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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Auch über diese dicht gereihten Gräber glänzt die milde Herbstsonne; auch hier blühen die Astern, hier voller und reicher, weil der Boden besser gedüngt ist; die Grillen zirpen friedlich im Moose, und die Herbstfäden schiffen langsam durch die leise bewegte Luft. Auch hier ist Frieden und Stille, friedlichste Stille. Und dennoch war es mir, als müßte plötzlich ein Schrei wach werden, ein greller, furchtbarer Schrei und diese Stille zerreißen und diese mildlächelnde Himmelsglocke. Ein Schrei nicht der Klage, sondern der Anklage, und nicht blos gegen den von Tluste und den von Alt-Barnow.

Auch sonst finden sich viele Gräber, welche das gleiche Todesjahr tragen. So aus jenen Tagen, da ein Potocki Juden jagte, weil für anderes Wild Schonzeit war. Oder aus diesem Jahrhundert: aus jenen drei gräßlichen Sommern, da der Zorn Gottes, die Cholera, in der großen Ebene wüthete. Das Gras setzt der Sense mehr Widerstand entgegen, als damals diese Menschen in ihren engen verpesteten Städten der grauenvollen Seuche. Die Gräber sind zahllos, und es ist ein überaus großes Leichenfeld, obwohl die Gemeinde just nicht übergroß ist. Aber wer hier Schlafstätte und Grabstein erhält, der behält auch beide – sogar der Aermste – für immer, wie gesagt, bis die Posaune klingt.

Und Jeder hat den gleichen Grabstein, mindestens was die Form betrifft. Nirgendwo ein eigen geformtes Denkmal, nirgendwo ein kunstvolles Gebild – das verbietet der Glaube. Nur daß der Stein des Armen klein ist, der des Reichen groß, daß der Arme der Inschrift zufolge ein braver Mann war, der Reiche der edelste Mensch, der je gelebt. Das ist aber auch Alles. Denn selbst die Anordnung der Inschrift ist streng durch das Gesetz der Talmodim geregelt: Zu oberst das Merkzeichen des Stammes, dann der Name des Todten und seiner Eltern und darauf der Stand. Manchmal fehlt auch der letztere, denn „Wucherer“ oder „Bestechungsagent“ würde nicht gut klingen, von Schlimmerem zu schweigen. In solchen Fällen heißt es blos: „Er forschte in der Lehre und liebte seine Kinder.“ Und Beides ist auch in der Regel wahr.

Wer diese Inschriften liest, wird nicht länger nach der Tafel der Seligen suchen und nach dem Eden, wo Engel in Menschengestalt wandeln, das heißt, wenn er den Inschriften glaubt. Der semitische Stamm geht in der Pietät gegen die Todten weiter, als jeder andere. Der Römer begnügte sich mit dem „De mortuis nil nisi bene.“ Er verlangte, daß man von dem Todten nur gut, nur würdig rede, wie dies eben der Majestät des Todes und der Hülflosigkeit des Todten gebührt. Der Semite geht weiter: man soll von dem Todten nur das Gute reden. Und wer ein solcher Sünder war, daß an ihm nichts Gutes zu entdecken, von dem schweigt man.

Man schweigt von ihm. Die finsterste Verwünschung dieses Volkes lautet: „Sein Name soll nicht gedacht werden.“ Darum setzt man seinen Namen auch nicht auf den Grabstein. Es steht mancher blanke, unbeschriebene Stein auf den Friedhöfen Podoliens, zur Strafe, zur Vergeltung, und doch wieder aus Barmherzigkeit. Denn am Tage, da das Reich Gottes beginnt, wird nicht allein die Posaune die Schläfer wecken, sondern auch der Engel des ewigen Lebens. Er wird von Stein zu Stein gehen und den Namen rufen, der darauf geschrieben steht, die Gerechten zu unsäglicher Belohnung, die Sünder zu unsäglicher Strafe. Und wenn er keinen Namen findet, so wird er vielleicht vorübergehen und den Schläfer nicht aufstören. Vielleicht! – man wagt es nur eben aus Barmherzigkeit zu hoffen.

Auch am „guten Orte“ zu Barnow steht mancher Stein ohne Inschrift, und in manchen Fällen mag die Strafe eine wohlverdiente sein. Nicht selten ist es die härteste, welche den Verbrecher getroffen. Die dunkle That ward begangen; das Dunkel des Ghetto schützte sie. Diesen Leuten bangt vor der Welt, und in der k. k. Amtsstube sitzt ja ein Christ. Darum liefern sie selbst den sündigen Bruder nicht gerne aus. Sie strafen ihn, so gut sie können: er muß Geld zu frommen Zwecken opfern oder als Pilger nach Jerusalem wandern oder Jahre lang jeden zweiten Tag fasten. Dann bleibt er sein Leben lang unbehelligt, und erst nach dem Tode erweist es sich, was er gegolten.

Aber auch sonderbarliche Verbrechen sind auf gleiche Weise bestraft worden. Und wer daran denkt, wird sich gleichfalls kaum einer bitteren Frage erwehren können, einer uralten herben Frage, die gleichfalls nie ersterben wird, so lange Menschen auf Erden wandeln.

