Seite:Die Gartenlaube (1876) 865.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 52.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Candidat Grüneisen.
Eine Skizze nach dem Leben.
Von Ernst Ziel.

Auf der Schwelle wuchs das Moos. Es war ein altes, verfallenes Haus mit kleinen Fenstern und enger Thür, an der Sohle pechschwarz, weiter hinauf aber bis unter’s Dach grün, ganz grün angestrichen. Die Leute, wenn sie vorübergingen, blickten wohl hinauf zu den beiden Fenstern des alterthümlichen Giebels, und dann lächelten sie oder schüttelten nachdenklich das Haupt. Abenteuerliche Decoration, welche hinter den Scheiben auf die Straße herabschauete! Sterne und Blumen von buntem Papier, mit Perlen und Flittern reich besetzt, umkränzten ein weiß beklebtes Schild, welches in schwarzen und grünen Buchstaben die räthselhafte Inschrift trug:

     Der Frühverlor’nen,
Mir endlich Wiedergebor’nen.

Und über diesem närrischen Fensterschmucke schwebte, wie die Sonne des Orients über einem bunten Götzentempel, ein wunderliches Symbol – aus schreiend rothem Papier zierlich ausgeschnitten, leuchtete ein riesiges E durch die fallenden Flocken des Winters und den wirbelnden Staub des Sommers zu uns herüber.

Zu uns herüber – denn mein Vaterhaus lag dem schwarz-grünen Hause schräge gegenüber. Wie oft als munterer Knabe saß ich in der Fensternische auf dem hochlehnigen Großvaterstuhl und lugte, Zinnsoldaten und Märchenbuch vergessend, mit jenem gespannten Interesse, das die Jugend so gern dem Sonderbaren und Eigengearteten entgegenträgt, stundenlang zu den beiden Fenstern dort oben in des Nachbars Giebel hinüber! Stundenlang – aber „Da ist es; da ist es!“ rief ich endlich, und in demselben Augenblicke waren Geschwister und Gespielen blitzschnell um mich versammelt. Ja, da war es wirklich wieder, das schon so oft von uns Wahrgenommene. Hinter den Sternen und Blumen da drüben schien es auf- und abzurollen wie eine weiße Kugel, minutenlang in immer gleichem Tempo – und doch wiederum nicht wie eine weiße Kugel, denn um die stetig auf- und niedergehende Scheibe schien es zu flattern, silbern und lang, fast wie das Haar eines Greises. Und richtig – da ist es ja auch, das freundliche hagere Gesicht unseres alten Nachbars. Der schnurrige Kauz, der da mit seiner weißschimmernden, kreisrunden Glatze vom Mansardenfenster herab dienert und dienert, er ist es selbst, der Besitzer des schwarz-grünen Hauses, Herr Candidat Christian Leberecht Grüneisen, der barockeste unter allen alten Junggesellen und Ex-Dorfschulmeistern, der Sonderling der Stadt, der Narr unserer Straße.

Und warum dienert er – nicht etwa erst seit heute, nein, schon seit Jahr und Tag – täglich so freundlich zu uns herüber? O, es ist eine tragische Geschichte, so komisch sie erscheint, und man darf sie nicht laut erzählen, damit die Leute nicht lachen. Wer hat es je ergründet, wer hat es je ausgedeutet in seinen Räthseln und Schrullen, das sonderbare Ding: Menschenherz?!

Ich sehe ihn noch vor mir, den emeritirten Herrn Dorfpräceptor. Er ist eben unter einem tiefen Bückling – wie flogen ihm dabei die langen, weißen Haare über die gewaltige Glatze! - in unsere Familienstube eingetreten, eine große grün und schwarz beklebte Schachtel unter dem Arme.

„Ihr Diener, Herr Senator, Ihr Diener, Frau Senatorin, Ihr Diener, Demoiselle Seniorin!“ – denn mit diesem Namen nannte er unser ältestes Schwesterlein, Elise, die heute, an einem hellen Herbstsonntage, gerade ihren neunzehnten Geburtstag feierte – „Ihr Diener“ – und so dienerte er mit einer höchst vertrackten Seitenbewegung seines lang aufgeschossenen spindeldürren Leibes fort, bis kein Kind und kein Kegel mehr im Zimmer war, dem er nicht seine unterthänigste Reverenz gemacht hätte. Dabei blinzelten seine kleinen schwarzen Augen unter den langen buschigen Brauen so freundlich lebhaft hervor, dabei verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem so komisch süßlichen Lächeln, daß es des verschossenen alten Rockes mit dem mächtigen, hoch in den Nacken ragenden Kragen und den beinahe bis auf die Hacken hinabreichenden Schößen gar nicht bedurft hätte, um seiner eckigen Urvätergestalt den Stempel einer zwerchfellerschütternden Lächerlichkeit aufzuprägen.

Ut desint vires,“ begann er nun seinen salbungsreichen Sermon, indem er meinem Vater die schwarz-grüne Schachtel überreichte, „tamen est laudandum voluntas, heißt zu deutsch: Sie müssen schon vorlieb nehmen, sehr zu verehrender Herr Senator. Geruhen dieselben daher zu gestatten, daß Christian Leberecht Grüneisen, so man titulirt in der Stadt den Eremiten unter den Dachziegeln, heute die wenigen ganz unscheinbaren Früchte seines Gartens, Kinder der Mutter Erde und der licht- und wärmespendenden Wolkenwandlerin am Firmamente, in Dero Hände dürfe bescheidentlich niederlegen, nicht etwa blos, um den hochwerthen Gaumen des Herrn Senators und der Frau Senatorin zu laben, als vielmehr jetzo, an dem Geburtstage von Dero liebreizgekrönter Demoiselle Tochter Seniorin, ein Zeichen zu sein der Bewunderung Ihres Nachbars. Wie soll ich sie nennen – – ?“

So weit etwa ergoß sich die Rede des zungenfertigen Alten,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 865. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_865.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)