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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


That ist nie entdeckt worden. Thatsache ist nur, daß der Frevel verübt ward.

Um die Mitternacht des sechsten Tages brachen Vermummte in das Haus des Ruben, überwältigten ihn und die Wehefrau, rissen die Wöchnerin aus dem Bette und schnitten ihr das Haar vom Haupte.

Zwei Tage darauf war die Lea todt. Die Folgen des Schrecks hatten sie getödtet. Das Kind, welches seit der Frevelthat in Krämpfen gelegen, war ihr um einige Stunden vorausgegangen.

Ruben blieb im Städtchen, bis die Untersuchung beendet war. Sie mußte eingestellt werden. Wenn diese Menschen schweigen wollen, so bringt sie keine Macht zum Reden.

Dann zog Ruben fort. Es ist manches Jahr seitdem verflossen. Auch er hat wohl schon Ruhe gefunden und schläft in einem anderen Winkel der Erde die dunklen Schmerzen seines Lebens aus.

Des Grabes der Lea habe ich bereits gedacht; es bleibt nichts mehr zu berichten übrig. Nur ein Wort noch will ich hinzufügen, welches mir aus tiefsten Herzen aufquillt: Verzeihet ihnen, zürnet ihnen nicht, denn sie wissen nicht, was sie thun!




Aus den Erinnerungen eines russischen Publicisten.
Von Friedrich Meyer von Waldeck.


Die folgenden Schilderungen einzelner Momente aus einem geistig vielbewegten Leben im fremden Lande sind zu eng mit der Persönlichkeit des Erzählers verwachsen, als daß er es umgehen könnte, sich in wenigen Worten dem freundlichen Leser vorzustellen. Er verzichtet zu dem Zwecke von vornherein auf die objective dritte Person und beginnt sofort mit dem „Setzen“ des subjectiven Fichte’schen „Ich“.

Neunundzwanzig Jahre, in ununterbrochener Fortdauer, habe ich in Russland gelebt; zweiundzwanzig Jahre war ich Chef-Redacteur eines der größeren politischen Blätter St. Petersburgs und einundzwanzig Jahre Lehrer an der dortigen Universität. Dieser Zeitraum umfaßt die interessanteste Entwickelungsperiode Russlands seit Peter dem Großen und Katharina der Zweiten. Er beginnt mit dem Höhepunkte der Macht und des Einflusses, die unter Kaiser Nikolai dem Ersten seinem Reiche oder, was dasselbe sagen will, seiner Person zugesprochen wurden; er enthält den Krimkrieg, den jähen Sturz von eingebildeter Höhe, die Periode der Niederlagen und Enttäuschungen, den unerwarteten Tod des stolzen Selbstherrschers und die Thronbesteigung Alexander’s des Zweiten, den sein Volk den Befreier nennt. Er begreift in sich die großen Umwälzungen, welche dieser Reformator auf dem Throne durch die consequente und stetige Ausstrahlung der Lichtquelle seines liberalen Geistes in der Organisation des Landes hervorgerufen, die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft, die Neuschaffung der Gerichte auf der Basis der Oeffentlichkeit, Mündlichkeit und der Geschworenen, die Schöpfung der Landesinstitutionen, die Entfesselung der Presse etc. Er umschließt den polnischen Aufstand mit seinen heilsamen Folgen für Polen und seiner schädlichen Einwirkung auf Russland selbst, die Geburt und Entwickelung der sogenannten nationalen Partei mit ihrem unheilvollen Einflusse nach innen und außen, die Kriege von 1866, 1870 und 1871, die Geschichte Russlands bis auf den heutigen Tag.

Die beiden Wirkungskreise, welche mir während dieses bedeutsamen Zeitraumes in der ersten Hauptstadt des Reiches angewiesen waren, stellten mich so recht unmittelbar in den Mittelpunkt der geistigen und politischen Entwickelung, und nicht selten wurde aus der Rolle des Beobachters und Berichterstatters die Position des Betheiligten, des Rathgebenden, des Kämpfers.

Wenn ich dem Leser „Erinnerungen“ aus meinem Leben und Wirken in Russland mittheile, müssen sie vor dem Meisten, was ihm über jenes Land gebotet wird, unstreitig den Vorzug haben, daß der Autor Land, Leute und Sprache Jahrzehnte hindurch in eigener Anschauung erforschte, daß er erlebte, was er erzählt, daß er nirgends aus fremden Quellen zu schöpfen genöthigt ist. Nach ehrlichen deutschen Begriffen nimmt er keinerlei Stellung zu den Parteien ein. Hat er auch zur Zeit den Kampf für diese und jene gerechte Sache gegenüber Mißwollen und Unverstand nicht von sich abweisen dürfen, gaben ihm auch seine Mitkämpfer und Streitgenossen unter Russen und Deutschen das Zeugniß, daß er willig kein Haar breit des guten Rechtes preisgegeben hat, so liegen diese Zeiten doch bereits, von ruhigem Urtheil geklärt, weit hinter ihm, und er verfolgt mit der Veröffentlichung dieser anspruchslosen Blätter keinen anderen Zweck, als der Wahrheit zu dienen und zu einer richtigen Auffassung geschichtlicher Momente beizutragen.

