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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Unterhaltung bald zu den neuesten Ereignissen auf dem Kriegsschauplatze und namentlich zu der heldenmüthigen Vertheidigung von Ssewastopol.

Mit lebhaftem Interesse wurde einer Prophezeiung gedacht, die einer der Anwesenden, ein bekannter Irrenarzt, beim Beginne des Krieges ausgesprochen hatte. Obgleich für gewöhnlich auf die Beobachtung von Geisteskranken angewiesen, war er doch auch für gesunde, normal functionirende, Capacitäten ein scharfer Kritiker. Wir saßen damals, wie heute, traulich beisammen und hatten von dem bevorstehenden Kriege und seinen möglichen Wechselfällen gesprochen.

„Was auch kommen möge,“ sagte damals unser Doctor, „ich habe einen Freund und Landsmann, einen Ingenieur-Capitain, dessen großartige Begabung und enormes Wissen ihn im bevorstehenden Kampfe zu einer der ersten militärischen Größen Russlands machen werden.“

Er hatte damals den Namen eines Mannes genannt, der nur wenigen von uns, und diesen nur dadurch bekannt war, daß der reiche baronisirte darmstädtische Consul in St. Petersburg dem mittellosen Capitain wegen seiner unbedeutenden Stellung und Herkunft anfänglich die Hand seiner Tochter verweigert hatte, bis die Liebe den Widerstand des harten Vaters überwand.

Jetzt, wo im Verlaufe weniger Monate der damalige schlichte Ingenieurhauptmann sich in den weltberühmten General Todtleben, den genialen und heldenmüthigen Leiter der Vertheidigung von Ssewastopol, die Seele jenes denkwürdigen Festungskrieges, verwandelt hatte, jetzt gedachten wir der Prophezeiung des Freundes, und sein heller Blick in die Zukunft, sein klares Urtheil über die Begabung seines Landsmannes fanden die wärmste Anerkennung.

Es klingelte draußen. Man achtete nicht darauf. Der Diener trat ein, überreichte mir ein versiegeltes Couvert nebst einem Buche und sagte mit gewissem Nachdruck:

„Ein Kammerlakai des kaiserlichen Hofes hat dieses Schreiben gebracht und bittet den Empfang zu bescheinigen.“

Mechanisch griff ich zur Feder und quittirte in dem vorgehaltenen Buche; mechanisch brach ich das Siegel und nahm das Papier aus seiner Hülle. Die Freunde ließen sich in ihrem Gespräche nicht stören; Schreiben von dieser oder jener Staatsbehörde sind in dem Cabinet eines Chefredacteurs etwas Alltägliches.

Ich sah in das Schreiben, und es überlief mich kalt. Es war ein officieller Bericht über die Krankheit des Herrschers; er lautete wie folgt:

„Seine Majestät der Kaiser, an der Grippe erkrankt, hat seit dem zehnten Februar Fieberanfälle gehabt, wobei eine gichtische Affection bemerkbar war. Gestern war das Fieber heftig unter Mitleidenschaft des unteren rechten Lungenflügels, die heutige Nacht schlaflos. Am Morgen erscheint das Fieber etwas gemäßigt; der Auswurf ist unbehindert.

     Den 17. Februar 1855.

M. Mandt.     Enochint.     Dr. Karell.“     

Eine Weile hatte ich schweigend dagestanden. Mein Aussehen mußte etwas Besonderes verkündigen; die Freunde sahen mich stumm und erwartungsvoll an.

„Kaiser Nikolai ist ein todter Mann,“ sagte ich und ließ das Bulletin im Kreise herumgehen. Der Inhalt des Berichtes schien das Aeußerste, das ich voraussah, nicht zu rechtfertigen. Man glaubte in den Ausdrücken der Aerzte die Besorgniß irgend einer Gefahr für das Leben des Monarchen nicht wahrnehmen zu können.

„Kaiser Nikolai ist ein todter Mann,“ wiederholte ich. „Er hat niemals gestattet, daß bei Krankheiten der kaiserlichen Familie Bulletins veröffentlicht wurden. Wenn also über seinen eigenen Gesundheitszustand ein amtlicher Bericht für die Oeffentlichkeit ausgegeben wird, so beweist das auf das Deutlichste, daß er selbst nicht mehr disponirt und sein Zustand ein durchaus hoffnungsloser ist.“

Es hatte Niemand gegen mein Raisonnement etwas einzuwenden. Einer nach dem Anderen entfernte sich geräuschlos, und ich sah mich bald mit meinen sorgenschweren Gedanken allein.

Vor Mitternacht erhielt ich das zweite Bulletin. Das Fieber hatte gegen Abend zugenommen, der Auswurf aus dem unteren Theile des angegriffenen rechten Lungenflügels war erschwert.

