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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 49.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Es war Frühling geworden, zum zweiten Male seit dem Beginne des Aufstandes, der im Anfange so mächtig emporloderte, und der jetzt erdrückt, vernichtet am Boden lag. Jene winterlichen Märztage des vergangenen Jahres hatten nicht blos Unheil über die Bewohner von Wilicza gebracht, sie waren auch für die ganze Insurrection verhängnißvoll geworden, die mit der Niederlage des Morynski’schen Corps eine ihrer Hauptstützen verlor. Graf Morynski hatte sich bei jenem Ueberfalle, der ihn und die Seinigen so gänzlich unvorbereitet traf, während sie sich durch die Deckung des Fürsten Baratowski gesichert glaubten, mit der Kraft der Verzweiflung gewehrt, und selbst da, als er sich umringt und verloren sah, noch das Aeußerste daran gesetzt, um Leben und Freiheit so theuer wie möglich zu verkaufen. So lange er an der Spitze stand, hielt sein Beispiel noch die Wankenden, aber als der Führer blutend und bewußtlos am Boden lag, war es vorbei mit jedem Widerstande. Was nicht fliehen konnte, wurde niedergemacht, oder fiel gefangen in die Hände der Sieger. Die Niederlage kam einer Vernichtung gleich, und wenn sie auch noch nicht das Schicksal der Revolution entschied, so bezeichnete sie doch einen Wendepunkt darin. Von da an ging es abwärts, unaufhaltsam abwärts. Der Verlust Morynski’s, der unter den Führern des Aufstandes weitaus der bedeutendste und energischste gewesen war, der Tod Leo Baratowski’s, den Name und Traditionen seiner Familie, trotz seiner Jugend, zum Hauptaugenmerke der Partei für die Zukunft gemacht hatte, waren schwere Schläge für diese Partei, die, längst unter sich uneins und gespalten, jetzt noch mehr auseinanderfiel. Zwar blitzte der schon im Sinken begriffene Stern hier und da noch einmal auf; es gab noch Kämpfe und Gefechte voll Verzweiflung und Heldenmuth, aber es trat immer deutlicher hervor, daß die Sache, für die man kämpfte, eine verlorene war. Die Insurrection, die sich anfangs über das ganze Land verbreitet hatte, wurde immer mehr zurückgedrängt, in immer engere Grenzen eingeschlossen; ein Posten nach dem andern fiel, eine Schaar nach der andern wurde zersprengt oder löste sich auf, und das Ende des Jahres, mit dessen Beginne der Aufstand so drohend aufflammte, sah ihn erlöschen bis auf den letzte Funken. Nur Schutt und Trümmer zeugten noch von dem letzten verzweifelten Todeskampfe eines Volkes, über das die Geschichte längst das Urtheil gesprochen hatte.

Es dauerte lange, ehe das Schicksal des Grafen Morynski entschieden wurde. Er erwachte erst im Kerker wieder zum Bewußtsein, und eine schwere, anfangs für tödtlich gehaltene Verwundung machte in der ersten Zeit jedes Verfahren gegen ihn unmöglich. Er schwebte monatelang zwischen Leben und Tod, und als er endlich genas, war das Erste, was ihn an der Schwelle des Lebens erwartete – das Todesurtheil. Für einen Führer der Revolution, der im Kampfe, mit den Waffen in der Hand, in die Gewalt des Siegers gefallen war, konnte der Spruch nicht anders lauten. Das Todesurtheil wurde über ihn ausgesprochen, und es wäre sicher vollzogen worden, wie so viele andere, ohne die lange schwere Krankheit. Gegen den vermeintlich Sterbenden wollte man den Spruch doch nicht zur Ausführung bringen, und als seine Vollziehung möglich wurde, war der Aufstand bereits bewältigt, die drohende Gefahr für das Land beseitigt, und damit ließ auch die eiserne Strenge des Siegers nach. Graf Bronislaw Morynski wurde zu lebenslänglicher Deportation begnadigt, allerdings zur Deportation in ihrer schärfsten Form, nach einem der entlegensten Orte Sibiriens – eine furchtbare Gnade für den Mann, dessen ganzes Leben nur ein einziger Freiheitstraum gewesen war, der selbst während der ersten jahrelangen Verbannung in Frankreich keine Beschränkung seiner persönlichen Freiheit gekannt hatte.

Er hatte die Seinigen nicht wieder gesehen seit jenem Abende, wo er in Wilicza von ihnen Abschied nahm, um in den Kampf zu gehen. Weder der Schwester noch selbst seiner Tochter wurde es erlaubt, ihn zu sehen. Was sie auch unternahmen, um bis zu ihm zu dringen, es scheiterte Alles an der Strenge, mit der man den Gefangenen von der Außenwelt und dem Verkehre mit seiner Anverwandten abschloß. Diese hatten freilich die Strenge selbst verschuldet, denn sie versuchten es mehr als einmal, ihn seiner Haft zu entreißen. Sobald der Graf nur einigermaßen genesen war, wurde von Seiten der Fürstin und Wanda’s alles nur Mögliche aufgeboten, ihm zur Flucht zu verhelfen, aber die sämmtlichen Befreiungspläne mißlangen, und der letzte hatte Pawlick, dem alten treuen Diener des Hauses Baratowski, das Leben gekostet. Er hatte sich freiwillig zu dem gefährlichen Dienste erboten, und es glückte ihm auch wirklich, sich mit dem Grafen in Verbindung zu setzen; dieser war benachrichtigt, der Fluchtplan verabredet, aber bei den Vorbereitungen dazu wurde Pawlick entdeckt und, als er in der ersten Bestürzung die Flucht nahm, von den Festungswachen niedergeschossen. Die Folge dieser Entdeckung war eine nur noch strengere Bewachung des Gefangenen und die schärfste Beobachtung seiner Angehörigen; sie konnten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_817.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)