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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Behauptung entschuldigt, wenn einmal Diebe bei ihr einbrächen, hätte der Geldschrank nur zur Folge, daß die Herren etwas mehr Arbeit haben würden; wenn ihr treuer Friedrich und ihr Hund nicht Acht gäben, könne ein Schrank auch nichts helfen. Friedrich war ihr Factotum und die einzige männliche Person im Hause.

In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai war die Wittwe Friedow etwa gegen zwölf Uhr plötzlich erwacht. In ihrem Schlafzimmer war es hell, und vor ihrem Bette stand ein schmächtiger kleiner Mann, der in der linken Hand eine Laterne, in der rechten ein Beil trug und der zum Tode erschrockenen Frau mit verstellter Stimme zurief, wenn sie auch nur einen einzigen Laut von sich gebe, werde er ihr sofort die Hirnschale einschlagen. Frau Friedow war so außer sich vor Entsetzen, daß es ihr unmöglich war, auch nur ein Wort hervorzustoßen, und so ließ sie denn in den nächsten Secunden ihre Augen mit Todesangst im Zimmer umherwandern. Sie sah, daß der vor ihr stehende Mensch eine schwarze Hose und eine blaue Blouse trug, daß er eine Maske vor dem Gesichte hatte und daß zwei Männer, deren Gestalt und Kleidung die Ueberfallene nicht genau unterscheiden konnte, im Hintergrunde des Zimmers damit beschäftigt waren, ihre Commode aufzubrechen. In der hintersten Schieblade derselben stand, bedeckt von Strümpfen, Garn und Leinen, ein rundes blechernes Kästchen, das ihre Papiere enthielt. Als sie wieder soweit zu sich gekommen war, um den Entschluß fassen zu können, zu schreien, ertönte draußen das merkwürdig heiser klingende Gebell des Hundes. Jetzt aber hatten schon die beiden Diebe das Blechkistchen gefunden, sprangen mit demselben zum Fenster, dessen einer Flügel offen stand, hinaus und kletterten eine an das Fenster gelehnte Leiter im Nu hinunter, während der maskirte Mann ruhig vor ihrem Bette stehen blieb. Sie stieß dann den lauten Ruf: „Zu Hülfe! zu Hülfe!“ aus; der Mann vor ihrem Bette brummte etwas wie: „Jetzt kannst Du schreien!“ wandte sich um und folgte den Anderen.

Darauf kam Friedrich herbei, der durch Geräusch aufgeweckt worden war, stürzte zur Leiter und fand unten nichts mehr vor, als den offenbar mit einer Schlinge eingefangenen und an seine Hütte gefesselten, halb erdrosselten Hund. Die Verfolgung der Diebe durch Friedrich und die Nachbarn blieb völlig resultatlos. Auch die späteren Tage, in denen die eifrigsten Nachforschungen gehalten wurden, ergaben nicht das Mindeste über Herkunft und Person der Einbrecher. Die ganze Polizei von T., ja sogar die Pfahlbürger und die Straßenjugend hatte sich die verzweifeltste Mühe gegeben, irgend eine Spur zu finden, aber umsonst.

So standen die Sachen, als ich in T. ankam. Mein zweiter Besuch galt selbstverständlich der Frau Friedow. Ich suchte am Orte der That nach Indicien, aber was ich fand, war verzweifelt wenig. Zunächst constatirte ich, was übrigens auch schon Andere gethan hatten, daß der Diebstahl von Leuten ausgeführt sein mußte, welche mit der Localität vertraut waren, denn die Diebe waren durch ein kleines Hofthor eingedrungen, dessen Existenz nicht einmal alle Nachbarn kannten; die Leiter, die man an das Fenster gelehnt hatte, war ferner von einem Orte entnommen, der ziemlich versteckt lag. In das Schlafzimmer war man gekommen, indem eine Scheibe eingedrückt und dann der Fensterriegel zurückgeschoben worden war. Fußspuren hatte man nur einzelne gefunden, und diese hatten ein besonderes Kennzeichen nicht gehabt; sie verliefen auf dem Wege, den man gewöhnlich einzuschlagen pflegte, wenn man vom Hof auf die Landstraße kommen wollte. Die Einbrecher waren also unter den vier bekannten Kategorien: Nachbarn, Dienstleuten, Freunden oder Verwandten zu suchen. Auf Dienstleute konnte kein Verdacht fallen – das lehrte der erste Anblick des alten Friedrich, ebensowenig auf die Nachbarn. Es blieben also die Freunde oder Verwandten, die das Haus öfter betreten hatten, übrig. Ich ließ mir von der untröstlichen Bestohlenen, die auf das Bestimmteste versicherte, daß sie auch nicht den leisesten Verdacht gegen irgend eine ihr bekannte Person hegen könne, ein Verzeichniß aller Freunde und Verwandten geben und fing nun meinen Dienst an. Aber alle Mühe schien umsonst. Ich arbeitete im Schweiße meines Angesichts; ich lief umher wie ein hungriger Hund; ich telegraphirte ganze Bogen in die Welt hinaus, aber – nichts, nichts, nichts! Ich hatte bisher noch in keiner Sache solch ein elendes Resultat erzielt.

