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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Nähe des Kurfürsten stehenden Persönlichkeit haften. Ein officieller Artikel der Kassel’schen Zeitung suchte nach einiger Zeit darzulegen, daß aus der Untersuchung kein anderes Resultat als die wohlbegründete Annahme hervorgegangen, Bechstädt habe sich selbst aus Lebensüberdruß vergiftet und nur deshalb den Verdacht nach einer andern Seite gelenkt, damit der Kurprinz sich seiner hinterlassenen Familie um so nachhaltiger annehme. Das Publicum schüttelte aber ungläubig den Kopf – ein Beweis dafür, wie tief schon ein gewisses Mißtrauen Wurzel gefaßt hatte.

Der äußerliche Glanz des kurfürstlichen Hofes und sein opulentes Leben führte zwar dem Geschäftsverkehre in Kassel bedeutende Summen zu und belebte denselben bis zu einem gewissen Grade. Das gefiel dem Theile der Residenzstädter, welcher für den Handel arbeitete und lieferte. Ein anderer Theil, und zwar der größere, glaubte aber mehr Ursache zum Klagen als zum Loben zu haben. Der frühere Fremdenverkehr (während der sehr theuren westphälischen Königthumsspielerei) hatte merklich abgenommen, und viele reiche Familien hatten wegen Mißverhältnissen zum Hofe die Stadt verlassen, wodurch das Gleichgewicht zwischen Production und Consumtion alterirt worden, unter gleichzeitigem vermehrtem Drucke von Abgaben. In den übrigen Städten des Landes war völliger Stillstand in allen Geschäften und auf dem platten Lande sogar ein wirklicher Nothstand eingetreten. Für den überreichen Erntesegen von drei Jahren gab es keinen Absatz. Zwar waren alle Lebensmittel beispiellos wohlfeil, aber das baare Geld so rar, daß doch die ärmeren Classen keinen Vortheil davon hatten, während mit der Steuereintreibung rücksichtslos vorgeschritten wurde. Auch über willkürliche und chicanöse Verwaltungsmaßregeln war allgemeine Klage. Ein sich für aufgeklärt haltender Bureaukratismus wollte überall bevormunden.

Immer bestimmter trat das Verlangen nach einer Berufung der Landstände hervor, um welche die Ritterschaft schon öfters vergebens gebeten. Sie hatte sich sogar dieserhalb an die Bundesversammlung gewandt, bei der aber die Petition auf eine bisher unerklärliche Weise unterschlagen worden war. Bei Hofe schien der Verdacht rege geworden zu sein, daß dieser Agitation der dem Kurprinzen nahestehende militärische Kreis nicht fremd geblieben. Sein Adjutant von Verschuer wurde als solcher entlassen, Major von Eschwege, Hauptmann von Radowitz und noch andere Officiere in entfernteren Garnisonen confinirt; dem Kurprinzen selbst wurde Marburg zum Aufenthaltsorte angewiesen. Man glaubte der Bildung einer kurprinzlichen Partei auf der Spur zu sein. Bald nach Ausführung der gegen dieselbe ergriffenen Maßregeln begab sich der Kurfürst in Begleitung der Gräfin Reichenbach nach dem Bade Nenndorf. Einige Minister, der französische und der preußische Gesandte begaben sich auch dorthin; der Ober-Polizeidirector von Manger fehlte ebenfalls nicht. Es war das erste Mal, daß Wilhelm der Zweite die Grafschaft Schaumburg besuchte. Er durchstreifte dieselbe in jeder Richtung und überall wurde ihm ein enthusiastischer Empfang zu Theil, was ihn oftmals bis zu Thränen gerührt haben soll. Der Rückkehr des Kurfürsten sah man für den 28. Juli, den Tag seines Geburtsfestes, zu dessen solenner Begehung schon bedeutende Zurüstungen in Kassel getroffen wurden, entgegen. Aber am Tage vor dem Eintritte des Festes gerieth die ganze Stadt in eine unbeschreibliche Aufregung durch folgendes Manifest des Gesammt-Staatsministeriums:

„Wenn die erwünschte und höchsterfreuliche Rückkehr Seiner Königlichen Hoheit des Kurfürsten, unseres allergnädigsten Herrn, in allerhöchstdero Residenz für die Bewohner derselben ein sehr glückliches Ereigniß ist, so ist es für uns ein um so traurigeres Geschäft, zur öffentlichen Kunde zu bringen, daß ein oder mehrere Bösewichter sich erfrecht haben, unter der Larve der Anonymität mit einem Mordanschlage auf das theure Leben unseres geliebtesten Landesherrn und eines Theils Höchstdessen Umgebung von hier aus zu drohen, wodurch außergewöhnliche Sicherheitsmaßregeln nothwendig geworden sind.

