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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


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Ohne Inschrift.
Eine Skizze aus dem podolitischen Ghetto.
Von Karl Emil Franzos.[1]


Es war ein schöner, stiller Herbsttag, da ich zuletzt hinausging. Der Weg läuft eigensinnig genug über Gärten und Felder, und mit mir war Niemand, als der Sonnenschein und ein leises Wehen im welkenden Gesträuche, aber ich brauchte auch Niemand zu fragen. Ich kenne den Weg. Ich gehe ihn jedesmal, so oft ich die Heimath grüße, und von Jahr zu Jahr gehe ich ihn lieber. Denn die Zahl der Bekannten, zu denen er mich führt, wächst von Jahr zu Jahr, und es kommt wohl der Tag, da ich schließlich nichts mehr zu suchen habe drinnen im Städtchen …

Der „gute Ort“ war es, wohin ich ging. Und da dies das einzige Plätzchen ist, wohin weder die Peitsche des Polen reicht, noch die gierige Hand des Wunderrabbi, so mag der Name immerhin gelten. Hier ist die arme Seele erlöst von dem doppelten Banne, der sie drückt und – wer zählt die Opfer? – erstickt, von der äußeren Schmach und der inneren Nacht. Diese armen Menschen werden eigentlich erst glücklich, wenn sie gestorben sind. Dann wissen sie leider freilich nichts mehr davon, aber sie ahnen es doch schon im Leben. Darum haben sie ihren Friedhöfen den schönen Namen gegeben, und sie schmücken dieselben, so gut sie können. Es fällt sonst dem Juden des Ostens niemals ein, einen Baum zu pflanzen oder eine Blume zu säen, nur zwischen den Grabsteinen keimt frisches Grün, nur über die Todten weht Blumenduft. Ach! ist es doch auch der einzige Grundbesitz, den ihr diesen Leuten bis vor sechszehn Jahren gegönnt habt.

Auch der „gute Ort“ zu Barnow ist eine freundliche liebe Stätte. Und wie es da im Frühlinge aussieht, habe ich schon einmal erzählt. Hollunderblüthen allüberall, dicht an des Wandelnden Fuß und ihm hoch zu Häupten, roth und blau – und in den Lüften ein Duft, daß er schier die Brust beengt. Das ist im Herbste freilich verweht und verwelkt, aber andere stillere Schönheit schmückt den Raum. Der September bringt der sonst so armen Landschaft unsägliche Klarheit des Lichtes und der Lüfte; still, voll und unendlich ergießt sich über Himmel und Haide der goldene Strom, ein gütiger Königssohn, der sich liebend einer Hirtin neigt und ihr den Purpurmantel um den braunen Leib legt. Sie jubelt nicht auf; demüthig, tief erglühend beugt sie sich dem erdrückend großen Glück. Die Haide ist niemals heiter, und sehr ernst ist sie im Herbste, aber es ist ein lichter Ernst. Tiefroth und prächtig schimmert das Haidekraut und mitten darin in milderen Tinten das sterbende Laub der Linden. Dazwischen glänzt hier und da ein Weiher, wie ein stilles, sinnendes Auge. Wer so allmählich zum Friedhofe emporsteigt und um sich blickt, muß, glaub’ ich, empfinden, daß auch hier herzbewegende Schönheit ist. Uebrigens, ich weiß nicht – vielleicht muß man im Haidelande geboren sein …

Der „gute Ort“ liegt auf einem Hügel, und man kann da weite Umschau halten. Wohl an die zehn Weiher glänzen dem Blicke entgegen, einige Dorfschaften, welche mit ihren braunen Strohdächern dem Auge wie ein wirrer Haufe von Bienenkörben erscheinen, endlich zu Füßen die Stadt, die hier grau, stattlich und ehrwürdig scheint und in Wahrheit ein so erbärmlich schmutziges Nest ist. Es ist herzbefreiend, wenn man den Blick so frei spielen lassen kann – weit, weit, bis er in den blauen Wellen der Luft ertrinkt. Denn gegen Ost, Nord und Süd ist keine andere Grenze, als die Glocke des Himmels. An minder hellen Tagen auch gegen West. Aber wenn die Luft durchsichtig klar ist, sieht man dort eine graublaue, seltsam geformte Wolkenbank. Wer sie zum ersten Male sieht, kann glauben, daß sich dort ein Wetter balle und sachte aufziehe. Aber die Wolke wächst nicht und zerrinnt nicht; wohl zittern leise ihre Umrisse, aber sie steht ewig fest; es sind die Karpathen …

Doch auch in der Nähe ist es schön. Wohl starren die sonderbaren, knorrigen Arme des Hollunders ohne Blatt und Blüthe, aber nackt sind sie nicht. Tausend und aber tausend Fäden hat der Herbst daran gewoben, und die zittern und glänzen verklärend um das graue Geäst. Auf den Gräbern liegt das tiefrothe Laub, dazwischen blühen die Astern. Die Gräber sind wohlgepflegt; es ist in diesem Volke eine unendliche Ehrfurcht vor der Majestät des Todes.

