liest einige Capitel aus den aufgezeichneten Verkündigungen der Werkzeuge, in den Morgenandachten dagegen hält er gewöhnlich eine erbauliche Ansprache, die sich durch die einfachste Diction und vollständige Planlosigkeit auszeichnet. Manchmal jedoch, wenn der Geist über das Werkzeug kommt, verfällt dasselbe in einen religiösen Paroxysmus; es windet sich in krampfartigen Zuckungen und stößt erhabene Prophezeiungen aus, welche an glühender Bilderpracht und absoluter Unverständlichkeit manchen Stellen in der Offenbarung Johannis gleichkommen. Der Gottesdienst wird durch Absingen eines geistlichen Liedes beschlossen. In den einzelnen Gebeten wechseln die Frauen und Männer miteinander ab. E. L. Gruber hat einundzwanzig „Regeln für ein gottgefälliges Leben“ geschrieben. Dieselben bilden das Moralgesetz der Amaniten und gebieten Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, Mäßigkeit und Enthaltsamkeit von müßigen Gedanken, Worten, Werken und allen weltlichen Lustbarkeiten, Schweigsamkeit und Arbeitsamkeit, Vermeidung des Umgangs mit Andersdenkenden und Personen des anderen Geschlechtes, Geringschätzung irdischer Güter, Heiligung aller Handlungen durch Gebet, Gehorsam gegen die geistliche und weltliche Obrigkeit und Demuth und Selbsterniedrigung vor den Aeltesten.

Aus den vorstehenden Benennungen ergiebt sich, daß die Bewohner der Colonie harmlose religiöse Schwärmer sind. Sie gehören meistens den unteren Schichten der Gesellschaft an. Merkwürdig ist jedoch die Thatsache, daß sie neben ihrem religiösen Eifer einen bedeutenden Grad gesunden Menschenverstandes und klugen Geschäftstactes besitzen. Hierdurch wurden sie befähigt, die erkauften Ländereien bald in fruchtbare Felder, blühende Gärten und üppige Wiesen zu verwandeln und mit großem Erfolge Fabriken zu errichten und Gewerbe zu betreiben.

Die Niederlassung Amana – der Name ist dem Hohen Liede entnommen – besteht jetzt aus sieben Dörfchen: Amana, Homestead, Ost-, West-, Süd- und Mittel-Amana und Amana am Hügel. Die Commune besitzt zwei Wollspinnereien, eine Brauerei, zwei Getreide- und drei Sägemühlen, eine Gerberei und eine Druckerei, welche in den verschiedenen Dörfern liegen und für ihre Produkte bei den benachbarten Farmen, sowie in den nächsten Städten Absatz finden. In jedem Dorfe findet man Werkstätten für die Handwerker, eine Schenke, einen Laden, mehrere Bethäuser und in entsprechenden Entfernungen Speisehäuser, worin etwa vierzig Personen gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen. Die Speisen werden von einer gewissen Anzahl hierzu bestimmter Frauen und Mädchen zubereitet, welche die nothwendigen Lebensmittel, im Verhältniß der Besuchenden, aus dem Laden beziehen. Das Essen ist einfach, aber kräftig – Brod, Butter und Käse sind ausgezeichnet. Kranken Mitgliedern werden die Speisen in ihre Wohnungen gebracht. Die Amaniten haben die Gewohnheit des zweiten Frühstückes und des Vesperbrodes beibehalten. Bei den Mahlzeiten sitzen die Geschlechter gesondert in demselben Saale, die Kinder essen in einem besonderen Hause, unter der Aufsicht von Wärterinnen. Die Bewohner der Colonie sind weniger ascetisch als die Shakers und Rappisten. Sie haben weder Bacchus noch Gambrinus abgeschworen, bauen einen erträglichen Landwein und brauen ein leichtes, wohlschmeckendes Bier. Beide Getränke werden sowohl bei den Mahlzeiten, wie zu jeder anderen Zeit genossen, und die meisten Männer wissen den Genuß einer Nachmittags- oder Abendpfeife wohl zu würdigen. Die Dörfer bestehen aus einer langen Straße, auf beiden Seiten derselben liegen die aus Holz oder Backstein erbauten Häuser, von einem großen Garten umgeben. Die äußerst geräumigen Scheunen und Ställe, die Mühlen und Fabriken, sowie die Häuser der Tagelöhner, deren die Commune etwa zweihundertfünfzig beschäftigt, befanden sich außerhalb des Dorfes.

Die Familien bewohnen besondere Häuser, deren Einrichtung einen gänzlichen Mangel an ästhetischem Sinne, ja selbst an Bequemlichkeitsliebe offenbart. Die Wände sind ungetüncht; die Möbel bestehen aus rohen Brettern. Alle Gefäße sind ungewöhnlich plump, dagegen läßt sich überall eine wahrhaft holländische Reinlichkeit bemerken. Nach dem Frühstücke und dem Mittagsmahle gehen die Erwachsenen, unter der Leitung eines Vormannes, ihrer Arbeit nach; die Kinder versammeln sich in der Schule, wo sie von einem Lehrer in der Religion, in der deutschen und englischen Sprache, sowie in den Elementarfächern unterrichtet werden. Mädchen und Knaben werden zum Stricken von Strümpfen, Handschuhen und Halstüchern angehalten, und die verfertigten Kleidungsstücke genügen nicht nur dem Bedürfnisse der Commune, sondern bilden einen gewinnbringenden Export-Artikel. Der Schwerpunkt des Unterrichts liegt in dem Memoriren des Katechismus und in religiösen Uebungen. „Wir brauchen keine Advocaten und Prediger – wozu sollten unsere Knaben studiren? Gottes Gebote aus der Bibel zu lernen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 757. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_757.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)