Je weniger diese gegen das strafbare Vorhaben eines im Verborgenen schleichenden Verbrechens außer Acht bleiben dürfen, um so mehr überlassen wir uns auf der andern Seite der gerechten und zuversichtlichen Hoffnung, daß jeder treue Unterthan Seiner Königlichen Hoheit des Kurfürsten, erfüllt von Abscheu über eine solche Unthat, sich auf das Aeußerste es werde angelegen sein lassen, jeden, auch den entferntesten Verdacht, welchen er in obiger Beziehung bereits haben oder noch schöpfen könnte, der Kurfürstlichen Ober-Polizeidirection, welche auf behöriges Anmelden das Nähere eröffnen wird, mitzutheilen und so durch die That die in der Brust eines jeden braven Hessen tief eingegrabene Anhänglichkeit an die geheiligte Person des Landesherrn zu bewähren; daher es der Zusicherung nicht bedürfen wird, welche wir gleichwohl hierdurch zu ertheilen ermächtigt sind, daß demjenigen, welcher sichere, zum Beweise führende Anzeigen zu machen im Stande ist, eine Belohnung von zehntausend Thalern, oder, im Falle er nicht einer der Urheber, sondern blos ein Mitwisser wäre, die Straflosigkeit zu Theil werden wird.“

Eine Bedrohung des Lebens des Landesherrn, und noch dazu von seiner Residenzstadt aus, wie sieben ernste Männer, die das Gesammtministerium bildeten – Schmerfeld, Witzleben, Schminke, Meyer, Starckloff, Kraft und Rieß – verkündigten, das mußte jedes Kasseler Herz mehr als peinlich berühren. Nachdem man sich von der ersten Ueberraschung erholt, erfaßte man die Gelegenheit des kurfürstlichen Geburtsfestes, um den Gefühlen loyalster Anhänglichkeit erneuten Ausdruck zu geben; in allen Kreisen wurde sich gewissermaßen darin überboten; überall fanden Festessen, entsprechende Reden, Feuerwerk etc. statt. Die Kurfürstin hielt große Hoftafel und brachte die Gesundheit ihres Gemahls aus. Zur Festvorstellung im Theater erschien, wer nur ein Billet bekommen konnte, und auch hier ertönten rauschende Lebehochs. Am andern Tage, wo der Kurfürst wieder eintreffen sollte, wogte es zum Leipziger Thore hinaus, um ihm bis Sandershausen entgegen zu gehen; an der Grenze der städtischen Gemarkung stellte sich der Stadtmagistrat auf. Hier kam der Kurfürst zur Mittagsstunde an, und der Oberbürgermeister Schomburg redete ihn im Namen der Bürgerschaft an und drückte in wenigen Worten die innigsten Gefühle und Gesinnungen aus, welche die Bürgerschaft seiner Hauptstadt stets beseelten. Der Kurfürst antwortete mit sichtbarer Rührung. Das Officiercorps hatte sich zu seinem Empfange vor dem Palais aufgestellt; die Civilbehörden erwarteten ihn zu Wilhelmshöhe, wohin er sich alsbald begab. Gegen Abend kam er wieder zur Stadt und fuhr nach dem Kasernenplatze, wo er die einzelnen Corps der Garnison anredete und sein Vertrauen zu ihrer Treue aussprach; mit kräftigem Hurrah! und Lebehoch! wurde ihm geantwortet. Es kamen auch die Kurfürstin, der Kurprinz und die Prinzessinnen zu Wagen und wurden ebenfalls mit freudigem Zurufe begrüßt. Nachdem sich die allerhöchsten Herrschaften entfernt, hielt das Militär eine Nachfeier des kurfürstlichen Geburtstags mit Musik und Tanz auf dem festlich geschmückten Exercirplatze ab; zugleich feierte die Stadt die glückliche Wiederkehr des Landesherrn mit einer großartigen Illumination, deren Glanzpunkt die Beleuchtung der großen Martinskirche bildete. Der Kurfürst durchfuhr einige Straßen unter Begleitung einer ihm zujubelnden Menge.

In den nun folgenden Tagen traten aber Maßregeln ein, die zu den mit so sichtbarer Genugthuung entgegengenommenen Beweisen treuer Anhänglichkeit wenig paßten. Der Kurfürst zeigte sich öffentlich nicht anders mehr als umgeben von Mannschaften einer zu seiner persönlichen Sicherheit schnell errichteten Gensd’armeriegarde. Seine Loge im Theater wurde mit Eisenblech gegen Gewaltthat von außen gesichert; alle Nebeneingänge des Wilhelmshöher Schlosses wurden fest gesperrt, die Durchgangsbögen der nach den Seitenflügeln führenden Galerien vergittert und sogar die Schornsteine auf dem Dache gegen ein Einsteigen von oben verwahrt. Wen sein Dienst oder persönliche Angelegenheit in das Schloß berief, der mußte mit einer vom Hofmarschallamte ausgestellten Karte versehen sein. Die für den Tag gültige hatte eine andere Farbe als die für die Nacht; Muster davon waren in den Schilderhäusern vor den Eingängen angeheftet, damit die Schildwachen sich danach richten konnten; sie durften selbst Officiere ohne eine solche Karte nicht einlassen. Ueberdies war ein Kreis bestimmt, über den hinaus keine Annäherung zum Schlosse erlaubt war. Wer einer Zurückweisung nicht augenblicklich Folge leistete, wurde verhaftet und in Untersuchung genommen. Eine vollständige Postenkette umgab in einiger Entfernung das Schloß; in den Gebüschen standen Piquets mit geladenen Gewehren; Patrouillen und Ronden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_792.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)