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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Händen, können dieselbe veröffentlichen und unsere Blätter auf anständige Weise in schwarzer Umrahmung erscheinen lassen.“

So lautete der Plan des erfahrenen und gewiegten Amtsbruders. Ich mußte ihm den aufrichtigsten Beifall zollen, und wir trafen sofort alle Anordnungen zu seiner Ausführung.

Unsere Zeitungen wurden in derselben Officin gedruckt. Sie waren bis auf einen kleinen Raum der ersten Spalte fertiggestellt; die Setzer standen erwartungsvoll am Winkelhaken, die Drucker an der Maschine. Wir gingen, jeder in seinem Bureau, mit unruhigen Schritten auf und ab, und Alles wartete der Dinge, die da kommen sollten. Mitternacht war vorüber; die Zahl der genossenen Gläser Thee und der gerauchten Cigarren war gar nicht mehr zu berechnen. Bei dem kleinsten Geräusch aus dem Treppenflur zuckte ich auf und erwartete den Ton der Glocke zu hören. Sie erklang nicht; kein Mensch ließ sich sehen; die unerbittliche Zeit schritt unaufhaltsam weiter, und fast schien es nicht mehr möglich, die Zeitung für die Stunde der Ausgabe am anderen Morgen herzustellen.

Da endlich! – es ging schon stark auf drei Uhr – die Glocke klang. Ich öffnete selbst, und mit triumphirendem Lächeln hielt mir unser alter ausgedienter Soldat, der als Redactionsbote fungirte, das Thronbesteigungsmanifest entgegen. Sofort wurde mein erster Gehülfe geweckt; gemeinschaftlich unternahmen wir die schwierige und verantwortungsreiche Arbeit der Uebersetzung in’s Deutsche, und um vier Uhr war das Manuscript vollendet, gesetzt, corrigirt, und die Zeitung ging in die Presse.

Am anderen Morgen erschienen die russische und die deutsche St. Petersburger Zeitung mit dem Thronbesteigungsmanifest Alexander’s des Zweiten und schwarzem Rande; einige andere Blätter hatten den Trauerrand, enthielten aber nicht die geringste Mittheilung über das Hinscheiden der verstorbenen Majestät; der ganze Rest der übrigen trat ungenirt vor das Publicum ohne Nachricht und ohne Trauerrand.

Ueber das Ende des Kaisers Nikolai durchliefen in den nächsten Tagen verschiedenartige Gerüchte die erschrockene Residenz. Es hieß, der mächtige Selbstherrscher, gebrochen durch die furchtbare Erschütterung der sich rasch folgenden Niederlagen auf dem Schlachtfelde, habe die militärische Ehre Russlands nicht überleben wollen und sein erster Leibarzt, Geheimerath von Mandt, habe der Forderung des Monarchen nachgegeben und ihm Gift gereicht. Andere Versionen besagten, der Kaiser habe sich selbst vergiftet, nachdem Doctor Mandt die tödtliche Substanz in seine Hände gegeben. Alle diese Gerüchte wurden begierig vom Volke aufgegriffen, erregten die unzurechnungsfähige Menge in bedenklichem Grade und waren die Veranlassung, daß Doctor Mandt, dessen Leben sogar gefährdet erschien, bald nach dem Hinscheiden Nikolai des Ersten die Hauptstadt und Russland verlassen mußte.

Mandt, der eine Art neuen homöopathischen Systems aufgestellt hatte, war viele Jahre hindurch so zu sagen der medicinische Dictator St. Petersburgs gewesen. Er erfreute sich der ausgesprochenen Vorliebe und des unbedingtesten Vertrauens seines kaiserlichen Herrn, der sich bei ihm, wie man sich zuraunte, nicht nur auf ärztlichem Gebiete Raths erholte. Fest steht, daß Dr. Mandt unter Kaiser Nikolai dem Ersten eine mächtige, gefürchtete und unantastbare Persönlichkeit war, die ihren Einfluß nach verschiedenen Richtungen hin geltend machen durfte.

Daß in allen den von Mund zu Mund gehenden düsteren Gerüchten auch nicht ein Körnchen Wahrheit ruhte, brauche ich nicht erst zu bekräftigen. Möglich ist es, daß der stolze Zar, im unerträglichen Schmerz über die erlittene Schmach, absichtlich der Krankheit Trotz geboten und der Thätigkeit der Aerzte weniger Vorschub geleistet, als diese wünschenswerth erachteten. Ich wiederhole, es ist möglich – nicht einmal wahrscheinlich. Ohne leichtfertig zu sein, kann man von dem Todten nur mit dem schwedischen Hauptmann im „Wallenstein“ berichten: „Man sagt, er wollte sterben.“

Mehrere Tage waren vergangen. Die sterblichen Reste der erblichenen Majestät waren in der Peter-Paulskathedrale der Petersburger Festung in einem einfachen Sarge aufgebahrt, wie ihn sich der Kaiser einige Jahre früher selbst gewünscht hatte.