Ein überaus gewaltiger, überaus strenger Herrscher, der es aber doch im Grunde gut mit den armen Menschen meint und sich erbarmend zu ihnen neigt – das ist den Juden der Tod. Auch sie sterben nicht gern, aber sie sterben leichter, getrösteter; nirgendwo wurzelt der Glaube an das Jenseits so tief und ehern. Nicht blos aus Eigenliebe, sondern auch aus Liebe gegen Gott. Denn er ist ja ein Allgerechter, und wo wäre seine Gerechtigkeit, wollte er ihnen nicht im Jenseits vergelten, was das Erdenleben auf ihr armes Haupt häufte?! Und dennoch hängen sie sehr an der Erde, und alle Seligkeit des Himmels ist nur ein Uebergang, eine Zwischenstation zur vollen Seligkeit auf Erden, nachdem einmal der Messias gekommen. Darum ist es Gottesdienst, die Todten zu begraben. Darum ist es Gottesdienst, die Gräber zu pflegen. Selbst der verwitterte Grabstein wird gestützt und erhalten, vielleicht vom Urenkel, vielleicht von Leuten die nichts von dem Schläfer wissen, oder doch nur so viel, daß er eben ein Mensch gewesen, dem gleiche Freuden und Schmerzen durch die Seele gegangen, wie ihnen. Er war ein Jude; er soll seine Stätte in Ordnung finden, wenn die Posaune klingt. Dieser felsenfeste Glaube mag vielleicht komisch sein, aber es ist mir nie gelungen, ihn so zu finden.

Es geht einem Mancherlei durch Herz und Hirn, wenn man so die Höhe emporwandelt, die Gräberreihen entlang. Ich meine da nicht jene ewigen Fragen, welche ein Geschlecht dem anderen als qualvolles Erbe vermacht und auf die nur Narren eine Antwort erwarten. Freilich erwarten wir sie Alle, denn wir sind eben Alle Narren, arme Narren, die ewige Binde um die Augen, das ewige Dürsten im Gemüth. Aber wozu nutzlos an das Tiefste rühren?! Ich meine andere Fragen. Wer also zum Beispiel den Friedhof da durchschreitet, wo sich der Hügel sacht zu Thale senkt, dem Flusse zu, der muß darüber nachgrübeln, welche Folgen es oft hat, wenn zwei polnische Große zu gleicher Zeit human sein wollen. Auf vierhundert Grabsteinen steht dasselbe Todesjahr eingemeißelt, dasselbe Jahr, derselbe Tag, dieselbe Stunde – es ist eine unsägliche Geschichte – benetzt, nein! überströmt von Blut und Thränen. Und doch Alles nur wegen gleichzeitiger Humanität! So lange nämlich die polnische Königsmacht aufrecht stand, da schützte der Jagellone den Juden und erhielt den Tribut dafür. Aber als diese Macht dahinsiechte und zum armseligen Gespenst ward, das nicht leben noch sterben konnte, da rissen die Wojewoden und auf dem flachen Lande die Starosten den Judenschutz an sich, denn es war eine große Menschenliebe in diesen Leuten. Und in Barnow lebte eine große, reiche Gemeinde, also war das ein großes Verdienst vor Gott, so viele zahlungsfähige Menschen zu beschützen. Darum zogen zwei Starosten zugleich vor die Stadt, der von Tluste und der von Alt-Barnow, und Beide ließen gleichzeitig dem Haupte der Judenschaft sagen: „Entweder beschütze ich Euch oder ich schlage Euch todt.“ Die armen Juden waren in einer Lage, welche kein langes Nachdenken ermöglicht: sie griffen rasch sehr tief in den Sack und sicherten sich Beider Schutz. Aber just dies war ihnen zum Verderben, denn die beiden Starosten waren in der That Menschenfreunde; jeder nahm es ernst mit der übernommenen Pflicht, aber keiner traute es dem Anderen zu, und jeder wollte den Anderen auf die Probe stellen. Darum begann der von Alt-Barnow an dem einen Ende der Stadt zu morden und zu plündern und wartete ab, ob sein Rival seine Pflicht thun und die Juden schützen werde. Aber leider machte dieser am anderen Ende just dieselbe Probe, und durch dieses bedauerliche Zusammentreffen der Umstände ward Beiden ihr Zweck vereitelt. Gute Menschen erreichen selten, was sie wollen. Und drei Tage und drei Nächte dauerten die furchtbaren Gräuel.

  1. Der Verfasser des trefflichen Buches „Halb-Asien“ wird in einigen Monaten in Stuttgart ein neues Buch „Die Juden von Barnow“ erscheinen lassen. Es ist uns eine große Freude, aus dem Manuscripte des talentvollen Schilderers die obige stimmungsvolle Skizze jetzt schon veröffentlichen zu können.
    Die Redaction.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_772.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)