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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

die Aufregung und die Prügel hatten das schwache Männchen niedergeworfen. Doch mußte er dabei sein, und so wurden einige Knechte entsendet, welche ihn in seinen Kissen herbeitrugen. Es erhob sich großer Lärm, als er durch die Reihen geschleppt ward, und wer nahe genug stand, erleichterte sich das Herz und spie ihn an. Dann gebot der Rabbi Ruhe und hielt eine lange Rede, in welcher jener kalte, ewig dunkle Raum, der nach der Vorstellung dieses Volkes die abgeschiedenen Sünder beherbergt, keine geringe Rolle spielte. Darauf fragte er den Angeklagten, wie er sich verantworten könne. Aber sei es, daß der kranke Mann nicht reden konnte oder nichts zu reden hatte – er blieb stumm und schüttelte nur leise das Haupt. Das steigerte nur die Entrüstung. Der Rabbi drängte, und die Anderen spieen. Da richtete sich der kleine Mann endlich aus seinen Kissen auf, blickte die Eifernden mit einem stillen ruhigen Blicke an und sprach eine sehr kurze Rede, nichts als sein kurzes Wort: „Wer weiß die Wahrheit?“ Man kann denken, was darauf folgte; die Besonnenen mußten ihn mit ihrem eigenen Leibe schützen, sonst wäre kein weiteres Gericht nöthig gewesen. Aber sie bewahrten den Kranken vor dem Aeußersten, und so kam der Rabbi endlich dazu, das Urtheil zu fällen. Welche Buße an Geld und Gut ihm auferlegt wurde, ist mir nicht mehr genau erinnerlich, nur so viel weiß ich: Chaim Lippiner sollte Weib und Kind lassen und nach Jerusalem pilgern und nie wiederkehren. In jeder Gemeinde am Wege sollte er seinen Frevel erzählen und die Leute bitten, ihn mit Füßen zu treten und anzuspeien.

Aber das angenehme Reiseproject ist nicht mehr zur Ausführung gekommen. Das arme Männchen siechte und schwand seit jenem Tage dahin, wie vor der Sonne der Schnee. In seinen letzten Monaten betete er wieder fleißig, und die Leute waren der Ueberzeugung, daß er sich bekehrt. Ich bin wohl der einzige Mensch, der das besser weiß, und da es meinem Schuster nun nicht mehr Schaden kann, so darf ich wohl auch dies erzählen. Als ich im Juli zu den Ferien heimkam, suchte mich sein Weib auf und bat, ich möchte zu ihm kommen, aber des Abends, damit es Niemand merke. Ich that’s. Der Kranke war schon sehr schwach, hielt aber gleichwohl noch einen ungeheuren Folianten auf den Knieen, in dem er eifrig las. „Er bitte um eine Auskunft,“ sagte er endlich nach langer, wirrer Entschuldigung, „ob es nämlich wahr sei, daß auch die Christen eine heilige Schrift hätten?“ Und als ich dies bejaht – „ob ich ihm das Buch nicht schaffen könne?“ Das berührte mich eigenthümlich, fast peinlich, aber ich versprach’s doch; es war eben der Wunsch eines Sterbenden, und – „wer weiß die Wahrheit?“ Aber es hatte seine Schwierigkeit, denn der Mann las nur hebräisch, und ich mußte mich erst nach Wien wenden, um eine Uebersetzung, wie sie die Engländer zu Missionszwecken für Palästina haben anfertigen lassen, zu erlangen. Das Buch ließ zwei Wochen auf sich warten, und als es endlich kam, da konnte ich es dem Manne nicht mehr einhändigen. Es war auch überflüssig, denn damals wußte er wahrscheinlich schon mehr, als er aus diesem Buche und aus allen Büchern der Welt hätte erfahren können.

Ach ja! sonderbarliche, sehr sonderbarliche Verbrechen! Und wie ich an jenem Herbsttage vor den beiden Gräbern stand, da war es mir, als müßte ich mich hinabbeugen zu den Todten und ihnen zurufen: Verzeihet Euren armen Brüdern, zürnet ihnen nicht, denn sie wissen nicht, was sie thun!