Vor allen Dingen aber bitte ich dringend, die Erwartung abzuweisen, als wolle ich in Folgendem etwa die Geschichte Russlands in den letzten Decennien schreiben, große Staatsactionen kritisch beleuchten oder bedeutsame historische Phasen in neuem Lichte darstellen. Von solchen Ansprüchen, wenn er sie hegte, müßte sich der freundliche Leser gar bedeutend herabstimmen. In ihren großen unwandelbaren Umrissen gehören die politischen Ereignisse, die neueste innere Reform Russlands und seine Stellung zum westlichen Europa bereits der Geschichte an, und es ist nicht meine Aufgabe, Bekanntes zu wiederholen oder in besonderer Art zusammenzufassen. Aber nicht nur die großen Contouren bieten dem Beobachter und Forscher unzweifelhaftes Interesse, auch die kleinen und zarten Details wollen geschildert sein und bilden die nothwendige Ergänzung und Vervollständigung des Bildes wichtiger Ereignisse und Umwälzungen. Dergleichen kleine Detailschilderungen, wie sie sich aus den selbsteigensten Erlebnissen des Verfassers herausgestalten, beabsichigt derselbe in den folgenden Blättern niederzulegen. „Erinnerungen“ hat er die aphoristischen Skizzen genannt und jeder derselben eine besondere Ueberschrift gegeben, damit sie nicht für etwas Anderes genommen werden, als sie vorstellen sollen, zusammenhangslose, abgerissene Darstellungen, wie sie, vom Zufall hervorgelockt, im Gedächtniß des Verfassers auftauchten.




Der Tod des Kaisers Nikolai des Ersten.

Der 17. Februar 1855 war ein schöner, klarer nordischer Wintertag. Es war entsetzlich kalt. Die Sonne, welche sich um diese Zeit nur wenige Stunden über den Horizont erhebt und kaum zu wärmen scheint, deren matte Strahlen aber von einer blendend weißen Schneedecke in fast unerträglicher Weise zurückgeworfen werden, war schon längst im Südwesten unter der Eisfläche des finnischen Meerbusens verschwunden. Pfeilschnell jagten auf den dämmerigen Straßen und der weiten hellen Fläche der Newa die kleinen, einspännigen nordischen Schlitten mit ihren flinken unermüdlichen Steppenpferden, unter deren Hufen der hartgefrorene Schnee pfiff und knisterte. Das Sternbild des großen Bären funkelte bereits in seiner ganzen Pracht am tiefdunkeln Himmel, und doch war es noch in den frühen Nachmittagsstunden. In meinem Cabinet hatten sich mehrere Freunde getroffen; man saß um den dampfenden Mokka, dessen belebender Duft sich mit den feinen aromatischen Rauchwölkchen des türkischen Tabaks der Papyros angenehm mischte.

Die Unterhaltung beschäftigte sich zunächst mit dem anscheinend sehr unbedeutenden Unwohlsein des Kaisers. Er hatte die Grippe und war, wie das bei jener ungefährlichen und langweiligen Krankheit gewöhnlich ist, von einem heftigen Husten gequält. Vor wenigen Tagen hatte der Zar noch einer Parade beigewohnt, obwohl ihn freilich einer seiner Leibärzte, wenn ich nicht irre Dr. Karell, auf seinen leidenden Zustand aufmerksam gemacht und geäußert haben sollte: „Unter solchen Verhältnissen, Majestät, würde ich einem gemeinen Soldaten nicht gestatten, Dienst zu thun,“ worauf Kaiser Nikolai erwiderte: „Sie haben Ihre Schuldigkeit gethan; ich kenne die meinige.“

Im Laufe des Gesprächs wurde natürlich nicht unbeachtet gelassen, daß die verhängnißvollen Ereignisse des Krimkriegs von tiefer und nachhaltiger Wirkung auch auf die Riesenconstitution des Kaisers sein müßten, um so mehr, da er äußerlich die gewohnte majestätische Ruhe und Kälte unabänderlich bewahrte. Zu irgend welchen Besorgnissen schien der Gesundheitszustand des Monarchen keinerlei Anlaß zu bieten. So wendete sich denn die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_789.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)