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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Der Doctor lächelte ein wenig. „Das würden Sie schwerlich zu Stande gebracht haben. Eine Natur wie die Waldemar’s läßt sich überhaupt nicht gewöhnen, am wenigsten zur Mittheilung. Er kennt gar nicht das Bedürfniß, sich auszusprechen oder sein Inneres Jemandem aufzuschließen. Was auch in ihm vorgehen mag, er macht es mit sich allein aus; seine Umgebung erfährt nie etwas davon, und man muß ihn so lange und so genau kennen wie ich, um zu wissen, daß er überhaupt empfindet.“

„Natürlich – er hat kein Herz,“ sagte Gretchen, die mit ihrem Urtheil immer sehr schnell fertig war. „Das sieht man ja auf den ersten Blick. Es weht einen förmlich kalt an, sobald er in’s Zimmer tritt, und mich fröstelt jedesmal, wenn er mit mir spricht. Fürchten hat ihn jetzt ganz Wilicza gelernt, lieben auch nicht ein Einziger, und selbst meinem Vater steht er, trotz all seiner Freundlichkeit und Rücksicht gegen uns, noch gerade so fremd gegenüber, wie am Tage seiner Ankunft. Ich bin überzeugt, er hat noch nie ein menschliches Wesen geliebt, am wenigsten eine Frau – er ist vollständig herzlos.“

„Bitte, mein Fräulein –“ Fabian gerieth förmlich in Hitze bei der Antwort. „Da thun Sie ihm großes Unrecht. Er hat Herz, mehr als Sie glauben, mehr vielleicht als der feurige, leidenschaftliche Fürst Baratowski. Waldemar versteht nur nicht das seinige zu zeigen, oder vielmehr er will es nicht. Schon bei dem Knaben habe ich diesen Zug starrer Zurückhaltung und Verschlossenheit beobachtet und jahrelang umsonst dagegen angekämpft, bis ein zufälliges Ereigniß, eine Gefahr, die mich bedrohte, das Eis brach. Erst seit jener Stunde kenne ich Waldemar, wie er wirklich ist.“

„Nun, liebenswürdig ist er nicht, das bleibt ausgemacht,“ entschied Gretchen, „und ich begreife nicht, wie Sie mit einer solchen Zärtlichkeit an ihm hängen können. Sie waren ja gestern ganz außer sich wegen der überstandenen Gefahr, die er seinerseits sehr leicht nahm, und heute ist sicher wieder irgend etwas im Schlosse vorgegangen, denn Sie sind im höchsten Grade aufgeregt und verstimmt. Gestehen Sie es mir nur ein! Ich sah es schon, als Sie eintraten. Bedroht Herrn Nordeck denn noch irgend etwas?“

„Nein, nein,“ sagte der Doctor hastig. „Es handelt sich gar nicht um Waldemar; die Sache geht mich allein an. Sie hat mich allerdings sehr aufgeregt, aber verstimmt – nein, mein Fräulein, durchaus nicht. Ich habe heute Morgen Nachrichten aus J. erhalten.“

„Hat dieses wissenschaftliche und historische Ungethüm, dieser Professor Schwarz, Ihnen schon wieder Verdruß bereitet?“ fragte die junge Dame mit so kampfeslustiger Miene, als sei sie auf der Stelle bereit, sich in eine erbitterte Fehde mit der genannen Autorität einzulassen.

Fabian schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, daß ich es diesmal bin, der ihm den ärgsten Verdruß bereitet, wenn auch wahrhaftig gegen meinen Willen. Sie wissen ja, daß es meine ‚Geschichte des Germanenthums‘ war, die den ersten Anlaß zu dem unglücklichen Streite zwischen ihm und dem Professor Weber gab, einem Streite, der immer größere Dimensionen annahm und zuletzt auf die Spitze getrieben wurde. Schwarz, heftig wie er von Natur ist, überdies gereizt und erbittert durch die Wichtigkeit, die man meinem Buche belegte, ließ sich zu Persönlichkeiten, zu einen fast unverantwortlichen Benehmen gegen seinen Collegen hinreißen und drohte, als die ganze Universität auf dessen Seite trat, seine Entlassung zu nehmen. Es war wohl nur ein Versuch, seine Unentbehrlichkeit in das rechte Licht zu stellen – er hat nie ernstlich daran gedacht, J. zu verlassen, aber sein schroffes Wesen hat ihm auch unter den maßgebenden Persönlichkeiten viel Feinde geschaffen, genug, man machte keinen Versuch, ihn zu halten und nahm als Thatsache, was nur eine Drohung sein sollte. Da blieb ihm freilich nichts übrig, als auf dem schon öffentlich kund gegebenen Entschlusse zu beharren. Es ist jetzt entschieden, daß er die Universität verläßt.“

„Das ist ein Glück für die Universität,“ bemerkte Gretchen trocken. „Aber ich glaube wahrhaftig, Sie sind im Stande, sich Gewissensbisse darüber zu machen. Das sieht Ihnen ähnlich.“