Ich kehrte Nachts von einem Besuche in entfernter Gegend der Stadt mit dem Gefährten heim. Fröstelnd hüllten wir uns in die schweren Pelze; das Gespräch stockte, und jeder hing den eigenen Gedanken nach. Von lebhaftem Zuruf und dem drohenden Schwingen der Knute angefeuert, flog das kleine Kosakenpferd über den knisternden Schnee, der im Glanze der ewigen Sterne funkelte.

Plötzlich hielt unser Iswoschtschik den Schlitten an, bekreuzigte sich furchtsam und zeigte über die Isaaksbrücke hinweg nach der Festungskirche, unter deren dunkelem Dache die sterblichen Reste des irdischen Gottes ruhten.

Rings um die Kathedrale flammte das elektrische Feuer eines ungeheuren Nordlichts. Lange rothe und weiße Strahlen schossen hinter der Kirche auf, bis an den Zenith, und umgaben das Gotteshaus mit gigantischem Heiligenschein.

„Aurora borealis!“ sagte mein Gefährte und deutete nach dem glänzenden Meteor.

„Aurora borealis!“ wiederholte ich – „das Morgenroth einer neuen Zeit für das große nordische Reich.“




Der kurhessische Drohbrief-Proceß.[1]


Das erste Regierungsjahr des Kurfürsten Wilhelm’s des Zweiten von Hessen war noch nicht ganz beendet, als eine Vergiftungsgeschichte zu den bedenklichsten Conjecturen Veranlassung gab. Ueber den Hergang berichtet die „Kassel’sche allgemeine Zeitung“ vom 7. Februar 1822 folgendermaßen: „Ein schauderhafter Vorfall beschäftigt seit einigen Tagen die Aufmerksamkeit sowohl der Behörden als der Einwohner hiesiger Stadt. Donnerstag den 31. vorigen Monats auf dem Maskenballe im Stadtbausaale wandelte einen Hoflakaien Seiner Hoheit, des Kurprinzen eine plötzliche Unpäßlichkeit an, so daß er nach Hause gebracht werden mußte. Hier stellten sich bald die heftigsten Zufälle ein, unter welchen der Unglückliche am 1. Februar Morgens verschied, nachdem er wiederholt versichert hatte, daß ihm eine maskirte Person ein Glas Grog angeboten habe, nach dessen Genuß ihm sogleich unwohl geworden sei. Die Leicheneröffnung vermehrte noch unter diesen Umständen den Verdacht der Vergiftung, und die Behörden sind seitdem mit unausgesetzter Thätigkeit bemüht, sowohl die Anzeichen über den Thatbestand zu sammeln, als den Spuren des Urhebers des vermutheten Verbrechens nachzuforschen.“ Die Kassel’sche Zeitung war nicht gewohnt, über irgend eine den Hof berührende Sache ohne höhere Autorisation das Geringste zu berichten. Wozu nun diese erst so spät gebrachte Nachricht von einem Vorfalle, nachdem er schon seit acht Tagen die Stadt in Aufregung gebracht hatte? Es sollte offenbar damit der allgemeinen Annahme begegnet werden, daß es mit der Vergiftung auf den Kurprinzen abgesehen gewesen wäre. Derselbe war nämlich im Geheimen ebenfalls auf der Redoute gewesen. Gegen Mitternacht hatte er seinen Domino gegen den des ihn begleitenden Lakaien Bechstädt gewechselt und diesem war bald darauf von einer dem Kurprinzen bisher stets auf dem Fuße folgenden Maske die vergiftete Erfrischung kredenzt worden. So lautete die Erzählung, wie sie in’s Publicum gekommen war, welches durchaus die Ueberzeugung von einem verfehlten Attentat auf das Leben des Kurprinzen gewann. Wem aber konnte derselbe im Wege stehen? war nun die Frage, und um diese zu beantworten, blieben die von Mißtrauen geleiteten Blicke auf einer in nächster

  1. Die obige Mittheilung läßt über eine Episode kurhessischer Hof- und Staatsgeschichte, welche in den Zeiten vor der Julirevolution viel unheimliches Grausen erregte, neue Streiflichter fallen. Wir entnehmen dieselbe den Aushängebogen eines nächstens erscheinenden Werkes: „Kassel seit siebzig Jahren, Fragmente aus den Erzählungen eines noch Lebenden,“ (Verlag von Dietrich und Müller in Kassel). Der Verfasser beginnt seine Aufzeichnungen mit dem Ende von 1805; er führt uns demnach noch bis auf zwei Jahre vor der „Westphälischen Zeit“ zurück, schildert uns diese mit lebendigen Zügen, ausgeschmückt mit manchem charakteristischen Geschichtchen der Geschichte, und läßt uns dann die Zopfseligkeit des alten heimgekehrten Kurfürsten wie die neue Doppelehe seines Sohnes miterleben, mit dessen „Drohbrief-Proceß“ die uns vorliegenden Bogen schließen. Unsere Leser werden aus obiger Schilderung ersehen, welche höchst interessante Mittheilungen das Buch verspricht.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_791.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)