Seite:Die Gartenlaube (1876) 805.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


des meiningen’schen Hoftheaters kann mir über den Zustand Weilenbeck’s eine nur flüchtige und gelegentliche Bemerkung zu Ohren, auf die ich nicht sonderlich achtete. Als ich ihn darauf in der Rolle des „Papst Sixtus der Fünfte“ in Julius Minding’s gleichnamiger Tragödie sah, erinnerte ich mich jener Bemerkung, folgte der Darstellung mit gespanntester Aufmerksamkeit und gewann den Eindruck, daß der Künstler soviel Sehvermögen besitzen müsse, um die ihn umgebenden Gegenstände, wenn auch nur in undeutlichen Umrissen, erkennen zu können. Das Mienenspiel war gewandt und lebendig; die Augen selbst schienen eine beredte Sprache zu sprechen; die Bewegungen, zwar gemessen und spärlich, waren doch sicher und abgerundet. Auch in der Art des Stehens und Gehens verrieth sich kein anomaler Zustand. Auffallend, und auch dies wohl nur für den Eingeweihten, konnte es höchstens sein, daß der Künstler beim Betreten und Verlassen der Bühne selten allein erschien und, wenn dies nicht zu vermeiden war, von den auf der Bühne bereits befindlichen Personen geleitet wurde. Auch ließ sich bei schärferer Beobachtung wahrnehmen, daß die Mitspieler, namentlich wenn ihrer mehrere gleichzeitig mit dem Künstler zu agiren hatten, sich in ihren Bewegungen genau nach ihm richteten und dieser oder jener von ihnen während des Dialogs bisweilen durch eine plötzliche Wendung diejenige Stellung annahm, welche ihm Weilenbeck gegenüber angesichts der jeweiligen Situation die natürlichste sein mußte. Erst im näheren persönlichen Verkehre mit dem hartgeprüften Künstler lernte ich an die ganze Schwere seines Geschickes glauben, indem ich erfuhr und bestätigt fand, daß er in Wahrheit vollständig erblindet sei.

In Fiume am adriatischen Meere im Jahre 1820 geboren, der Sohn eines höheren österreichischen Staatsbeamten, widmete sich Joseph Weilenbeck in Graz dem Studium der Rechte. Im Alter von vierundzwanzig Jahren entsagte er der juristischen Laufbahn, um auf den weltbedeutenden Brettern sein Glück zu versuchen. An verschiedenen Bühnen, namentlich in Prag und Breslau, war er erfolgreich thätig.

In Prag war ihm das durch Friedrich Haase verwöhnte Publicum anfangs mit ausgesprochener Zurückhaltung begegnet, allmählich aber erwärmte es sich und erkor den Neuling zu einem seiner Lieblinge. Auch außerhalb der Bühne machte sich der junge Künstler überall durch Geist und Humor beliebt. Er gehörte einem Kreise von Prager Einwohnern an, die täglich in einem bestimmten Café der Geselligkeit pflogen. Zu ihnen zählten Palacky, der Advocat Pinkas, der berühmte Historiograph, der später eine Zeitlang die oberste Leitung des königlichen Landestheaters führte, Ladislaus Rieger, der eifrige Vertreter der czechischen Interessen, der geistvolle Kritiker Kuh, der damals vielgelesene Romanschriftsteller Julius Gundling und der Dichter des „Ziska“, der Apostel der böhmischen Freiheitsidee, Alfred Meißner, der nicht genug zu rühmen weiß, zu wie manchem gesunden Lachen Freund Weilenbeck der Gesellschaft verholfen habe.

„Da saßen wir,“ erzählt er, „rauchten und redigirten – um einen aus der Hegel’schen Zeit stammenden Ausdruck zu gebrauchen – die Vernunft der Ereignisse, was dasselbe besagt, wie das spätere ‚die Logik der Thatsachen construiren‘. Jeder suchte von seinem Standpunkte aus die Zeit zu begreifen, die allerdings eine schreckliche, infame und schwer begreifliche war. Nichts blieb unerörtert, was sich dazumal zwischen dem Polarkreise und dem Wendekreise des Steinbockes begeben. Wie viele Leitartikel wurden an diesem Tische gesprochen und wie viele nie zum Druck gelangte Feuilletons der Kunst, der Literatur, dem Theater und dem geselligen Leben geweiht!“