Am vierten Tage nach meiner Ankunft begab ich mich abermals zu der Bestohlenen, die mich erwartungsvoll empfing. „Frau Friedow,“ sagte ich, „es ist gar nicht möglich, daß Sie keinen bestimmten Verdacht gegen Jemand haben; es muß Ihnen der Verdacht auf irgend eine Person durch den Kopf gegangen sein.“

„Ich versichere Ihnen,“ erwiderte sie, „daß ich auch nicht den Schatten einer Ahnung von der Person des Thäters habe.“

„Ist Ihnen denn gar nichts bei den Einbrechern aufgefallen, außer dem, was Sie mir bereits erzählten, nichts an der Stimme derselben, an der Art zu stehen, an den Händen? Haben Sie nicht etwa einen Ring gesehen? Wie war die Haut der Hand des Mannes, der das Beil hielt?“

„Ach ja,“ entgegnete sie, „ich habe Etwas wahrgenommen, was ich Ihnen schon längst erzählt haben würde, wenn ich es nicht für zu geringfügig gehalten hätte.“

„Und das war?“

„Als die beiden Diebe, die das Kästchen aus der Commode genommen hatten, durch das Fenster kletterten und die Leiter hinunter rutschten, schlug der Flügel zu, in welchem sich die Glasscheibe befunden hatte, die zum Oeffnen des Fensters von außen her zerbrochen worden war. Der schmächtige Mann, der bis zuletzt vor meinem Bett stehen blieb und dann den beiden Andern nacheilte, ergriff den Rahmen des Flügels, um den letzteren aufzuklappen, dabei muß er aber wohl gerade in die zersplitterte Fensterscheibe gegriffen haben – bei seiner Eile fortzukommen, wäre das erklärlich – denn sowie er an den Rahmen gefaßt hatte, stieß er ein halblautes ‚Au, verdammt!‘ im Tone großen Schmerzes aus.“

„Haben Sie kurz nachher Blutspuren gesehen?“

„Nein.“

Nachdem die Thatsache der verwundeten Hand hinzugekommen, begann ich meine Thätigkeit von Neuem. Nun tauchte nach langem vergeblichem Bemühen ein Schimmer zur Lichtung des Dunkels auf. Der alte Sanitätsrath Meiling, mit dem ich mich gelegentlich in ein medicinisches Gespräch über Handwunden und namentlich solche, die durch Glassplitter verursacht seien, eingelassen hatte, erzählte, er sei vor etwa drei Wochen auf seinem frommen Klepper über Land geritten. Da sei ein fremder Mensch plötzlich auf den Weg gesprungen und auf ihn zugegangen. Der Fremde habe ihn auf das Dringendste gebeten, ihm doch einige Glassplitter aus der rechten Hand zu ziehen, da er es vor Schmerzen gar nicht mehr aushalten könne. Er, der Sanitätsrath, habe auf das dringende Bitten des Menschen die Verbandtasche herausgezogen und ihm vielleicht fünf Glassplitter aus der Hand genommen, die sehr tief in derselben gesessen hätten. Der Fremde habe dabei wie ein altes Weib gewimmert und angegeben, er sei unterwegs in Glasscherben gefallen.

„Welche Kleidung trug der Mensch?“ frug ich mit athemloser Spannung.

„Eine blaue Blouse und eine schwarze Hose.“

„Und Sie erinnern sich dessen genau?“

„Allerdings; denn der Mensch fiel mir wegen seines Gesichtes auf, das zu der Blouse gar nicht paßte.“

„Und wie war denn sein Gesicht?“

„Nun, so wie Sie es in jedem Steckbriefe beschrieben finden: Stirn gewöhnlich, Nase gewöhnlich und Mund gewöhnlich. Der Gesammteindruck war aber der eines ziemlich feinen Kopfes, wie ihn Tagelöhner oder sonst Leute, die in einer Blouse gehen, nicht auf den Schultern zu tragen pflegen. Aber warum erkundigen Sie sich so angelegentlich danach?“

„Haben Sie die Erscheinung dieses Menschen denn nicht mit einer Thatsache in Verbindung gebracht, die hier allgemeines Interesse erregte?“

„Nein, wie sollte ich dazu kommen?“

„Können Sie mir nicht sagen, wo der Fremde geblieben ist, nachdem Sie ihm die Splitter aus der Hand gezogen hatten?“

„Ich glaube, er ging in der Richtung auf die Emsfähre weiter.“

Der nächste Morgen fand mich an der Ems. Ein alter Stamm, der sich oben gabelte und in der Gabel eine Glocke trug, stand auf einer Höhe am Ufer und bezeichnete so die Stelle, auf welcher man läuten mußte, um den Fährmann herbeizurufen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_843.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)