„Es ist nicht das allein,“ sagte Fabian leise und mit stockender Stimme. „Es ist ja die Rede davon, daß – daß ich seine Stelle einnehmen soll. Professor Weber schreibt mir, man beabsichtige, den auf diese Weise erledigten Lehrstuhl mir anzubieten – mir, dem einfachen Privatgelehrten, der noch gar keine akademische Thätigkeit aufzuweisen hat, dessen einziges Verdienst in seinem Buche besteht, dem ersten, das er veröffentlicht – es ist etwas so Ungewöhnliches, Unerhörtes, daß ich mich anfangs vor Ueberraschung und Bestürzung gar nicht zu fassen wußte.“

Gretchen sah weder überrascht noch bestürzt aus, sie schien die Sache vielmehr ganz in der Ordnung zu finden. „Da handelt man sehr vernünftig,“ meinte sie. „Sie sind viel bedeutender als Professor Schwarz. Ihr Werk steht hoch über seinen Schriften, und wenn Sie erst auf seinem Lehrstuhle sitzen, werden Sie seine ganze Berühmtheit verdunkeln.“

„Aber, mein Fräulein, Sie kennen ja weder den Professor noch seine Schriften,“ warf der Doctor schüchtern ein.

„Das ist gleichgültig – ich kenne Sie,“ erklärte das junge Mädchen mit einer Ueberlegenheit, gegen die sich schlechterdings nichts einwenden ließ. „Sie werden doch selbstverständlich die Berufung annehmen?“

Fabian sah vor sich nieder. Es vergingen einige Secunden, bevor er antwortete.

„Ich glaube kaum. So ehrenvoll die Auszeichnung auch ist, ich wage nicht, sie anzunehmen, denn ich fürchte, einer so bedeutenden und hervorragenden Stellung gar nicht gewachsen zu sein. Die jahrelange Zurückgezogenheit, das einsame Leben bei meinen Büchern haben mich für die Oeffentlichkeit fast untauglich gemacht und ganz unfähig, all den äußeren Anforderungen zu genügen, die sich an eine solche Stellung knüpfen. Endlich der Hauptgrund – ich kann Waldemar nicht verlassen, zumal jetzt nicht, wo so Manches auf ihn einstürmt. Ich bin der Einzige, der ihm nahe steht, dessen Umgang er vermissen würde; es wäre der Gipfel aller Undankbarkeit, wollte ich jetzt um äußerer Vortheile willen –“

„Und es wäre der Gipfel alles Egoismus, wenn Herr Nordeck dieses Opfer annehmen wollte,“ fiel Gretchen ein. „Zum Glück wird er das nicht thun und nie zugeben, daß Sie um seinetwillen eine Zukunft zurückweisen, die für Sie das ganze Lebensglück einschließt.“

„Für mich?“ wiederholte der Doctor in gedrücktem Tone; „da irren Sie doch. Ich habe von jeher meine ganze Befriedigung in dem Studium gesucht und gefunden und es schon als eine besondere Gunst des Schicksals angesehen, als mir in dem Zöglinge, der mir einst so vollständig fern stand, ein Freund erwuchs. Was man so Lebensglück nennt, eine Heimath, eine Familie, das habe ich nie gekannt und werde es wohl schwerlich kennen lernen. Jetzt, wo mir ein so ungeahnter Erfolg zu Theil geworden ist, wäre es vollends Vermessenheit, auch das noch zu begehren; ich bescheide mich gern mit dem, was mir geworden ist.“

Die Worte klangen trotz aller Resignation doch recht schmerzlich, aber die junge Zuhörerin schien gar kein Mitleid dabei zu empfinden. Sie warf verächtlich die Lippen auf.

„Sie sind eine eigene Natur, Herr Doctor. Ich würde bei einer so entsagungsvollen Lebensansicht verzweifeln.“

Der Doctor lächelte wehmüthig. „Bei Ihnen ist das auch etwas ganz Anderes. Wer wie Sie jung, anmuthig, in freien glücklichen Verhältnissen aufgewachsen ist, der hat das Recht, Glück vom Leben zu erwarten und zu verlangen. Möge es Ihnen im reichsten Maße zu Theil werden – das ist mein innigster Wunsch. Aber gewiß, Assessor Hubert liebt Sie und –“

„Was hat denn Assessor Hubert schon wieder mit meinem Glücke zu thun?!“ fuhr Gretchen auf. „Sie machten schon einmal eine solche Andeutung. Was meinen Sie nur damit?“

Fabian gerieth in die äußerste Verlegenheit. „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich indiscret war,“ stotterte er. „Es fuhr mir nur so heraus – ich weiß ja, daß das Verhältniß noch kein öffentlich erklärtes ist, aber meine innige Theilnahme mag es entschuldigen, wenn ich –“

„Wenn Sie was –?“ rief das junge Mädchen mit vollster Heftigkeit. „Ich glaube, Sie halten mich im vollen Ernste für die Braut dieses albernen langweiligen Hubert, der mir den ganzen Tag lang von nichts weiter erzählt, als von Verschwörungen und von seinem künftigen Regierungsrathstitel.“

„Aber mein Fräulein,“ sagte Fabian auf’s Höchste betroffen, „der Assessor selbst theilte mir bereits im Herbste mit, daß er bestimmte Hoffnungen habe und mit vollster Sicherheit auf Ihr Jawort rechnen dürfe.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_767.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)