Ach, wie eigen ist es den Juden ergangen! Ihr frommer, felsenfester Glaube ist ihnen einst der Schutzhut gewesen, der ihr armes Haupt vor den Keulenschlägen und Beilhieben des Feindes geschützt. Es wäre zerschellt ohne diesen Schutz, denn es waren furchtbare Schläge, furchtbare Hiebe. Aber eben dadurch ward ihnen auch jener Schutzhut immer tiefer in’s Gesicht hineingetrieben und schließlich über die Augen hinab, daß sie nichts mehr sahen. Das war einst nicht so sehr zu beklagen, denn es herrschte ja Nacht rings umher und nichts, gar nichts war zu sehen, auch ohne Hut vor den Augen. Aber nun ist es im Westen Tag geworden, und im Osten tagt es, und dennoch rücken sie sich den Hut nicht höher. Es wäre nicht nöthig, daß sie ihn lüften, und vollends verderblich wäre es, wollten sie ihn ganz fortwerfen, aber ebenso verderblich ist es, wenn er ihnen die Augen deckt. Er muß höher gerückt werden, und diese unglücklichen Menschen müssen sich daran gewöhnen, dem jungen Tage in’s schöne, morgenrothe Antlitz zu sehen.

Es muß geschehen. und darum wird es geschehen. Die Notwendigkeit ist die einzige Gottheit, an die man glauben darf, ohne je zweifeln oder verzweifeln zu dürfen.

Es wird geschehen. Aber Niemand kann wissen, wie lange noch die Nacht währen wird, und Niemand kann die Opfer zählen, welche sie kostet.

Es ist immer ein Zufall, wenn man von ihnen erfährt. Die Lebenden schweigen, und die Steine sind stumm. Besonders jene, wo eine Inschrift steht. Auf den unbeschriebenen steht doch mindestens ein Fragezeichen, und es kann gelingen, es zu erforschen. So ist es mir mit dem jüngsten solcher Steine ergangen, welchen sie am „guten Orte“ zu Barnow gesetzt. Ich fand ihn erst bei meinem letzten Besuche, eben an jenem goldklaren Septembertage.

Es war ein einsames Grab, ganz einsam. In der Niederung lag es, hart am Flusse, nahe der schadhaften Hecke. Schon dies war auffallend; sonst werden hier die Todten in jener Reihenfolge gebettet, in welcher sie anlangen. Nur zuweilen sichert sich eine Familie einen eigenen Raum. Aber es geschieht nicht allzu oft; hier sind alle Schläfer eine einzige große Familie.

Mit diesem Grabe war eine Ausnahme gemacht worden. Weit und breit war kein anderer Stein zu sehen. Nur ganz nahe, rechts und links, zwei andere Gräber, kleine dürftige Gräber ohne Stein. Man konnte sie nur in nächster Nähe gewahren, so dicht wuchs darüber der Wachholder und die wilde rothe Haideblume. Es war leicht zu errathen, wer da schlief. Knäblein, die vor dem achten Tage dahingestorben, ehe man ihnen einen Namen gegeben. Und die in der Mitte ruhte, war wohl ihre Mutter, denn es war der Grabstein einer Frau; man konnte es an der Form sehen.

Sonst setzt man nur Männern Steine ohne Inschriften, weil nur sie Verbrechen begehen, wirkliche oder sonderbarliche. Das jüdische Weib ist gut und fromm. Es war der erste solche Frauenstein, den ich sah.

Was hatte diese Mutter verbrochen?

Ich grübelte lange darüber in der tiefen sonnigen Stille jenes Herbsttages. Ich erfand mir eine Geschichte nach der anderen, eine sonderbarer als die andere. Aber auch hier sollte es sich wieder einmal bewähren, daß das Schicksal erfinderischer ist, als der Mensch.

Wie ich also sinnend dasaß und auf das einsame Grab schaute und darüber empor in die hellen, hellen Lüfte, durch welche unzählige Mücklein dahinflogen, daß sie im Sonnenlichte mit ihren zarten glänzenden Flügeln oft wie ein feiner Goldregen anzusehen waren – wie ich also saß und sann, klang mir plötzlich ein einförmiges, langsames Getön dumpfer Stimmen in’s Ohr, und als ich aufblickte, sah ich zwei Greise langsam die Hecke entlang schreiten und auf mich zu.

(Schluß folgt.)




Die große Sprengung in „Hellgate“ bei New-York.

Von Georg Asmus.

Die Leser dieses Blattes werden es mir verzeihen, wenn ich mich mit einem Knalleffect bei ihnen einführe. Gestern sind in dem felsigen Fahrwasser zwischen New-York und Long-Island fünfzigtausend Pfund Nitroglycerin und Dynamit abgebrannt worden – die größte Sprengung, welche wohl je vorgenommen worden ist, und darum glaube ich, daß die Sache genügendes Interesse bietet, um ihre Schilderung lesenswerth zu machen.

Der herrliche Hafen von New-York hat, wie jede Karte zeigt, zwei Zugänge vom atlantischen Ocean. Einer, der gewöhnlich benutzte, führt an den sandigen Untiefen New-Jerseys

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_774.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)