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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


und Rakowicz bilden ja dort nach wie vor das Hauptinteresse. Wilicza freilich steht außer Frage, seit Herr Nordeck es so energisch regiert, aber in Rakowicz residirt die Fürstin Baratowska, und ich bleibe dabei, diese Frau ist eine Gefahr für die ganze Provinz; es wird nicht Ruhe, so lange sie auf unserem Boden lebt. Gott weiß, wen sie jetzt wieder zur Befreiung ihres Bruders angestiftet hat! Ein Tollkopf ohne Gleichen ist es gewesen, der sein Leben für nichts achtete. Die zur Deportation verurtheilten Gefangenen werden auf’s Schärfste bewacht. Trotzdem hat der oder haben die Helfershelfer sich mit dem Grafen in Verbindung gesetzt und ihm die sämmtlichen Mittel zur Flucht in die Hände gespielt. Sie sind bis in das Innere der Festung, bis an die Mauer des Gefängnisses selbst vorgedrungen; man hat sichere Spuren gefunden, daß der Flüchtling dort erwartet wurde, und dann haben sie ihn mitten durch die Posten und Wachen hindurch, mitten durch all’ die Wälle und Ringmauern entführt, wie – das ist noch heute ein Räthsel. Das halbe Wächterpersonal muß bestochen gewesen sein; die ganze Festung ist in Aufruhr über die unglaubliche Tollkühnheit des Unternehmens. Seit zwei Tagen wird die ganze Umgegend durchstreift, aber noch hat man nicht die geringste Spur entdeckt.“

Fabian hatte anfangs nur mit lebhafter Theilnahme zugehört, als aber wiederholt von der Kühnheit des Unternehmens die Rede war, begann er unruhig zu werden. Eine unbestimmte Ahnung tauchte in ihm auf; er wollte eine hastige Frage thun, begegnete aber noch zu rechter Zeit den warnenden Augen seines Schwiegervaters. Es stand ein entschiedenes Verbot in dem Blicke. Der Professor schwieg, aber er erschrak bis in das innerste Herz hinein.

Gretchen hatte die stumme Verständigung zwischen den Beiden nicht bemerkt und folgte unbefangen der Erzählung Hubert’s, der jetzt fortfuhr:

„Weit können die Flüchtlinge nicht gelangt sein, denn die Flucht wurde entdeckt, fast unmittelbar nachdem der Graf fort war. Die Grenze hat er noch nicht passirt – das steht fest, aber eben so unzweifelhaft ist es, daß er versuchen wird, deutsches Gebiet zu erreichen weil hier die Gefahr minder groß ist. Wahrscheinlich wendet er sich zuerst nach Rakowicz. Wilicza ist ja jetzt, Gott sei Dank, solchen verrätherischen Umtrieben verschlossen, obgleich Herr Nordeck im Augenblick nicht dort ist.“

„Nein,“ sagte der Administrator mit großer Bestimmtheit, „er ist in Altenhof.“

„Ich weiß es; er theilte es dem Herrn Präsidenten selbst mit, als er sich von ihm verabschiedete. Diese Abwesenheit erspart ihm viel – es würde doch sehr peinlich für ihn sein, seinen Oheim ergriffen und ausgeliefert zu sehen, wie es ohne Zweifel geschieht.“

„Wie, Sie werden ihn ausliefern?“ rief Gretchen heftig.

Hubert sah sie erstaunt an. „Natürlich! Er ist ja ein Verbrecher, ein Hochverräther. Die befreundete Regierung wird darauf bestehen.“

Die junge Frau sah erst ihren Gatten und dann den Vater an; sie begriff es nicht, daß keiner von Beiden in ihre Entrüstung einstimmte, aber der Administrator sah gleichgültig vor sich hin, und Fabian sprach keine Silbe. Doch das tapfere Gretchen ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie erging sich in einer nicht besonders schmeichelhaften Beurtheilung der „befreundeten Regierung“ und auch die eigene mußte sich einige sehr anzügliche Bemerkungen gefallen lassen. Hubert hörte ganz entsetzt zu. Er dankte zum ersten Male Gott, daß er die junge Dame nicht zur Regierungsräthin gemacht hatte; sie zeigte ihm soeben, daß sie ganz und gar nicht zur Frau eines loyalen Beamten paßte; sie trug auch so eine hochverrätherische Ader in sich.