Da war zum Beispiel einst ein alter Bettler in der Gemeinde, ein verabschiedeter Soldat, der hülflos und verkrüppelt heimgekommen. Niemand nahm sich seiner an; die Christen nicht, weil er ein Jude war, und die Juden nicht, weil er so lange christliche Kost gegessen und weil er sehr lästerlich fluchte. Es war vielleicht Beides nicht seine Schuld, denn es giebt nun einmal, seit die Makkabäer schlafen gegangen, keine Armee der Welt, in der die Commißknödel unter Aufsicht eines Rabbi bereitet werden, und was das Fluchen betrifft, so mag es an einem alten Soldaten just so natürlich sein, wie an einem Eichbaum die Eichel. Aber sie nahmen ihm doch Beides sehr übel, und er bekam täglich nur ein Stück schimmeligen Brodes und jeden Freitag Nachmittag sieben Kreuzer. Davon kann selbst ein alter Bettler in Barnow nicht standesgemäß leben; der zitterige Greis hungerte sehr viel. Und als wieder einmal der Versöhnungstag kam, der strengste Bußtag des Jahres, da hatte das Fasten keinen Reiz für ihn, nicht einmal den des Außergewöhnlichen. An diesem Tage ertappte sie den Alten hinter einem Brückenpfeiler, ein Stücklein Wurst in der Hand. Sie mißhandelten ihn nicht, auch seine Benefizien erlitten keine Einschränkung. Und doch! wäre das Schicksal gütig gewesen, es hätte ihn zur selben Stunde sterben lassen. Denn wollte ich berichten, was dann über denn Greis gekommen, ich glaube, dem Härtesten würde sich das Auge feuchten. Aber das Schicksal ist selten gütig – er hat noch lange Jahre gelebt. Nachdem er gestorben, setzten ihm reiche Verwandte den Stein, aber ohne Inschrift. Ich vermuthe, ich vermuthe sehr, daß dies den Todten lange nicht so schmerzt, als Manches, was sie dem Lebenden angethan.

Hart neben dem alten Soldaten schläft ein Mensch, den gleiches Geschick getroffen. Ein sehr seltsamer Mensch, Chaim Lippiner mit Namen, seines Zeichens ein Schuster. Die Leute dieses Handwerks haben einen starken Hang zur Philosophie, der sitzenden Lebensweise wegen. Auch unser Chaim war ein Philosoph, aber von eigenartigem Zuschnitt. Ueber den Untergrund alles Forschens, den Zweifel, kam er eigentlich nicht hinaus, und sein Lieblingswort war: „Wer weiß die Wahrheit?“ Das blasse Männchen vermochte der Frage nicht auf dem Wege der Speculation beizukommen und versuchte es darum auf dem der Erfahrung. Er ging von einer Secte zur anderen über, von den „Chassidim“, den Schwärmern, zu den „Misnagoim“, den Bibelgläubigen, ward wieder Chassid, setzte sich hierauf mit den Karaiten in Verbindung, flüchtete dann zur Fahne des Wunderrabbi von Sadagora, hielt es ein Jahr lang mit den „Aschkenasim“, den Freunden deutscher Bildung, und ward endlich Kabalist. Das blieb er lange, und da seine Stiefel trotzdem vernünftig und dauerhaft waren, so kümmerten sich die Leute nicht viel um seine einsamen nächtlichen Studien und seine tiefsinnigen mystischen Reden. Da traf es sich einmal, in einer kalten, weißen, mondklaren Nacht, daß einige verspätete Zecher vor dem großen Christusbilde, welches sich an der Klostermauer der Dominicaner erhebt, einen Mann fanden, der regungslos im Schnee kniete und die Arme sehnsüchtig ausgebreitet hielt, als wollte er den Gekreuzigten umarmen. Erstaunt blieben sie stehen, aber ihr Staunen ward zum Entsetzen, als sie in dem einsamen Beter den frommen Chaim erkannten. Endlich schlichen sie näher, aber er hörte sie nicht in seiner Versunkenheit, und plötzlich begann er zu sprechen und rief mit schluchzender zitternder Stimme ein Gebet in der heiligen Sprache, den Segensspruch, welcher dem Wandersmann vorgeschrieben ist, wenn er auf seinem Wege die Sonne aufgehen sieht. Da übermannte die Lauschenden der fromme Zorn; sie warfen sich über das Männchen, prügelten es ganz fürchterlich durch und pufften es heim.

Am nächsten Morgen war eine ungeheure Aufregung in der Gasse, selbst die Lässigsten fanden sich zum Gebete in der Schul’ ein, halb aus Frömmigkeit, weil es galt, Gott mit vereinten Kräften anzuflehen, den Frevel des Einzelnen nicht an der Gesammtheit zu rächen, halb aus Neugier, weil Jeder erfahren wollte, welche Buße der Rabbi und sein Rath dem Sünder auferlegen werde. Nach Schluß des Gebets blieb die Gemeinde versammelt, und das Gericht begann. Aber der Sünder fehlte;

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