Weilenbeck vertrat das Charakterfach. Unter dem Namen Warbeck ging er zur Bühne. Die Feuerprobe des „ersten Versuchs“ bestand er als „Rudolph“ in Theodor Körner’s „Hedwig“ im kleinen Theater zu Wiener-Neustadt. Als erste bedeutende classische Rolle gab er in Posen den „König Philipp“. Hier lernte ihn Meister Döring kennen, mit dem er in einer Lear-Vorstellung zusammen wirkte und der den damaligen Director Voigt auf ihn als auf „einen ungewöhnlich begabten Mimen“ aufmerksam machte. Die Gastspieltouren der Posener Gesellschaft ließen ihn auch nach Bromberg gelangen, wo der am dortigen Gymnasium angestellte Professor Rötscher ihn auszeichnete und sich namentlich über seinen „Ossig“ in Raupach’s „Isidor und Olga“ lobend äußerte. Ueber Weilenbeck’s Leistungen zur Zeit seines Prager Engagements urtheilte Alfred Meißner aus eigener Anschauung: „Das eigentliche Revier seines Talents, in welchem er sich mit Behagen erging, war das der kalten Tyrannen à la Philipp oder Alba und der confiscirten Schurken à la Muley Hassan, Franz Moor, Jago. Doch auch im gemüthlichen Genre konnte er packen und rühren; sein Jude Schewa, sein Rabbi Akiba waren fürwahr lebende Gestalten, die man nicht vergißt. Bis in die Komik hinüber konnte er greifen und wußte insbesondere lederne Philister, vertrocknete Bureaukraten mit dem glücklichsten Humor zu zeichnen.“ Seit dem Jahre 1870 Mitglied des Hoftheaters zu Meiningen, ist er bei den sämmtlichen drei Berliner Gastspielen der Meiningen’schen Gesellschaft betheiligt gewesen. Außer der schon erwähnten Rolle des „Papst Sixtus der Fünfte“ gab er hier den „Argan“ in Molière’s „eingebildetem Kranken“, den „Shylock“, den „Andreas Doria“, den „Freiherrn von Attinghausen“, den „Kaiser“ in „Käthchen von Heilbronn“ und den „Holzhüter Weiler“ in Otto Ludwig’s „Erbförster“. Sein „Sixtus“ und „Shylock“ sind stilvolle Leistungen; sein „Argan“ ist in Auffassung und Charakteristik eine unübertreffliche Lustspielfigur.

Weilenbeck widmete sich seinem Berufe mit der wärmsten Begeisterung und dem unermüdlichsten Fleiße. Ein Zug seines Charakters ist die Energie, mit welcher er an die Lösung einer Aufgabe, die ihn gerade beschäftigt, all’ seine geistigen Kräfte zu setzen pflegt. Weilenbeck gehörte nicht zu denen, welche meinen, daß die natürliche Begabung ausreichend sei zu der Kunst der Menschendarstellung auf der Bühne und daß sie einer gründlicheren, wissenschaftlichen Bildung nicht bedürfe. Handelte es sich um eine hervorragende Rolle in einem historischen Stücke, so vertiefte er sich in die eingehendsten Studien über den darzustellenden Charakter und die Zeitverhältnisse, in deren Rahmen sich das Drama vollzog. Bücher über Bücher pflegte er dann zu durchforschen und Nächte hindurch der Arbeit nicht müde zu werden. Dieser Wissensdrang mag den ersten Keim zu seiner Erblindung gelegt haben. Nicht plötzlich, nicht in Folge einer besonderen äußeren Veranlassung brach sie über ihn herein, sondern langsam und allmählich sah er das Licht der Augen, des „Aermsten allgemeines Gut“, verloren gehen. Es war Ende 1869. Weilenbeck promenirte mit einem Freunde im den Straßen Breslaus. Da, mit einen Male, bleibt er stehen und wendet sich, zitternd vor Aufregung, an seinen Begleiter mit der Frage, was denn die Ursache einer so plötzlichen Verfinsterung sein könnte? Ehe noch der Freund sein Erstaunen über die seltsame Frage geäußert hatte, war der Zustand, der den Sehenden für wenige Augenblicke zum Blinden gemacht hatte, vorüber. Aber von jenem Tage an brannte ihm keine Studirlampe hell genug. Wenn er zu lesen anfing, schienen ihm die Buchstaben ineinander zu schwimmen, und erst, wenn er längere Zeit auf das Papier hingestarrt hatte, standen sie fest.

Der Arzt, den er zu Rathe zog, legte anfangs auf das Uebel kein großes Gewicht; er erklärte es als eine durch die zur Nachtzeit betriebenen Studien veranlaßte Nervenaffection. Beruhigt trat Weilenbeck sein neues Engagement in Meiningen an, wohin er durch Friedrich Bodenstedt nach einem einmaligen Gastspiel als „Marinelli“ berufen worden war. Allein der Zustand verschlimmerte sich. Während dem Künstler von mehreren Seiten ehrenvolle Engagementsanerbietungen zu Theil wurden, unter denen ihn am meisten die Aussicht lockte, in Stuttgart an Grunert’s Stelle zu treten, begab er sich nach Halle, um den dortigen Professor Alfred Gräfe, den Vetter des berühmten Berliner Augenarztes, zu consultiren.

Der Arzt, nachdem er den Zustand auf das Gründlichste untersucht hatte, erkannte in ihm eine Atrophie der Sehnerven. „Sind Sie stark genug, die Wahrheit zu hören?“

„Eben deshalb bin ich gekommen.“

„Die Wissenschaft kann Ihnen nicht helfen. Sie werden in kürzester Zeit erblinden.“

Mit dieser schrecklichen Gewißheit kehrte der Künstler nach Meiningen zurück, um hier bekümmerten Herzens seinen Pflichten zu genügen und zugleich die Vorbereitungen zu treffen, welche die Prophezeiung des Arztes ihm nahe legte. Noch am ersten Januar 1870 hatte er, ohne sein Schicksal zu ahnen, im Vollbesitz seiner geistigen Frische und körperlichen Kraft den

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 805. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_805.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)