„Ich an Ihrer Stelle hätte den Auftrag abgelehnt,“ schloß sie endlich. „So kurz vor Ihrem Scheiden konnten Sie das ja. Ich würde meine Amtsthätigkeit nicht damit schließen, einen armen, halb todt gehetzten Gefangenen seinen Peinigern wieder in die Hände zu liefern.“

„Ich bin Regierungsrath,“ versetzte Hubert, den Titel feierlichst betonend, „und kenne meine Pflicht. Mein Staat befiehlt – ich gehorche. – Aber ich sehe, daß mein Wagen glücklich die bedenkliche Stelle passirt hat. Leben Sie wohl, meine Herrschaften! Mich ruft die Pflicht.“ Er grüßte und entfernte sich.

„Hast Du es gehört, Emil?“ fragte die junge Frau, als sie wieder im Wagen saßen. „Er ist Regierungsrath geworden, acht Tage vor seiner Entlassung, damit er in der neuen Stellung nicht etwa noch eine neue Albernheit begeht. Nun, mit dem bloßen Titel kann er ja doch in Zukunft keinen Schaden mehr anrichten.“

Sie verbreitete sich noch ausführlich darüber und über die Neuigkeit von der Flucht des Grafen Morynski, erhielt aber nur kurze und zerstreute Antworten. Vater und Gatte waren seit jener Begegnung auffallend einsilbig geworden, und es war ein Glück, daß man bereits das Gebiet von Wilicza erreicht hatte, denn die Unterhaltung wollte nicht wieder in Gang kommen.

Die Frau Professorin fand im Laufe des Tages noch manche Gelegenheit, sich zu wundern und auch zu ärgern. Vor allen Dingen begriff sie ihren Vater nicht. Er freute sich doch zweifellos über die Ankunft seiner Kinder; er hatte sie beim Willkommen mit solcher Herzlichkeit in die Arme geschlossen, und doch schien es ihr, als sei ihm diese Ankunft, die sie ihm gestern erst durch ein Telegramm angezeigt hatten, nicht ganz recht, als hätte er gewünscht, sie aufgeschoben zu sehen. Er behauptete, mit Geschäften überhäuft zu sein, und hatte in der That fortwährend zu thun. Gleich nach der Ankunft nahm er seinen Schwiegersohn mit sich in sein Zimmer und blieb fast eine Stunde dort mit ihm allein.

Gretchen’s Indignation wuchs, als sie weder zu dieser geheimen Conferenz zugezogen wurde, noch von ihrem Manne etwas darüber erfahren konnte. Sie fing an, sich auf’s Beobachten zu legen, und da fiel ihr denn allerdings Manches auf. Einzelne Wahrnehmungen, die sie schon während der Fahrt gemacht, tauchten wieder auf; sie combinirte äußerst geschickt und kam endlich zu einem Resultate, das für sie ganz unzweifelhaft war.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Führer in das Gebiet der Kunst.


Seitdem die Eisenbahnen den Massen ermöglichen, was sonst nur einzelnen Glücklichen vergönnt war, die zahlreichen Kunststätten Europas zu besuchen und dort Aug’ und Herz zu erfreuen, seitdem Weltausstellungen selbst solche erleichterte Touren in ferne Länder unnöthig gemacht haben, indem sie die Kunstschätze der verschiedenen Länder an einzelnen Punkten zur Schau stellen, seitdem der verbesserte Holzschnitt und die dadurch entstandenen illustrirten Zeitungen und Bilderwerke eine instructive Vorstellung der Kunst selbst bis in die Hütte tragen und die Photographie, der Menge den theuren Kupferstich ersetzend, auch demjenigen, der jene Reisemittel nicht benutzen kann, die Möglichkeit giebt, sich an den Meisterwerken der Kunst aller Länder am häuslichen Herde zu erfreuen, seitdem hat sich auch der Sinn für Kunst, die Freude am Kunstwerk in immer weiteren Wellen verbreitet. Eben dadurch ist aber auch in uns Allen das Bedürfniß entstanden und gewachsen, an der Hand eines bewährten Führers in die Kunst eingeführt zu werden, auch wenn wir nicht durch streng künstlerische oder kunstwissenschaftliche Vorbildung für ein richtiges Verständniß der Kunstwerke vorbereitet sind. Unter den Männern, welche, zu dieser schönen Mission berufen, sie in ebenso umfassender als gediegener Weise erfüllt haben und erfüllen, ist in erster Linie Wilhelm von Lübke zu nennen.

Ein Kind der rothen Erde, welche schon so manchen bedeutenden Mann hervorgebracht hat, ist Lübke am 17. Januar 1826 zu Dortmund geboren. Als der Sohn des Lehrers und Organisten der dortigen katholischen Gemeinde fühlte er sich zunächst zur Musik hingezogen und erwarb sich in ihrer Ausübung bald eine solche Fertigkeit, daß er schon in seinem zwölften Jahre in der Kirche die Orgel spielte. Zugleich erhielt er am Gymnasium

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_836.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)