Der Morgen des 18. Februar, für Russland ein schicksalsschwerer Tag, brach an. Die helle Februarsonne umkleidete die Blumen der gefrorenen Fensterscheiben mit den Farben des Regenbogens; die nordische Residenz war angethan mit der ganzen blendenden Schönheit ihres Wintergewandes. Die große Masse ging sorglos den gewohnten Geschäften nach. Tauben und Sperlinge in zahllosen Schaaren suchten ihre spärliche Nahrung auf den bevölkerten Straßen; es war, als ob Natur und Menschen über die Geschlechter der Gewaltigen auf Erden ausrufen wollten:

     „ … sie kommen und gehen;
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen.“

Es erschien ein drittes Bulletin, welches um vier Uhr Morgens abgefaßt war, in welchem die erlöschende Thätigkeit der Lunge des hohen Kranken angedeutet und der Zustand des Kaisers bereits offen als sehr gefährlich bezeichnet wurde. Der vierte und letzte Krankenbericht war um neun Uhr Morgens unterzeichnet; er lautete: „Heute Morgen um drei ein halb Uhr haben Seine Majestät der Kaiser gebeichtet und das heilige Abendmahl genommen, bei voller Klarheit des Geistes. Der drohende Lähmungszustand in den Lungen dauert noch fort und damit die Gefahr, in welcher sich Seine Majestät befindet.“

Die Bulletins wurden als Extrablätter gedruckt. Stündlich erwartete die Presse, erwartete die Bevölkerung Petersburgs neue Nachrichten. Wer zum Hofe in näherer Beziehung stand, wenn er auch selbst nicht mehr wußte, als jeder Andere, zuckte mit geheimnißvollem Schweigen bedeutsam die Achseln. Stunde um Stunde verrann – kein neuer Krankenbericht, nicht die kleinste Botschaft vom Hofe, und doch wußte alle Welt, daß es schlimm, sehr schlimm stand.

Die Sonne stand im Mittag, da verbreitete sich erst leise und vorsichtig auftretend, dann immer sicherer und offener die verhängnißvolle Kunde, die zuletzt der Nachbar dem Nachbar zuraunte: „Kaiser Nikolai ist todt.“

Es war Hochnachmittag. Die Sonne neigte sich stark zum Untergang; an der Wahrheit der historischen Thatsache konnte nicht mehr gezweifelt werden, und doch erschien kein Bulletin, keine Nachricht, nicht ein einziges officielles Wort über das große Ereigniß des Tages. Es war offenbar – der Schlag war unvorbereitet gekommen; man hatte bei Hofe den Kopf verloren und vergaß das Einfachste und Nothwendigste: die Stadt und das Reich von dem Vorgefallenen in Kenntniß zu setzen.

Es wurde Abend – es wurde Nacht; ich befand mich, wie alle meine Collegen, in der größten Verlegenheit. Der Kaiser war todt. Am anderen Tage eine Zeitung ohne das Gewand der Trauer, den bekannten schwarzen Rand, erscheinen zu lassen, wäre ein grober Verstoß gegen Herkommen und Sitte gewesen. Aber wie konnte man das Blatt mit dem üblichen Trauerrand erscheinen lassen, ohne daß es eine Silbe über das Ereigniß enthielt, welches zu diesem Zeichen der Trauer Veranlassung gegeben? Und doch fesselte uns das strengste Gebot, nicht die geringste Mittheilung über die Personen des erlauchten Kaiserhauses zu veröffentlichen, wenn dieselbe uns nicht officiell vom Minister des Hofes approbirt oder zugegangen war. Im gegenwärtiger Augenblick und bei dem Mangel an Fassung, welcher offenbar im Winterpalais waltete, den Minister des Hauses Seiner Majestät, Grafen Adlerberg, um die Druckerlaubniß für eine selbstverfaßte Todesnachricht zu ersuchen, wäre ein höchst lächerliches Unterfangen gewesen. Ich begab mich zu dem mir zunächst wohnenden und am nächsten stehenden Collegen, dem Chefredacteur der russischen „St. Petersburger Zeitung“, Staatsrath Otschkin. Wir berathschlagten über unsere Lage. Bald wurde von der einen, bald von der anderen Seite ein Ausweg vorgeschlagen, um immer wieder als unzureichend oder unausführbar verworfen zu werden. Endlich sah mein College Licht und rief mir, fast möchte ich sagen, freudig bewegt sein „Heureka!“ entgegen.

„Heute Nacht muß in der Druckerei des Senats das Thronbesteigungsmanifest des Kaisers Alexander des Zweiten gedruckt werden. Wir schicken einen Boten dorthin mit dem Auftrage, zehn Rubel für den ersten Abzug dieses Documents zu bieten und zu zahlen. Bis er zurückkehrt, lassen wir den Druck unserer Zeitungen anstehen und den Trauerrand vorbereiten. Bekommen wir das Manifest, so haben wir die officiellste Nachricht über den Tod des Kaisers Nikolai in unseren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_790.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)